Unter anderem die EU-Kommissare Valdis Dombrovskis, Paolo Gentiloni und Thierry Breton arbeiteten an verschiedenen Initiativen zur Stimulation der europäischen Wirtschaft und des Binnenmarktes, wie der Einführung des Wiederaufbaufonds “NextGenerationEU”. Der Geschäftsbereich der Digitalpolitik liegt seit 2019 bei der dänischen Vizepräsidentin Margrethe Vestager, die sich den Ruf angeeignet hat, die Konfrontation mit großen, vor allem US-amerikanischen, Tech-Plattformen nicht zu scheuen. Im folgenden gehen wir auf neun politische Projekte in der Wirtschafts- und Digitalpolitik ein, die sich die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen vorgenommen hatte:
Antworten auf die Corona-Pandemie & NextGenerationEU
Die Reaktionen auf die COVID-19-Pandemie in den EU-Mitgliedstaaten zeigten deutliche Unterschiede, was verfügbare finanzielle Spielräume betraf: Während einige Länder wie Deutschland einen starken Rettungsschirm implementierten, verfügten andere, darunter Italien und Spanien, über weniger starke Unterstützungsmaßnahmen. Diese Diskrepanz führte zu intensiven Diskussionen auf EU-Ebene, insbesondere hinsichtlich der Einführung von Corona-Bonds – der Aufnahme gemeinsamer Schulden der EU-Mitgliedstaaten, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzumildern.
AUSKLAPPEN
Die Europäische Kommission reagierte schnell auf die wirtschaftlichen Herausforderungen, indem sie die Maastrichter Schuldenregeln vorübergehend außer Kraft setzte, um den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität in ihren Haushaltsplänen zu ermöglichen. Am 9. April 2020 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU ein umfassendes Maßnahmenpaket, um den wirtschaftlichen Schock der Pandemie abzufedern. Dieses Paket umfasste Kredite für gesundheitspolitische Maßnahmen über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), einen Garantiefonds der Europäischen Investitionsbank (EIB) zur Unterstützung von Krediten an kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) und das SURE-Programm, das auf die Sicherstellung der Weiterbeschäftigung von Arbeitnehmer*innen während der Krise abzielte.
Ein Meilenstein in der EU-Finanzpolitik wurde im Mai 2021 erreicht, als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ (NGEU) vorstellte. Dieser Fonds, mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro, setzte sich aus 500 Milliarden Euro an Zuschüssen und 250 Milliarden Euro an günstigen Krediten zusammen, um den Mitgliedstaaten bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu helfen. Von der Leyen bezeichnete die Entscheidung für diesen Hilfsfonds als "historisch schnell". Dies markierte das erste Mal, dass die EU als Gemeinschaft Schulden aufnahm – ein bedeutender Schritt zur finanziellen Solidarität und Integration innerhalb der Union.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat in ihren makroökonomischen Simulationen eine signifikante positive Auswirkung des NGEU auf die Erholung im Euroraum festgestellt. Die zusätzlichen Ausgaben aus der RRF-Finanzierung könnten das reale BIP im Euroraum um rund 0,5% im Jahr 2023 erhöhen, wobei dieser Effekt in den Folgejahren weitgehend bestehen bleibt. Insbesondere wird erwartet, dass Länder, die besonders von dem Programm profitieren, durch Spill-over-Effekte und grenzüberschreitende Investitionsprojekte wie Wasserstoff und 5G-Technologieprojekte eine positive Auswirkung auf alle Länder haben. Doch unumstritten ist diese Art der Finanzierung nicht, denn die Gelder müssen zurückgezahlt werden. Kritiker*innen beziehen sich außerdem auf die Ausgestaltung der nationalen Aufbaupläne und die darin enthaltenen konkreten Projekte. Generell kann die wirtschaftspolitische Antwort auf die Corona-Krise allerdings als Erfolg der Kommission gewertet werden.
The Recovery and Resilience Facility (RRF), the core of 🇪🇺's recovery fund, enters the implementation phase now. @onethuthree has the overview of it all until 2026. But what can we expect in the next months?
