Die Gefahren und Grenzen von Transnationalen Listen
Über die bekannten Gegenargumente hinaus (Zwei-Klassen-Parlament, Abgeordnete ohne Unterstützung der Basis, eine Kandidatenauswahl, die zugunsten der großen Länder ausfallen könnte), stellt ein zweistimmiges Wahlsystem, das aus der Kohabitation eines europäischen und nationaler Wahlbezirke hervorgeht – in keinem Fall vergleichbar mit dem Wahlsystem für den Bundestag – eine bedeutende Gefahr dar, da es von der Wählerin falschverstanden werden könnte. Diese könnte dazu übergehen, nur auf der transnationalen Liste „europäisch“ zu stimmen (also für Kandidaten, die eine europäische Vision vertreten sollen), und „national“ (also für Kandidaten, die in Brüssel die nationalen Interessen vertreten sollen) auf den nationalen Listen, die die große Mehrheit der Sitze verteilen. Dies würde dazu führen, den nationalen Charakter der Europawahl weiter zu verstärken – also das genaue Gegenteil des verfolgten Ziels. Und man muss zugeben, dass sich transnationale Listen auf einen Teil der Mandate beschränken müssten und nicht alle Sitze verteilen können, es sei denn, man möchte geschlossene Parteilisten, auf denen Hunderte von Namen stehen.
Außerdem würde es die bedauernswerte Trennung zwischen den europäischen und den nationalen Parteien weiter verschärfen, wenn es zwei Kategorien von Listen gäbe – eine vertreten von den europäischen Parteien, die andere von den nationalen. Es würde sie gegeneinander in Stellung bringen, während es eigentlich nötig wäre, Synergien zu erschaffen und die Entstehung von transnationalen Parteien voranzutreiben.
Eine langfristige Vision des europäischen Wahlsystems
Kein einziger föderaler Staat hat nur eine einzige übergreifende Wahlliste, nicht einmal die Schweiz, die ein kleines Land ist. Der Grund dafür ist einfach: Eine politische Familie wird üblicherweise von einer bestimmten politischen Partei vertreten, die auf allen Ebenen der Föderation präsent ist. Nach dem Vorbild der föderalen Institutionen sind auch die Parteien selbst nach föderalistischen Prinzipien organisiert. Die Ebene der politischen Entscheidung passt zur Ebene der politischen Arbeit durch die Parteien.
In einer Föderation werden Wahlen, gleich auf welcher Ebene, innerhalb der lokalen Wahlkreise von den entsprechenden Organen der politischen Parteien bewältigt. Wenn man festhält, dass die EU langfristig ein transnationales Parteiensystem benötigt, muss sich jede Wahlreform diesem Ziel verschreiben; auf keinen Fall sollte sie diesem Vorhaben schaden, indem sie riskiert, die bestehenden Gräben zwischen nationalen und europäischen Parteien noch zu vertiefen, wie es die transnationalen Listen in jedem Fall tun würden. Als Übergangslösung, und in Anbetracht der Tatsache, dass zurzeit nun einmal europäische und nationale Parteien existieren, müssen bei europäischen Wahlen die europäischen Parteien in der ersten Reihe stehen. Der gesamte Prozess muss sich um sie drehen.
Die europäischen Parteien als Empfänger aller Stimmen
In der aktuellen Parteienlandschaft wäre es am besten, alle Stimmen den europäischen Parteien zukommen zu lassen. Dafür gibt es mindestens sieben gute Gründe:
1. Die Wahl, der gesamte Prozess, wird zu einer gemeinsamen Aktion der europäischen Partei und ihrer nationalen Partner: Pan-europäische Kampagnen werden auf der europäischen Ebene entwickelt und koordiniert, aber dezentralisiert von den nationalen Parteien ausgeführt, die die nötige Logistik bereitstellen. Das stärkt die Synergien innerhalb der politischen Familien.
