Transnistrien – Eine Zeitkapsel

, by Emilia Kurilov

Transnistrien – Eine Zeitkapsel
A. Suworow Denkmal in Tiraspol inklusive Emblem zu 33 Jahren Pridnestrowische Moldauische Republik (international nicht anerkannt) Foto: Emilia Kurilov

Im September 2023 begab ich mich auf eine Reise in die Republik Moldau, ein Land, das früher oft im europäischen Diskurs übersehen wurde. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, als dessen kleinerer Nachbarstaat, steht es jedoch im Licht der Öffentlichkeit. (Frühestens) 2030 soll Moldau in die Europäischen Union (EU) aufgenommen werden. Was viele aber nicht wissen, im Osten des Landes befindet sich ein kleiner Teil, der de facto autonom ist und unter russischem Einfluss steht: Transnistrien. Mir war es wichtig auch in diesen Landesteil einen Blick zu werfen. Im Folgenden möchte ich meine Geschichte erzählen.

Ein Ausflug in die Sowjetunion

„In einer Woche sitzt du übermüdet in Transnistrien“, bei diesem Satz hätte ich wohl laut gelacht und es nicht geglaubt. Ursprünglich wollte ich nur die Hauptstadt von Moldau, Chișinău, besuchen. Transnistrien ist zwar völkerrechtlich ein Teil der Republik Moldau, tatsächlich handelt es sich aber um ein De-facto-Regime innerhalb des moldauischen Gebietes. Nichtsdestotrotz lehne ich mich an jenem Septembermorgen müde auf den Plastikstuhl im Restaurant „Zur alten Bastion“ zurück. Kurz nach der „Grenze“ eines „Staates“, der eigentlich nicht existiert. Alles wirkt seltsam neu. Eher wie in einem Neubaugebiet irgendwo in der deutschen Provinz als in einem international nicht anerkannten, ausschließlich von Russland gestützten De-Facto-Regime.

Festung Bendery, Foto: Emilia Kurilov

Zugegeben, die Anreise hat deutlich gemacht, dass wir uns nicht mehr im „freien Europa“, in der „westlichen Welt“ befinden: Eine Autoschlange vor der Grenze. Menschen in Militäruniformen, die grimmig gucken. Eine Soldatin in Tarnkleidung fragt uns, was wir hier wollen. „Wir sind Studierende und wollen uns das Land ansehen“, versichere ich ihr. Sie lobt mein Russisch. Auf ihrer Kappe ein goldenes Emblem mit Hammer und Sichel. Als wir die Grenze passiert haben, atmen alle tief durch.

Unser Taxifahrer bringt uns ans erste Ziel, die Festung Bendery, noch diesseits des Flusses Dnister, nach dem der separatistische Landesteil benannt ist. In der Festung ist eigentlich nicht viel zu sehen. Es wirkt eher wie die sowjetische Interpretation eines Disneylands als eine mittelalterliche Burg, wie wir sie aus Europa gewöhnt sind. Ein neu gepflasterter Weg aus roten und braunen Backsteinen weist uns die Route zum Schloss. Ordentlich abgegrenzte Grünflächen. Ein Kinderkarussell in Form einer Rakete mit Geschützköpfen. So weit, so propagandistisch. Für die Festung selbst muss man sich ein Ticket kaufen. Menschen aus dem „entfernten Ausland“ zahlen mehr. Innerhalb der Schlossmauern gibt es ein Outdoor-Kino und eine Ausstellung für Folterinstrumente. Kinder laufen umher, stecken beherzt ihre Hände und Köpfe durch den Pranger und lachen. Irgendwo klebt auch ein „Nett hier, aber waren Sie schon mal in Baden-Würtemberg.“-Sticker. Alles wirkt irgendwie aufgesetzt.

Die Entstehung Transnistriens

Doch wie ist dieser “Staat”, der in der Zeit stecken geblieben zu sein scheint, überhaupt entstanden? 1924 wird die Pridnestrowische Moldauische Republik (PMR) auf dem Gebiet der damaligen Ukrainischen Teilrepublik gegründet. Dem vorausgegangen war die Revolution in Russland 1917, die Geburtsstunde der Sowjetunion. 1940 wurde dann der Rest des heutigen Moldaus, damals noch Bessarabien genannt, von der Führung in Moskau annektiert. Bis 1918 gehörte das Gebiet eigentlich zu Rumänien.

Kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion verkündete die PMR im Jahr 1990 ihre Unabhängigkeit vom Rest des Landes. 1991, als die Auflösung der UdSSR beschlossen wurde, stimmten noch 98 % der transnistrischen Bevölkerung für den Verbleib in dem Einparteienstaat. Ob die Wahlen frei waren, ist allerdings fraglich. 1992 brach dann ein Krieg zwischen den beiden Landesteilen des damals noch vereinten „Moldawiens“ aus. Der Konflikt dauerte mehrere Monate und forderte über 500 Menschenleben. Beendet wurde er durch das Eingreifen russischer Truppen unter der Führung des Generals Alexander Lebed (der vier Jahre später unter mysteriösen Umständen ums Leben kam). Seitdem ist der Konflikt eingefroren. Transnistrien selbst wurde nie offiziell durch die Vereinten Nationen anerkannt, auch nicht von Russland, in dessen politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit es sich befindet.

Tiraspol - (k)eine Hauptstadt

Nach einem Kaffee geht es gestärkt weiter in die „Hauptstadt“ von Transnistrien, nach Tiraspol. Auf dem Weg dahin machen wir zugleich Bekanntschaft mit der Polizei. Aus einem scheinbar willkürlichen Grund wurde unser Fahrer rechts ran gewunken. Er hatte eine durchgezogene Linie überfahren. Nach Zahlung der Strafe ging es auf kaputten Straßen, vorbei an alten Garagen und dem „Russian Glory Monument“ weiter in die Stadt. Eigentlich sieht es hier nicht weiter außergewöhnlich aus: Klassisch post-sowjetisch. Ähnliches sieht man auch heute noch in anderen osteuropäischen Ländern, auch in der EU.

Hauptstraße in Tiraspol, Foto: Emilia Kurilov

In Tiraspol wurden wir dann vom nächsten „Sheriff“ begrüßt. Dabei handelte sich jedoch nicht um einen Staatsbeamten, sondern um das Wirtschaftsimperium zweier ehemaliger KGB-Agenten (KGB ist die Abkürzung für den sowjetischen Geheimdienst). Nach dem Unternehmen ist nicht nur der örtliche international erfolgreiche Fußballverein benannt, sondern auch die größte Supermarktkette des „Landes“. Darüber hinaus hat Sheriff weitreichende Beziehungen in hohe Politikämter und erwirtschaftet den Großteil des Brutto-Inland-Produkts in Transnistrien.

Die niedrigen Bauten enden abrupt und vor uns ragt ein Wohnkomplex auf, dessen Stil an den sowjetischen Klassizismus erinnert. Es ist eine Gated Community und das einzige repräsentative Wohngebäude weit und breit. Wir sind angekommen im Kern der PMR. Die Stimmung ist merkwürdig. Besonders für mich. Meine Eltern, selbst in Sowjetrussland geboren, haben mir ein Leben lang erzählt, wie es war im Kommunismus aufzuwachsen und später den Zerfall zu erleben. Diese Stadt wirkt auf mich wie eine Zeitkapsel der 90er-Jahre aus ihren Erzählungen.

Einerseits Fast-Food-Restaurants, „Instagram-worthy“-Blumenarrangements und Fotowände, ein kleines Festival auf dem Menschen ihre Handarbeitskunst darbieten und Cosplayer*innen in bunten Kostümen, andererseits sozialistische Straßennamen („Straße des 25. Oktobers“ oder „Karl-Marx-Allee“ sind nur ein paar Beispiele von vielen), das Plakat einer Dame, die die sozialistische Arbeitermedaille verliehen bekommt, russische Flaggen, der Sowjetstern auf Rotem Grund. Und das alles unter Lenins wachsamen Augen.