A short preview: pic.twitter.com/UWuXnQnOll
— Lucas Guttenberg (@lucasguttenberg) January 22, 2021
Digital Services Act & Digital Markets Act
Die EU hat mit der Verabschiedung des Digital Services Acts (DSA) und des Digital Markets Acts (DMA) in der vergangenen Legislaturperiode bedeutende Schritte unternommen, um den digitalen Binnenmarkt zu gestalten. Ziel dieser Gesetze ist es, eine gerechtere, sicherere und transparentere Online-Umgebung zu schaffen, die die Rechte der Verbraucher*innen schützt und einen fairen Wettbewerb fördert.
AUSKLAPPEN
Im Jahr 2020 begann die EU-Kommission mit einer öffentlichen Konsultation für die beiden Gesetzesinitiativen, die schließlich im Dezember 2020 von den zuständigen Kommissar*innen Margrethe Vestager und Thierry Breton vorgestellt wurden. Vestager ist als Europas Wettbewerbschefin bekannt, während Breton als Kommissar für den Binnenmarkt fungiert. Ziel der Verordnungen ist es, illegale Inhalte auf Internet-Plattformen zu bekämpfen und die digitale Marktmacht großer Technologieunternehmen zu regulieren. Der Europäische Rat und das EU-Parlament erreichten im April 2022 eine Einigung über die Gesetzesvorschläge.
Der Digital Services Act zielt darauf ab, die Verantwortlichkeiten von Online-Plattformen und -Vermittlern, wie Marktplätzen, sozialen Netzwerken, Content-Sharing-Plattformen, App-Stores und Online-Reise- sowie Unterkunftsplattformen, klar zu definieren. Durch den DSA sollen illegale und schädliche Online-Aktivitäten sowie die Verbreitung von Falschinformationen bekämpft werden. Nutzer*innen bekommen schützende Rechte zugesprochen und eine faire und offene Plattformumgebung soll durch stärkere staatliche Regulierung erreicht werden. Ein wichtiger Aspekt ist hier vor allem die Bekämpfung von Desinformation online. Der DSA soll außerdem Innovation, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit fördern, zum Beispiel durch bessere Zugangsmöglichkeiten für kleinere Plattformen, KMUs und Start-ups gegenüber großen Tech-Unternehmen. Im Ansatz zielt die Verordnung darauf ab, Nutzer*innen gemäß europäischen Werten in den Mittelpunkt von öffentlichen Behörden zu stellen und die Verpflichtungen von Plattformen in Bezug auf Datenschutz, Desinformation und illegalen Content neu auszurichten.
Der Digital Markets Act wurde eingeführt, um die Macht der sog. Gatekeeper zu regulieren und zielt insbesondere auf die großen Technologieunternehmen ab. Diese Gatekeeper definiert die Kommission als Unternehmen wie Alphabet, Amazon, Apple, TikTok, Meta und Microsoft. Sie sollen daran gehindert werden, ihre marktbeherrschende Stellung in verschiedenen Online-Geschäften auszunutzen. Durch ihre Vormachtstellungen in diversen Geschäftsmodellen können sie momentan eigene Dienstleistungen bevorteilen und den Wettbewerb durch gezielte Aufkäufe kleinerer Konkurrenten unterbinden. Verstöße gegen das Gesetz kann die EU-Kommission in Zukunft ahnden: Strafen von bis zu 10% des weltweiten Jahresumsatzes sind möglich, bei wiederholten Verstößen sogar bis zu 20%.
Die Rolle der EU-Kommission war entscheidend für die Entwicklung und Verabschiedung dieser Gesetze. Sie haben nicht nur die Gesetzesvorschläge formuliert, sondern die Kommission wird auch zusammen mit den nationalen Behörden für die Überwachung und Durchsetzung der Bestimmungen verantwortlich sein. Während der Trilogphase versuchten Unternehmen wie Google, Apple und Facebook mit intensiver Lobbyarbeit Vorschläge des EU-Parlaments zu Online-Werbung und in Bezug auf externe Prüfungen ihrer Plattformen zu entschärfen.
Im Endeffekt wurden zwei Gesetze beschlossen, die Pionierarbeit auf dem Gebiet der Regulation des digitalen Raums geleistet haben. Die Zeit des gesetzlosen “Wilden Westens” im Internet ist somit vorbei. Beispielsweise hat die EU-Kommission bereits auf Grundlage des DSA ein Verfahren gegen TikTok aufgrund von Jugendschutz-Bedenken eingeleitet.
