Eigentlich ist es seltsam. Weniger als 48 Stunden sind es noch bis zur Schließung der ersten Wahllokale und doch hat das Rennen um die Präsidentschaft (vielleicht zum ersten Mal) ein seltsames Gleichgewicht des Abwartens und der Abregung erreicht. Mit ein wenig Sinn für Melodramatik könnte man von der sprichwörtlichen Ruhe vor dem Sturm sprechen - in jedem Fall kamen wir bislang ohne größere Last-Minute-Affären, Skandale und Enthüllungen durch die letzten Tage, was in diesem hektischen Wahlkampf ja schon eine mittelgroße Überraschung darstellt. Selbst die jüngste Eruption in Hillary Clintons E-Mail-Causa kam diesen Sonntag zumindest faktenmäßig zu einer schnellen Erstarrung, nachdem FBI-Direktor James B. Comey verlautbaren ließ, dass es nach wie vor keine Hinweise auf eine strafbare Handlung von Seiten der demokratischen Kandidatin gäbe und man diesbezüglich gegenüber Juli auch keine neuen Erkenntnisse erzielt habe. Bleibt allenfalls noch die Frage, ob das abermalige Aufbringen dieses leidigen Themas Clinton trotz der entlastenden Botschaft nutzt oder ob damit nicht auf den letzten Metern unnötig öffentliche Aufmerksamkeit von den vielen Fehlern und Unzulänglichkeiten ihres Rivalen abgelenkt wird. Der vertreibt sich seine letzten Bewerbertage indes damit, mangels hochkarätiger Sekundanten (nicht jeder hat eben einen Barack und eine Michelle Obama zur Hand) quasi im Alleingang von einer Ralley zur nächsten zu hetzen und seine Kontrahentin dort vor johlendem Publikum wahlweise als korrupt oder kriminell zu beschimpfen; in nicht wenigen Fällen soll wohl auch beides vorkommen. In New York City, wo so langsam der Herbst einkehrt, bekommt man wiederum von all dem nicht mehr mit als die obligatorisch auftauchenden (inzwischen aber fast schon wieder seltener werdenden) Buttons und Sprachfetzen im Alltag - für ernsthafte Reibereien ist diese Stadt wie auch der gesamte Bundesstaat (zuletzt: Ipsos, Clinton +22, 28.10.-03.11 / Siena, Clinton +17, 03-04.11.) aber auch einfach zu eindeutig demokratisch gepolt. Den einzigen Berührungspunkt, den der Autor dieser Zeilen vergangene Woche überhaupt mit möglichen Sympathisanten der Trump Campaign machen konnte, bestand in einem zwar nicht unkreativen aber doch nur zweifelhaft wahlwerbewirksamen Geschmiere an der Metrostation 50th Street (siehe Bild). New York ist eben doch - trotz zweier New Yorker Kandidaten - ein reichlich undankbarer Ort für berichtenswerte Wahlkampfimpressionen; es bleibt nur zu hoffen, dass einen der Dienstagabend dafür ausgiebig entschädigt.
Ein Auge auf Florida und North Carolina
Apropos Dienstagabend: Der kann eventuell bei fünfzig Bundesstaaten, vier Zeitzonen und allerhand Sonderregeln recht lang werden. Für diejenigen, die nicht bis zum Ende ausharren können, wollen, dürfen oder aber das Alptraumszenario einer Trump-Präsidentschaft möglichst bald geistig einmotten wollen, stellen vor allem die zuletzt hart umkämpften Ostküstenbundesstaaten Florida und North Carolina einen sehr guten (und ob ihrer Lage auch frühzeitigen) Indikator dar. Zeichnet sich ab, dass Trump einen von beiden verliert, dann benötigt er voraussichtlich ein mittelschweres Wunder im Mittleren Westen oder in Neuengland (z. B. Michigan oder Wisconsin + New Hampshire für North Carolina; alles zusammen oder eine Kombination + Pennsylvania für Florida) um überhaupt noch eine Chance zu haben. Verliert er beide, dann hat er faktisch gar keine Chance mehr und man kann sich erleichtert zur Ruhe betten. Gewinnt er allerdings beide, dann können wir uns auf eine spannende und lange Nacht einstellen und den Blick aufmerksam nach New Hampshire, Pennsylvania, Colorado und Nevada richten, während