Einen Beitrag über die Einführung des Spitzenkandidat*innen-Prinzips sowie zu Probleme und Chancen des Mechanismus findet ihr hier.
Liebe Europäer*innen,
die Idee, dass die Kommissionspräsidentschaft an eine*n vorher ernannte*n Spitzenkandidaten*in der stärksten Partei im Europäischen Parlament geht, steht so nah am Abgrund, dass einige bereits von ihrem Sturz berichten. Seitdem Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, verkündete, dass es keine Mehrheit für eine*n der Spitzenkandidat*innen gäbe, wird nach neuen Namen gesucht. Letztere Suche geschieht dort, wo die EU 2019 nicht länger entscheiden sollte: hinter verschlossenen Türen.
Als stärkste Kraft ging die Europäische Volkspartei (EVP) aus den Europawahlen im Mai hervor; sie hatte zuvor CSU-Politiker Manfred Weber als Spitzenkandidat aufgestellt. Dass zahlreiche Medien das Spitzenkandidat*innen-Prinzip in dem Moment für tot erklärten, in dem ausgerechnet Angela Merkel keine Unterstützung für den Kandidaten ihrer Partei mehr äußerte, zeigt, dass das Spitzenkandidat*innen-Prinzip nicht erreicht hat, was es erreichen wollte: Es sind wieder einmal keinesfalls die Abgeordneten im Europäischen Parlament, die als Vertreter*innen der europäischen Bevölkerung über die Kandidat*innen für die Kommissionspräsidentschaft entscheiden, sondern die Staats- und Regierungschef*innen, ohne deren Zustimmung das System sich nicht aufrecht erhalten kann.
Rechtlich abgesichert war der Mechanismus dabei nie: Zwar müssen mindestens 21 der 28 Staats- und Regierungschef*innen sowie eine Mehrheit im Europäischen Parlament für den*die Kandidaten*in stimmen, der*die die Kommissionspräsidentschaft übernimmt. Dass es sich dabei um eine*n der Spitzenkandidat*innen handeln muss, war jedoch keine vertraglich festgehaltene Regel, sondern ein vom Europäischen Parlament beinahe kämpferisch hochgezogenes Prinzip, das mehr Demokratie versprach.
Wer das Spitzenkandidat*innen-Prinzip für gegeben ansieht, hat nicht zugehört
Die Diskussion um die Nachfolge Jean-Claude Junckers wirft damit alle von uns aus ihrer Filterblase, die längst vergessen haben, dass es auch zwischen 2014 und 2019 Stimmen gab, die das Spitzenkandidat*innen-Prinzip anzweifelten. Unter dem Hashtag #respectmyvote formieren sich jetzt auf Twitter Einzelne, die daran erinnern, welchen Rückschritt es für die Demokratie in Europa bedeuten würde, einen Mechanismus zu übergehen, bei dem man der europäischen Bevölkerung zuvor versprochen hatte, er würde mehr Mitbestimmungsrechte bringen. Ihr Protest ist jedoch zaghaft.
Möglicherweise hat das Europäische Parlament schlichtweg zu hoch gepokert, als es versuchte, ein Prinzip durchzubringen, das vertraglich nicht abgesichert ist, aber zugleich den Staats- und Regierungschef*innen Macht nimmt und diee an das Parlament weitergibt. Möglicherweise fehlte der Institution auch das diplomatische Fingerspitzengefühl, das in demokratisch legitimierten Parlamenten kontroverser Entscheidungsfindung weichen sollte, im Parlament der Europäischen Union aber anscheinend weiterhin gefragt ist.
Für pro-europäische oder gar föderalistisch orientierte Kräfte in Europa ist das, was gerade passiert, jedoch ein Weckruf: Ausgerechnet nach den Europawahlen, bei denen die Wahlbeteiligung nach jahrzehntelangem Sinken wieder anstieg, lässt sich ein Prinzip nicht durchbringen, das im pro-europäischen Aktivismus und in der politischen Bildung längst fest verankert ist. Mit einem symbolischen Schlag ins Gesicht machen uns die Staats- und Regierungschef*innen damit klar, dass die EU noch immer ein Verbund von Nationalstaaten ist, nicht aber ein Verbund von Bürger*innen, die gleiche Rechte teilen.
Für Personaldiskussionen in Brüssel bleibt die Politik nicht stehen
Inmitten dieses Tumults gerät beinahe in Vergessenheit, dass sich die Welt außerhalb von Brüssel weiterdreht, auch wenn die EU Personalfragen klären muss. Die Wahl, die sie gerade erlebt hat, hat in vielen Ländern einen Unterschied in der öffentlichen Wahrnehmung der Union gemacht: Das spiegelte sich gerade in der Wahlbeteiligung wieder, die ebenso erfrischend wie zum Teil auch überraschend hoch war. Medien, Bürger*innen und Politiker*innen schienen erstmals die EU als weitere Ebene eines Mehrebenensystems anzuerkennen, in dem Kompetenzen nach dem Subsidiaritätsprinzip verteilt werden.
Zugleich erleben wir eine Politisierung der Jugend, wie wir sie uns lange gewünscht haben: Junge Menschen gehen auf die Straßen; Schüler*innen, Azubis*nen und Student*innen sind in Talkshows vertreten. Dieses Momentum könnte es der EU ermöglichen, das Bild des uralten, mit Kohle und Stahl begonnenen Friedensprojekts durch ein modernes, auf Fragen von Ökologie und Solidarität ausgerichtetes Image zu ergänzen. Der jungen Bewegung bietet die EU genau die Chance auf Vernetzung, die die Bewegung braucht, um ihre Themen durchzusetzen: Nie war das Potenzial für das Gewinnen der Jugend größer. Was um die vergangene Europawahl entstanden ist, droht jedoch zu zerbrechen, wenn die Politik der EU auf Personaldebatten beschränkt wird, statt Inhalte zu liefern.
Weil sich Europa diese Chance, sowohl die junge, sich gerade politisierende Bewegung abzuholen und zugleich einen Schritt in Richtung einer besseren Demokratie zu gehen, nicht verpassen darf, müssen wir laut werden. Es ist ein wichtiger Schritt, bei der Europawahl die eigene Stimme abzugeben. In einer Demokratie sollte es nicht nötig sein, anschließend dafür zu kämpfen, dass diese Stimme bei so simplen Fragen wie der nach dem Brüsseler Personal auch respektiert wird. Weil es das aber anscheinend doch ist, ist es Zeit, das Momentum, das sich um die Europawahlen herum aufgebaut hat, genau jetzt zu nutzen, um klarzustellen, dass wir Diskussionen hinter verschlossenen Türen nicht länger respektieren werden.
Lasst uns kämpfen für das Europa, das wir sehen möchten.
Hoffnungsvoll,
Eure Marie
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