Wir haben ein förmliches Verfahren gegen #TikTok eingeleitet, um einen möglichen Verstoß gegen den #DSA zu prüfen.
Insbesondere geht es um:
▪️Jugendschutz
▪️Transparenz bei Werbung
▪️Datenzugang für Forscher
▪️Risikomanagement bzgl. süchtig machendes Design & schädliche Inhalte https://t.co/PeVkX3e5T6— Europäische Kommission - Vertretung in Deutschland (@EUinDE) February 19, 2024
Wirtschaftswachstum
Das Bruttoinlandsprodukt der EU-Staaten entwickelte sich - trotz Corona-Flaute - nach oben. Auch im Jahr 2023 wuchs die Gesamtwirtschaftsleistung wieder. Trotzdem sind viele in der Wirtschaft pessimistisch: So korrigierte die OECD ihre Wachstumsprognose für den Euroraum für 2024 von 0,9 Prozent auf 0,6 Prozent nach unten. Grund dafür dürften die anhaltenden Schocks bei den Energiepreisen sein, aber auch der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften dämpft die wirtschaftlichen Aussichten.
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Entwicklung der Inflation
Nach der Corona-Pandemie stellte vor allem der Krieg Russlands gegen die Ukraine einen Wendepunkt dar - nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. So waren einige EU-Länder stark von Energieimporten aus Russland abhängig, was zu einer steigenden Inflation beitrug. Seit Oktober 2022 geht die Inflation wieder zurück.
Euro area annual #inflation at 5.5% in June 2023, down from 6.1% in May https://t.co/64UeInSVjV pic.twitter.com/dy1UQWRo7W
— EU_Eurostat (@EU_Eurostat) July 19, 2023
Freihandelsabkommen
Im Jahr 2019 fokussierte sich die EU auf mehrere Freihandelsabkommen, darunter vor allem auf das Abkommen mit der südamerikanischen Staatengemeinschaft Mercosur. Aber auch Verhandlungen mit Australien und Neuseeland sowie die Vertiefung bestehender Handelsbeziehungen mit Ländern wie Mexiko und Chile wurden geführt. Diese Abkommen sollten den Handel erleichtern, Zölle reduzieren und neue Märkte für europäische Unternehmen erschließen, um Wachstum und Beschäftigung in der EU zu fördern.
Mehrere Handelsabkommen konnten seitdem erfolgreich abgeschlossen oder zur Ratifizierung vorangebracht werden. Dazu gehören das umfassende Handelsabkommen mit Neuseeland, das im Juni 2022 abgeschlossen und im Juli 2023 unterzeichnet wurde, sowie das Modernisierungsabkommen mit Chile, dessen Verhandlungen 2023 abgeschlossen wurden. Doch der Abschluss des Mercosur-Abkommens steht aus.
AUSKLAPPEN
Die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Bolivien sind aufgrund von Umwelt- und Nachhaltigkeitsbedenken, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Amazonas-Regenwald, sowie Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen auf lokale Landwirt*innen und Industrien in den EU-Mitgliedstaaten festgefahren. Außerdem gibt es politische und wirtschaftliche Differenzen zwischen den Mitgliedern des Mercosur, die eine Einigung erschweren: Eigentlich sollte am 7. Dezember 2023 nach fast einem Vierteljahrhundert der Verhandlungen das Freihandelsabkommen in Rio de Janeiro unterzeichnet werden. Doch kurz vor dem Gipfel erklärte der französische Präsident Macron, dass das Abkommen nicht genügend Umweltgarantien biete und eine Unterzeichnung kam nicht zustande.
Im Bereich der Freihandelsabkommen konnte die EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen keine großen Würfe präsentieren. Das ist vor allem aufgrund der steigenden globalen Wettbewerbsfähigkeit Chinas und anderer Länder aus europäischer Sicht mit Sorge zu betrachten. Andererseits bedeutet ein Verhandlungsergebnis nicht automatisch eine Verbesserung: Freihandelsverträge müssen auch die sozialen und ökologischen Konsequenzen mitdenken - und zwar für die Menschen auf beiden Seiten, etwa Bäuer*innen in Frankreich und Brasilien. Kein Deal ist da möglicherweise sogar besser als ein schlechter Deal.
