Seit mehreren Monaten steht das Parlamentsgebäude Louise Weiss leer. Die Abgeordneten meiden den offiziellen Sitz des EU-Parlamentes aufgrund der Corona-Pandemie, die Europa seit März 2020 schwer zu schaffen macht.
Obwohl die große Rückkehr der Abgeordneten in den Straßburger Plenarsaal eigentlich für den 19. Oktober geplant war, haben die Vorsitzenden der europäischen Parteifamilien und der Parlamentspräsident, David-Maria Sassoli, am Donnerstag entscheiden, diese um ein weiteres Mal zu verschieben. Bei Twitter begründete Sassoli diese Entscheidung mit der Verschlimmerung der Situation rund um das Virus COVID-19: „Ich bedauere zutiefst, dass die Plenarsitzungen nicht in Straßburg stattfinden werden. Stattdessen werden sie kontaktlos abgehalten. Die Situation in Frankreich und Belgien ist schlimm. Das Reisen zwischen Brüssel und Straßburg ist daher gefährlich. Straßburg bleibt der Sitz des @Europarl_FR und wir werden alles tun, um dorthin“
Also weder Straßburg noch Brüssel. Die Plenarsitzung wird digital abgehalten. Um bei den Debatten zu Wort zu kommen, müssen die Abgeordneten sich in eines der 32 Verbindungsbüros des Europäischen Parlamentes begeben, die über die EU verteilt sind. Das Risiko, dass die Organisation der Debatten dadurch zusätzlich verkompliziert wird, ist umso bedauerlicher, als dass einige sehr wichtige Themen behandelt werden müssen. So stehen für diese Sitzungswoche Themen wie zum Beispiel die Situation in Belarus, die gemeinsame Agrarpolitik oder die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (auch SSZ, PESCO oder „Verteidigungsunion“ genannt).
Der Sitz in Straßburg steht mehr und mehr in der Kritik
Aber auch abseits dieser technischen Probleme wird Straßburg als Sitz des Europaparlamentes zunehmend in Frage gestellt. Das ist besorgniserregend. Auch wenn sich eine Mehrheit der Abgeordneten dafür ausspricht, dass die gesamte parlamentarische Arbeit in Brüssel stattfinden soll, wo sowohl die Kommission als auch der Rat der EU ihren Sitz haben, wird eins oft vergessen: dass der Sitz in Straßburg im Zusatzprotokoll über die Festlegung der Sitze der Organe des Vertrages von Amsterdam festgeschrieben steht. Das bedeutet, dass der europäische Co-Gesetzgeber ganz offiziell dazu verpflichtet ist, zwölf Plenarsitzungen im Jahr in Straßburg abzuhalten.
Aber seit Februar 2020 hat keine einzige Sitzung mehr im Parlamentsgebäude Louise Weiss stattgefunden. Die Corona-Pandemie spielt den „Anti-Straßburger*innen“ in die Hände, die die Zentralisierung der Arbeit des EP in der belgischen Hauptstadt fordern. Neben der Vorbehalte aufgrund der sanitären Krise gibt es in der Tat weitere Vorbehalte aufgrund der Logistik (der regelmäßige Umzug von Brüssel nach Straßburg ist in der Tat schwierig), der Kosten (der endgültige Umzug nach Brüssel würde zwischen 103 und 109 Millionen Euro Reisekosten pro Jahr einsparen) und der Umweltverträglichkeit (der monatliche Umzug erzeugt hohe CO2-Emissionen, obwohl das Gebäude in Straßburg von 1999 deutlich energieeffizienter ist als das Brüsseler Gebäude, das 10 Jahre früher gebaut wurde und inzwischen mehrere Millionen Euro an Renovierungskosten bedarf).
Eine Frage der Demokratie – lokal und europäisch
Aber Befürworter*innen des Sitzes in Straßburg müssen angesichts der Kritik am Sitz der europäischen Institution nicht kapitulieren. Nur die Mitgliedstaaten können ändern, worüber sie vor vielen Jahren entschieden haben. Straßburg ist in den Verträgen als Sitz des Parlamentes festgeschrieben. Eine einstimmige Entscheidung des Europäischen Rates wäre nötig, dies zu ändern, und Frankreich wird mit Sicherheit nicht dafür stimmen. Während seiner Reise nach Litauen hat Emmanuel Macron den Parlamentssitz erst kürzlich verteidigt: „Wenn sich das Parlament nur noch in Brüssel trifft, sind wir verloren, denn in zehn Jahren wird dann alles in Brüssel sein. Und in Brüssel werden die Leute nur noch unter sich sprechen. Das ist aber nicht die Idee von Europa.“
Der französische Präsident spricht eine grundsätzliche Idee der europäischen Integration an: ihre Aneignung durch die europäischen Bürger*innen. Die europäischen Institutionen gelten allgemeinhin als technokratisch und „zu weit weg“ von den Bürger*innen. Dass diese Institutionen über mehrere Länder und historisch relevante Städte, wie z.B. Straßburg, verteilt sind, soll signalisieren, dass die EU gewillt ist, aus dem europäischen Viertel in Brüssel heraus zu kommen. Diese „Dezentralisierung“ der Institutionen ist insofern eine Frage der Demokratie, als dass sie auf die Identifikation der Bürger*innen mit der europäischen Idee abzielt.
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