2. Der Wahlkampf dreht sich so zwangsläufig um europäische Themen. Das Kampagnenmaterial und die Stimmzettel, ausgehändigt unter der Leitung der europäischen Parteien, informieren die Wählerin darüber, welche nationale Partei oder Parteien die zur Wahl stehende europäische Partei unterstützen (das ist das Gegenteil von dem, was bisher vorgeschlagen wurde).
3. Eine deutsche Wählerin zum Beispiel würde nicht für die CDU stimmen, sondern für die PPE. Psychologischer Effekt garantiert. Eine wunderbare Art und Weise, um sich von der Gewohnheit zu verabschieden, nationale Regierungen bei europäischen Wahlen abzustrafen – sogar mit nationalen Listen. Der Wählerin wird endlich bewusst, worum es in der Wahl geht, und zwar bei allen Stimmen, die sie abgibt.
4. Die Wählerin stimmt für Kandidaten, die in ihrer Nähe sind und die sie kennen (könnte). Auch, wenn eine europäische Abgeordnete alle europäischen Bürger vertritt, ist sie in ihrer Funktion als gewählte Vertreterin ihrem Wahlbezirk Rechenschaft schuldig; das kann nur in einem lokalen Wahlbezirk funktionieren. Eine beschränkte Anzahl bekannter Kandidaten ermöglicht auch eine proportionale Zweitstimme, wie im deutschen System. Man könnte gleichzeitig darüber nachdenken, der Wählerin die Möglichkeit zu geben, eine eigene Wahlliste zu erstellen, um ihr die Stimmabgabe für eine Kandidatin aus einem anderen Land zu ermöglichen.
5. Die Sitze im Parlament werden anhand der Wahlergebnisse der Europäischen Parteien, nicht der nationalen Parteien, verteilt, und zwar nach derMethode der doppelten Proportionalität. Das reduziert, so sehr das realistischerweise vorstellbar ist, die Abhängigkeit der Abgeordneten von ihren nationalen Parteiapparaten. Die Abgeordneten werden einer europäischen Partei zugeordnet, nicht einer Vielfalt von nationalen Parteien. Das Parlament gewinnt so an Legitimität.
6. Derselbe Wahlvorgang gilt für alle Abgeordneten. Die Homogenität des Parlaments bleibt sichergestellt.
7. Zuletzt dürfte diese Alternative zu transnationalen Listen auf weniger Widerstand im Rat stoßen: die nationalen Quoten bleiben erhalten und die Mitgliedstaaten behalten ihre Privilegien bei der Gestaltung des Wahlprozesses bei, mangels einer lang ersehnten Vereinbarung über die Vereinheitlichung des Wahlprozesses, die in den Verträgen vorgesehen ist. Tatsächlich darf man sie fragen, wie die Mitgliedstaaten den Vorschlag ablehnen könnten, dass bei europäischen Wahlen die Europäischen Parteien in der ersten Reihe stehen?
Und die Spitzenkandidaten?
Von den Zielen transnationaler Listen, kann nur eines nicht erreicht werden: die Institutionalisierung von Spitzenkandidaten bei der Europawahl. Im Lichte der Position, die die Juristen des Rates dazu eingenommen haben, wäre es jedoch besser, diese Frage getrennt zu behandeln und explizit zu diskutieren. Bis dahin hätten die Kandidaten für den Posten der Kommissionspräsidentin Zeit, sich zu profilieren, wie schon 2014 – mit dem uns bekannten Ergebnis. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Europawahlen nicht durch Wahlbezirke europäischer werden. Es hängt vielmehr davon ab, wer welche Nachricht an die Wählerin sendet. Mit dem langfristigen Ziel, eine transnationale, föderative Parteienlandschaft zu schaffen, muss es zunächst oberste Priorität genießen, die nationalen Parteien zu europäisieren, denn sie sind es, die am besten für eine lokale Repräsentation der Bürger auf europäischer Eben sorgen können. Bottom-up statt top-down – von unten nach oben gedacht, nicht von oben nach unten.
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