🇪🇺✨ New year, new me. And a new and updated EU trade map. ✨🇪🇺
The EU has one of the broadest networks of trade agreements in the world, with 74 FTA partners.
The EU traded over 2 trillion euro with our FTA partners, thanks to increased implementation and market access work. pic.twitter.com/zWukUJ1IXT
— EU Trade 🇪🇺 (@Trade_EU) January 10, 2024
Fiskalregeln
Über eine Reform der Haushalts- und Fiskalregeln für die Mitgliedstaaten wird seit langem gestritten, weil die aktuell geltenden Regeln hochkomplex sind und weil sie, laut Jacques Delors Centre, “nach wie vor nicht anwendbar” sind. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) wurde 1997 eingeführt und sollte die Ausgabenpolitik der EU-Mitgliedstaaten regulieren und die Stabilität des Euro sichern. Er beinhaltet Vorschriften zur Begrenzung der nationalen Haushaltsdefizite, der Staatsschulden sowie Regelungen zur Konjunkturpolitik. Im Laufe der Jahre gab es jedoch Kritik am Pakt, da er als zu starr und wenig flexibel wahrgenommen wurde. Regelmäßig verstießen EU-Staaten gegen die Regelungen. Insbesondere nach der Finanzkrise 2008 und der darauf folgenden Eurokrise war deutlich geworden, dass eine flexiblere Herangehensweise an die Fiskalpolitik notwendig ist.
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Am 26. April 2023 veröffentlichte die EU-Kommission deshalb ein Paket mit drei Vorschlägen zur Überarbeitung des EU-Rahmens im Bereich der Fiskalpolitik: eine Verordnung zur Ersetzung des derzeitigen präventiven Arms des SWP, eine Änderungsverordnung des Rates zum korrektiven Arm des SWP und eine Änderungsrichtlinie des Rates zur Stärkung der Rolle unabhängiger Finanzinstitutionen. Daraufhin folgten heftige Debatten unter den Finanzminister*innen der EU-Mitgliedstaaten, vor allem zwischen dem deutschen Finanzminister Christian Lindner und Vertreter*innen der sog. „Frugal Four“, die auf eine stärkere Sparpolitik drängen und denen, die mehr Freiraum für die Aufnahme von Schulden fordern, beispielsweise zur Finanzierung des Green Deals. Kurz vor Weihnachten letztes Jahr konnte allerdings eine Einigung erzielt werden und die EU-Finanzminister*innen einigten sich auf neue Regeln für den Abbau der Haushaltsdefizite und der Staatsverschuldung. Nach einem fast vierjährigen Prozess müssen die Verhandlungen nun mit dem EU-Parlament finalisiert werden. Dafür bleibt bis zu den Wahlen nicht mehr viel Zeit.
Die Reform trifft allerdings auch auf Kritik. Laut Rasmus Andresen, Abgeordneter der Grünen im EU-Parlament, erlaubten “die neuen Regeln [...] es der EU einfach nicht, die Ziele einer grünen und gerechten Transformation zu erreichen”. Die neuen Regeln führten zu einer Reduzierung der öffentlichen Verschuldung und würden Regierungen dazu zwingen, öffentliche Ausgaben zu kürzen, anstatt dringend nötige Investitionen zu ermöglichen. Auch die EU-Kommission betont, dass der Green Deal alleine zusätzliche jährliche Investitionen von über 700 Mrd. Euro erfordern würde. Es bleibt unklar, woher die Regierungen dieses Geld nehmen sollen, wenn sie sich gleichzeitig dazu verpflichten, Schulden abzubauen und Defizite zu senken.
Brexit
Zum Jahreswechsel 2020/2021 vollzog das Vereinigte Königreich offiziell den Austritt aus der EU. Und Europa muss sich in Zukunft wohl darauf einstellen, dass Großbritannien eigene Wege geht, die der EU nicht immer gefallen werden.