in Clintons Hauptquartier die Alarmsirenen losgehen werden. Aber wie hoch ist denn nun die finale Chance, dass es so kommt? Zumindest die Analystenfront positioniert sich in dieser Frage mehrheitlich eindeutig: Lediglich Nate Silver und Fivethirtyeight.com sehen Trump derzeit auf dem aufsteigenden Ast und räumen Clinton „nur noch“ knapp 65% Siegchance ein - der unter allen Wahlmodellen klar konservativste Ansatz. Die New York Times gibt ihr dagegen 84%, DailyKos 87%, die Wettkönige von PredictWise 88%, Sabato/University of Virginia prognostiziert einen Likely Clinton Win und Samuel Wang vom Princeton Election Consortium geht mit nunmehr sagenhaften >99% so richtig in die Vollen. Auch die allerjüngsten landesweiten Umfragen sehen - keine Überraschung - nach wie vor in der Breite die Ex-Senatorin und ehemalige First Lady vorne, wenn auch zum Teil nur noch knapp: ABC/Washington Post (01.-04.11.) hat Clinton fünf Prozentpunkte in Führung, Ipsos (31.10.-04.11.) und NBC (03.-05.11.) jeweils vier, Fox News (01.-03.11.) nur zwei, Marist (01.-03.11.) einen und IPD/TIPP (02.-05.11.) bricht die vereinte Meinungsforscherphalanx gar vollends auf und sieht Donald Trump mit einem Punkt Vorsprung an der Spitze.
Prognose und Tipp
Kurz: Ein wahrer Datensalat, aus dem jeder seine eigenen Schlüsse ziehen kann. Ich will die meinen ziehen, daher hier meine persönliche Prognose: Clinton wird den noch vor wenigen Wochen gar nicht mal so unwahrscheinlichen Totaltriumph verpassen, letztlich aber doch einen mehr oder weniger ungefährdeten Sieg einfahren und mit etwa 3-4 Prozentpunkten Vorsprung gewinnen. Je nach Wahlbeteiligung, Mobilisierungsgrad und Tagesform auch mit mehr; wenn es eng wird, vielleicht auch mit weniger. Trump könnte durchaus Ohio und Iowa (Obama-Staaten in 2008 und 2012) sowie die bereits angesprochenen Schlüsselstaaten Florida und North Carolina gewinnen und Arizona halten, wird aber nach Lage der Dinge in Colorado, Virginia, Nevada und New Mexico scheitern. Auch der Mittlere Westen mit Michigan (zuletzt: PPP, Clinton +5, 03.-04.11.), Wisconsin (zuletzt: SurveyMonkey, Clinton +1, 29.10.-04.11.) und Minnesota (zuletzt: SurveyMonkey, Clinton +8, 09.10.-04.11.) scheint als Alternativplan auf dem Weg zur magischen 270 reichlich schwieriges Terrain für den Republikaner zu bleiben. Und in Pennsylvania bleibt Clinton (zuletzt: Muhlenberg College, Clinton +4, 30.10.-04.11.) trotz einiger Schwankungen ebenfalls stabil. Ich tippe daher vorsichtig optimistisch und mit einem gehörigen Maß an Spekulation auf ein Endergebnis von summa summarum 322 - 216 Wahlmännerstimmen für Clinton; das allerdings in der Gewissheit, dass hier schon kleinste Änderungen der wahlrelevanten Parameter unter Umständen für erhebliche Abweichungen sorgen können. Besonders der verhältnismäßig hohe Anteil an Drittparteiwählern und Unentschlossenen verbunden mit widersprüchlichen Signalen zur Wahlbeteiligung (Afroamerikaner runter, Hispanoamerikaner rauf) lässt Spielraum für ein verhältnismäßig hohes Maß an Unsicherheit. Von daher erscheint mir zwischen einem klaren 374-164 für Clinton (Georgia!) bis hin zu einem knappen 280-258 für Trump rein theoretisch vieles möglich. Um es vereinfacht zu sagen: Auf dem Papier steht Clinton rein numerisch klar besser da als Obama an gleicher Position 2012. Aber im Gegensatz zu ihm trifft sie nun einmal auf einen unberechenbaren Gegner und in dessen Schlepptau auch auf das unberechenbare Wählerverhalten einer erregt-unberechenbaren Wählerschaft als große Unbekannte. Wie gefährlich diese Unbekannte ist, das erfahren wir dann Dienstagnacht - natürlich im treffpunkteuropa-Liveticker.
Kommentare verfolgen: |