Lenin-Statue vor dem Gebäude des “Obersten Sowjets” (Parlament des international nicht anerkannten Staates Transnistrien), Foto: Emilia Kurilov

Es ist ein grotesker Anblick. Und dennoch gehen die Leute ihrem täglichen Leben nach. Dass wir uns dabei nur ein paar Kilometer von dem Land befinden, das gerade aktiv von Russland angegriffen wird, wird mir bewusst, als ich eine Benachrichtigung von meinem Handyanbieter bekomme: „Willkommen in der Ukraine.“ Das stimmt mich nachdenklich. Weshalb bin ich überhaupt in einen separatistischen, anti-demokratischen Landesteil gereist?

Transnistrien gehört zu Europa

Als Tochter von Wolgadeutschen – einer Minderheit, die selbst jahrelang in der ehemaligen Sowjetunion verfolgt wurde und immer noch zu großen Teilen in Russland lebt – sehe ich es als meine Pflicht, mir bewusst zu machen, was es bedeutet in einem unfreien Regime zu leben und mich für eine demokratische Grundordnung einzusetzen. Dies geht meiner Meinung nach am besten in der Auseinandersetzung mit den Menschen und Gegebenheiten vor Ort. Ich verstehe nun, warum es Menschen gibt, die wie in Transnistrien (oder Russland) nicht laut sind und für ihre Rechte auf die Straße gehen, sondern lieber den Dingen ihren Lauf lassen, solange sie nicht selbst betroffen sind. Es bleibt ihnen wenig anderes übrig. In einem Land im Einfluss russischer Propaganda und ohne politische Bildung, ohne Aussicht auf Besserung.

Bevor wir uns auf den Rückweg machen, gehen wir noch in einen Sheriff-Supermarkt. Dieser ist von innen nicht weiter von einem europäischen Einkaufsladen zu unterscheiden. Trotz aller Russland-Nähe finden sich hier auch weiterhin viele Produkte aus Deutschland und Europa (vor allem Marken wie Ritter Sport oder Milka stechen ins Auge). Interessanterweise gibt es auch weiterhin Lebensmittel, die in der Ukraine hergestellt werden (und zwar nicht in den von Russland besetzten Gebieten). Auf den Branntweinen der berühmten KVINT-Destillerie steht „Made in Moldova“, obwohl diese sich auf dem Gebiet der PMR befindet. Obwohl hier viele Menschen einen russischen Pass besitzen und russisches Propaganda-Fernsehen empfangen, ist dieses kleine „Land“ nicht mit Russland gleichzusetzen. Es gehört zu Moldau. Und somit auch zu Europa.

Blick auf den Fluss Dniester und die Stadt Tiraspol, Foto: Emilia Kurilov

Wir fahren wieder zurück nach Chişinău. Die gleiche Straße, die wir gekommen sind. Wieder hält der Polizist uns an. Mir fällt auf, dass die Polizeiwache keine Autos hat, um Streife zu fahren. Wir müssen wieder eine „Strafe“ bezahlen. Der Polizist wirkt bedrohlich, doch wir können weiterfahren. Als wir nach weiteren 15 Minuten den Grenzübergang passiert haben, merke ich, wie die Anspannung wieder von mir abfällt.

Mir ist bewusst geworden, wie wichtig es ist, dass wir – als Menschen, die das Glück haben in einer Demokratie zu leben – nun mehr denn je zusammenhalten müssen und nicht auf die Tricks von demokratiefeindlichem Populismus reinfallen dürfen. Denn dieser ist Nährboden für Unterdrückung und Misstrauen. Und gerade in Zeiten wie diesen sollten vor allem wir, als junge Europäer*innen, näher zusammenrücken und für die Freiheit einstehen. Denn diese ist Basis für den Frieden und eine lebenswerte Zukunft.

Dass diese Werte nicht für selbstverständlich genommen werden sollten, spiegelt sich in den Stacheldrahtzäunen wider, die die russischen Militärbasen in Transnistrien umgeben. Einem Gebiet, welches zu Moldau gehört, wie die “Neuen” Bundesländer zu Deutschland. Für die Menschen in Moldau bleibt nur zu hoffen, dass es für sie zukünftig möglich sein wird ihre Liebsten auf beiden Seiten des Dnister zu besuchen - ganz ohne Grenzübergänge und Polizeikontrollen.

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