Nachdem sich die Wähler*innen in Großbritannien 2016 mehrheitlich für einen Austritt aus der EU ausgesprochen hatten, waren die Diskussionen um die zukünftige wirtschaftliche Beziehung 2019 immer noch nicht abgeschlossen. Als Präsidentin der Europäischen Kommission spielte Ursula von der Leyen eine zentrale Rolle im Management des Brexit-Prozesses. Sie leitete die Verhandlungen der EU mit dem Vereinigten Königreich, die darauf abzielten, die Beziehungen zueinander nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zu regeln. Unter ihrer Führung erreichten die EU und das Vereinigte Königreich mehrere wichtige Abkommen, einschließlich des Handels- und Kooperationsabkommens, das die Grundlage für zukünftige Beziehungen legt und Zölle sowie Quoten zwischen den beiden Parteien vermeidet. Es regelt unter anderem Fischereirechte und die Wahrung von Standards.
It was worth fighting for this deal.
We now have a fair & balanced agreement with the UK. It will protect our EU interests, ensure fair competition & provide predictability for our fishing communities.
Europe is now moving on. https://t.co/77jrNknlu3
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) December 24, 2020
Europäisches Lieferkettengesetz
Bereits im April 2021 hatte die EU-Kommission einen Vorschlag für ein EU-weites Lieferkettengesetz vorgelegt. Der Vorschlag zielte darauf ab, Unternehmen zu verpflichten, menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten entlang ihrer Lieferketten einzuhalten. Das Gesetz soll sicherstellen, dass europäische Unternehmen keine Produkte in den Verkehr bringen, die durch Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschäden entlang der globalen Wertschöpfungsketten entstanden sind. “Wir können unsere Lieferketten nicht mehr ignorieren – wir brauchen einen Wandel in unserem Wirtschaftsmodell”, sagte damals der EU-Justizkommissar Didier Reynders.
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Bisher haben einige Länder in der EU, unter anderem Deutschland, nationale Lieferkettengesetze erlassen. Die europäische Initiative zielt auf eine Vereinheitlichung der Regeln ab. Dem Vorschlag der Kommission zufolge sollten für Unternehmen neue Sorgfaltspflichten gelten, und tatsächliche und potenzielle negative Auswirkungen auf Menschenrechte und die Umwelt anhand der Lieferketten ermittelt werden. Die Richtlinie sollte für Unternehmen mit weltweit mindestens 500 Beschäftigten und einem Nettoumsatz ab 150 Mio. Euro gelten. Bei einer Verletzung der Sorgfaltspflichten hätten die Mitgliedstaaten jeweils Geldbußen von mindestens 5 % des Umsatzes verhängen oder Anordnungen erlassen können, mit denen Unternehmen verpflichtet worden wären, der Sorgfaltspflicht nachzukommen.
Außerdem hätten geschädigte Arbeiter*innen die Möglichkeit bekommen, vor Gerichten innerhalb der EU gegen Unternehmen auf Schadensersatz zu klagen, sollten Schäden aufgrund von nicht eingehaltenen Sorgfaltspflichten entstanden sein - auch bei Tochtergesellschaften oder Zuliefererbetrieben im EU-Ausland.
Lange Verhandlungen zwischen EU-Parlament und den Mitgliedstaaten brachten noch einige Änderungen mit sich, so wurde in einem Entwurf vom 14. Dezember 2023 der Finanzsektor zunächst von den Verpflichtungen ausgeschlossen, obwohl der Finanzsektor zu den wichtigsten Sektoren gehört, wenn es um die Prüfung von Risiken, Stärken und Schwächen eines Unternehmens in den Lieferketten geht. Laut Recherchen des Onlinediensts Correctiv liefen Wirtschaftsverbände und Lobbyorganisationen gegen das Gesetz Sturm und versuchten, geplante Regulierungen zu schwächen oder auszuhöhlen. Während einige Unternehmen nicht für die Ausbeutung durch die eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten haften wollen, unterstützen andere Unternehmen wie die Rewe Group oder sogar Primark und Kik ein europaweites Lieferkettengesetz.
Trotz einer Einigung zwischen Rat und Parlament im Dezember 2024, scheiterte die Initiative schließlich am wachsenden Widerstand unter Vertreter*innen der Mitgliedstaaten. Vor allem die FDP verhinderte in letzter Minute ein deutsches “Ja” und es kam keine qualifizierte Mehrheit im Rat zustande. Ein europäisches Lieferkettengesetz war als eines der zentralen Legislativpakete der EU-Kommission zur Bekämpfung sozialer Ausbeutung und ökologischer Verschmutzung angekündigt worden. Dass das Gesetz jetzt nicht kommt, zeigt auch Lücken in der Durchsetzungsfähigkeit der Kommission gegenüber einzelnen Mitgliedstaaten.
We had a deal.
But the lobbyists didn’t stop and today member states blocked the due diligence directive. @larawolterseu in plenary today. pic.twitter.com/fvuDaRhbu5
— S&D Group (@TheProgressives) February 28, 2024
Künstliche Intelligenz
Im April 2021 hat die EU-Kommission eine Verordnung über Künstliche Intelligenz (KI) vorgeschlagen. Das Ziel dieses Gesetzentwurfs ist es, einen klaren rechtlichen Rahmen für die Entwicklung, den Einsatz und den Umgang mit KI-Systemen in der EU zu schaffen. Die Verordnung strebt dabei an, ethische Grundsätze im Umgang mit KI zu fördern und Risiken zu minimieren. “Unsere Vorschriften werden zukunftssicher und innovationsfreundlich sein und nur dort eingreifen, wo dies unbedingt notwendig ist, nämlich wenn die Sicherheit und die Grundrechte der EU-Bürger auf dem Spiel stehen“, sagte damals Kommissarin Margrethe Vestager. KI bezieht sich auf die Fähigkeit von Maschinen oder Computersystemen, Aufgaben auszuführen, die normalerweise menschliche Intelligenz erfordern.
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Einige der Schlüsselpunkte des Vorschlags sind:
- Die Klassifizierung von KI-Systemen basierend auf ihrem Risikopotenzial: Hochrisiko-KI-Systeme, wie Gesichtserkennung in öffentlichen Räumen oder Systeme, die für kritische Infrastrukturen verwendet werden, unterliegen strengeren Vorschriften.
- Der Vorschlag beinhaltet Regelungen zum Zugang zu Trainingsdaten, um sicherzustellen, dass KI-Systeme nicht diskriminierende Muster entwickeln.
- Es gibt Anforderungen an die Transparenz, Dokumentation und Rückverfolgbarkeit von KI-Systemen, um eine bessere Überwachung und Kontrolle zu ermöglichen.
- Hersteller von Hochrisiko-KI-Systemen müssen eine Konformitätsbewertung durchführen, und einige Systeme können einer EU-weiten Zertifizierungspflicht unterliegen.
Dieser Gesetzesvorschlag soll sicherstellen, dass KI in der EU auf eine Weise entwickelt und genutzt wird, die die Grundrechte respektiert und private Daten schützt. Das Gesetz ist weltweit die erste einheitliche Regulierung von KI.
Die Verhandlungen zwischen den Vertreter*innen der Mitgliedstaaten und des EU-Parlaments zogen sich allerdings in die Länge, groß waren vor allem die Differenzen darüber, inwieweit Anbieter großer KI-Systeme kontrolliert werden sollten. Der deutsche Digitalminister Volker Wissing der FDP brachte etwa das ganze Projekt ins Schwanken, als er sich gegen eine strenge Regulierung aussprach. Im Trilog Anfang Dezember 2023 konnte dann allerdings nach 38 Stunden Verhandlungs-Marathon ein Kompromiss gefunden werden. Dieser sieht eine Balance zwischen Sicherheit, Innovation und der Gewährleistung von europäischen Grundrechten vor. Trotz des Drucks von Lobbyorganisationen und Unternehmen wird die Regulierung der besonders starken, generativen Modelle kommen.
Das Gesetz verbietet nun KI-Systeme, die klar europäischen Werten widersprechen. Dazu gehört beispielsweise der Einsatz von KI zu Zwecken des “Social Scorings”, d. h. die Bewertung oder Klassifizierung von Personen oder Gruppen aufgrund ihres Sozialverhaltens oder ihrer persönlichen Eigenschaften und der Einsatz von unterschwelligen, manipulativen oder täuschenden Techniken. Das EU-Parlament wollte außerdem eine Gesichtserkennung im öffentlichen Raum verbieten, Nun soll aber die biometrische Fernidentifizierung im öffentlichen Raum in engen Grenzen möglich sein, beispielsweise bei der Fahndung nach Hochkriminellen.
Für erlaubte KI-Systeme mit „hohem Risiko“ gelten für die Anbieter laut Gesetzeskompromiss zusätzliche Anforderungen: Das betrifft alle Fälle, in denen KI-Systeme ein Profil von Personen erstellen und personenbezogene Daten automatisiert verarbeitet werden, wie etwa Gesundheits- oder Standortdaten. Anbieter von solchen Systemen müssen ein Risikomanagementsystem für den gesamten Lebenszyklus des KI-Systems einrichten und strengere Vorschriften als Allzweck-AI-Anbieter befolgen. Insgesamt führt das Gesetz für alle Anbieter Dokumentationspflichten, auch in Bezug auf die Trainingsdaten, ein. Eine detaillierte Zusammenfassung des Gesetzes gibt es hier.
Insgesamt kann die EU-Kommission das KI-Gesetz als einen Erfolg werten - ist es doch das erste weltweit. Dazu wird die Einigung auch als “Sieg der Vernunft über die Interessen von Big Tech” gewertet.
EU-Industriestrategie & Net-Zero Industry Act
Die EU-Industriestrategie wurde erstmals im März 2020 vorgestellt und zielt darauf ab, die Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der europäischen Industrie zu stärken. Dies umfasst Maßnahmen zur Verringerung des CO2-Fußabdrucks in der industriellen Produktion, die Förderung erneuerbarer Energien und generell die Stärkung von Kreislaufwirtschaft. Nur wenige Tage nachdem diese Strategie vorgestellt wurde, erklärte die WHO Covid-19 zur weltweiten Pandemie und somit aktualisierte die EU-Kommission ihre industriepolitischen Pläne im Jahr 2021. Hier bezog sie sich ausdrücklich auf die Lehren aus der Pandemie: In den Fokus rückten deshalb die Stärkung der weltweiten Wettbewerbsfähigkeit der EU-Industrie und eine strategische Autonomie der EU.
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Hierbei geht es vor allem um die Sicherung strategischer Wertschöpfungsketten und die Verringerung der Abhängigkeit von externen Lieferanten: Laut einer Analyse der EU-Kommission wurden 137 Produkte in sensiblen Bereichen der energieintensiven Industrien sowie der Gesundheitstechnik identifiziert, bei denen die europäische Wirtschaft in besonderer Abhängigkeit steckt. Vor allem China ist hier im Fokus, denn aus dem Land importiert die EU etwa die Hälfte dieser Produkte. Auf die Frage, wie eine stärkere Resilienz der europäischen Wirtschaft erreicht werden kann, hat die EU-Kommission bisher keine eindeutige Antwort geliefert. Allerdings sollen sog. Industrieallianzen helfen, in Schlüsseltechnologien gemeinsam schneller voranzukommen. So wurden solche Allianzen unter anderem im Bereich des grünen Wasserstoffs, der seltenen Erden sowie im Bereich kleiner modularer Reaktoren gebildet. Außerdem soll ein Chips-Act die Halbleiterindustrie unterstützen und die Produktion von Computerchips nach Europa holen.
Aber wie soll das Ziel der Klimaneutralität 2050 auch in der Industrie erreicht werden? Vor allem die USA pumpen mithilfe des Inflation Reduction Acts viel Geld in die Transformation der Wirtschaft und ziehen damit auch viele innovative Unternehmen mit großen Investitionen in die Vereinigten Staaten. Die EU versucht ähnliches mit dem sog. “Net-zero industry act” (NZIA), doch die Finanzierung und Umsetzung ist hier stark an die nationale Ebene gekoppelt und weniger direkt von der EU organisiert. Durch priorisierte Projekte, schnellere Genehmigungsverfahren und gemeinsame Finanzierung und Forschung soll die grüne Wirtschaft gefördert werden. Hier geht es vor allem um die Solar- und Biogasindustrie, aber auch um Wärmepumpen, Batterien und Brennstoffzellen. Auch Nuklearenergie und die Speicherung von CO2 (Carbon capture & storage, CCS) können gefördert werden. Expert*innen aus der Industrie beklagen Unklarheiten in der Finanzierung von solchen Projekten. Und obwohl die CCS-Technolgie boomt, kritisieren andere den übermäßigen Einsatz dieser zur Minderung des Kohlenstoffausstoßes in der EU. So bemängelte jüngst der Co-Spitzenkandidat der Europäischen Grünen, Bas Eickhout, dass sich die EU nicht mit CCS aus dem Problem winden könne.
Eine weitere Initiative im Bereich der Industriepolitik der vergangenen Jahren ist die erfolgreiche Verabschiedung eines CO2-Grenzausgleichssystems, um eine Abwanderung von energieintensiven Industrien aus der EU in andere Länder mit niedrigeren Umweltstandards zu vermeiden. Durch eine sog. “border adjustment tax” fällt ab 2026 eine CO2-Steuer auf bestimmte Produkte an, wenn sie in die EU importiert werden. Kritiker*innen sehen das Projekt als eine “gutgemeinte Provokation” gegenüber Handelspartner*innen vor allem im globalen Süden. Diese würden dadurch nicht in ihren Anstrengungen zur Bekämpfung der Klimakrise unterstützt, sondern schlichtweg benachteiligt.
Die europäische Industriepolitik steckt auch nach der Corona-Pandemie in der Krise und viele der von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen helfen nur symptomatisch. Ein klarer Paradigmenwechsel hin zu mehr gemeinsamen Industrieprojekten statt nationaler Alleingänge ist nicht zu beobachten. Nur in einen Industriesektor ist Bewegung gekommen: Durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine will die EU nun ihre Verteidigungsindustrie kriegstüchtig machen. Die EU-Kommission möchte sicherstellen, dass nationale Regierungen Rüstungsgüter gemeinsam beschaffen, um die Ausgaben effektiver zu gestalten. Gleichzeitig plant die Kommission, die Herstellungskapazitäten mit einer Milliarde Euro zu subventionieren. Ein Verteidigungsinvestitionsplan soll die gemeinsame Beschaffung unterstützen und die Entwicklung von Waffen durch den Europäischen Verteidigungsfonds finanzieren. Die genaue Höhe des Budgets ist noch nicht bekannt, POLITICO berichtet allerdings von mindestens 1,5 Milliarden Euro, die bis zum Jahr 2027 erwartet werden.
Anteile an der Produktionskapazität ausgewählter Clean Tech-Branchen, 2021: In Schlüsselbereichen der Clean Tech Industrie liegen die Produktionskapazitäten in Europa weit hinter dem Bedarf zurück. China hat in vielen Technologien in der Herstellung eine Vormachtstellung. Quelle: Internationale Energieagentur (IEA), Energy Technology Perspectives, 2023 via Bruegel
Eine gemischte Bilanz
Die genannten Initiativen decken nur einen Bruchteil der Arbeit in der Wirtschafts- und Digitalpolitik der letzten Legislatur ab. Sie zeigen aber, dass die EU-Kommission trotz vieler globaler Krisen und Gegenwind von den Mitgliedstaaten im Rat und dem EU-Parlament – den gesetzgebenden Institutionen der EU – eigene Gesetzesinitiativen umsetzen konnte. Das kann durchaus kritisch gesehen werden, denn schließlich mangelt es der Kommission an demokratischer Legitimation. Andererseits besitzt die Brüsseler Behörde besonders in der Wirtschafts- und Digitalpolitik eine Expertise, die ihresgleichen sucht. Ursula von der Leyen hat sich in den vergangenen fünf Jahren das Image einer "grün angehauchten Technokratin" angearbeitet und auch ihre Kommissar*innen haben es verstanden, europäische Politik zu gestalten. Die Vergemeinschaftung von Schulden, der Green Deal als prägendes Element der Industriepolitik und progressive Gesetzgebung zu KI oder Online-Plattformen sind aber nicht nur die Verdienste der Kommission. Einerseits drängten die multiplen Krisensituation die Staats- und Regierungschef*innen zu gemeinsamem Handeln, wie bei der Antwort auf die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise. Andererseits ließen sich mit einer Mehrheit links der Mitte im EU-Parlament viele politische Vorhaben umsetzen, die auf die grüne und digitale Transformation abzielten. Eine weitere Spaltung der nationalen Prioritäten und ein genereller Rechtsruck bei den Europawahlen könnten die Arbeit der nächsten Kommission also stark beeinträchtigen, besonders in wichtigen, gemeinsamen Wirtschaftsfragen.
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