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Russkiy Mir - von einer kultureller Strategie zu einem imperialistischen Instrument

, von  Léa C. Glasmeyer

Russkiy Mir - von einer kultureller Strategie zu einem imperialistischen Instrument
Vladimir Putin in seiner Rede am 24.02.2022, in der er den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ankündigt. WikimediaCommons / Presidential Executive Office of Russia / Creative Commons Attribution 4.0

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine erfährt der russische Imperialismus in der Öffentlichkeit zusehends mehr Aufmerksamkeit. Das ideologische Konzept dahinter ist jedoch kaum bekannt: Russkiy Mir (Russische Welt). Zum 9. Mai, einem wichtigen, identitätsbildenden russischen Nationalfeiertag, an dem Russ*innen den „Tag des Sieges“ über Deutschland im Zweiten Weltkrieg feiern, lohnt sich ein Blick in die historische und ideologische Entwicklung von Russkiy Mir.

Jedes Jahr feiert Russland am 9. Mai den „Tag des Sieges“, den Sieg über das faschistische Deutschland 1945. Heute ist dieser Tag jedoch auch zu einer Zurschaustellung des russischen Imperialismusgedankens verkommen. Dieser Imperialismus zeigt sich in seiner aggressivsten Ausprägung seit dem 24. Februar 2022 in dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Auch andere Länder Osteuropas fühlen sich von Russland akut bedroht, weswegen sich ein Großteil der ehemaligen Sowjetrepubliken mit der Ukraine solidarisiert und deren Recht auf territoriale Integrität bekräftigt hat, ebenso wie die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution vom 23. Februar 2023. Es ist jene territoriale Integrität, die weiterhin für viele Spannungspunkte und Differenzen sorgt. Diese umfasst für Kyiv sowohl die Krim als auch den Donbass, also einen Status Quo Ante 2013, während andere Unterstützerstaaten der Ukraine bereit sind, diese beiden Gebiete Russland zu überlassen, insofern Friedensverhandlungen dadurch schneller erreichbar wären.

Bei dem auch am 9. Mai im Mittelpunkt stehenden russischen Imperialismus spielt insbesondere ein ideologisches Konzept eine wichtige Rolle: Russkiy Mir, das als Russische Welt, Russischer Frieden oder auch Russische Gemeinschaft übersetzt werden kann. Dieses mehrdeutige Konzept wurde in der Geschichte Russlands verwendet, um den kulturellen, politischen und sozialen Einfluss Russlands zu beschreiben. In den letzten Jahren hat er an Bedeutung gewonnen, da er von der russischen Regierung als Mittel zur Vereinigung von Russ*innen und russischsprachigen Menschen in der ganzen Welt gefördert wurde. Während Russkiy Mir als Legitimationsbasis der aggressiven Außenpolitik Russlands fungiert und essenziell ist, um die politischen Bestrebungen Russlands zu verstehen und so russische Informationen und politische Entscheidungen besser beurteilen zu können, ist das Konzept in Deutschland jedoch kaum bekannt.

Russkiy Mir – Zwischen sakralem Raum und Einheit des Volkes

Ursprünglich hat Russkiy Mir im 19. Jahrhundert als kulturelles Konzept seine Wurzeln in der russisch-orthodoxen Kirche, die bis heute eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Propagierung des Konzeptes spielt. Zunächst wird Russkiy Mir als sakraler Raum verstanden, in dem eine spirituelle und kulturelle Einheit aller ethnischen Russ*innen erstrebt wird. Unter diesem über Grenzen hinweg konzipierten Raum werden sowohl Russland, Belarus als auch die Ukraine gefasst – die sogenannte „Heilige Rus“. Dieser Raum russischer Orthodoxie geht mit der Entstehung der russischen Nationsbildung und einer imaginierten Volksgemeinschaft einher, die über soziale Gruppen hinwegsehen und durch eine neue Religiosität zusammengehalten werden soll. Gleichzeitig versteht sich diese neue Nation in Abgrenzung zum Rest Europas, vor dessen negativen Einflüssen die Volksgemeinschaft geschützt werden soll.

In den 1920er Jahren gewinnt gleichzeitig die eurasische Ideologie an Bedeutung, die sowohl als politische Antriebskraft als auch als Abgrenzungsideologie dient, da sie Eurasien als natürlich-geographische und kulturelle Einheit und als Gegenmodell zu westlichen Modernisierungsversuchen begreift. Slawophile, eine Gruppe russischer Intellektueller, beginnen zu argumentieren, die russische Kultur und Lebensweise sei einzigartig und der westlichen Kultur überlegen. Diese Idee gewinnt Anfang des 20. Jahrhunderts an Popularität, insbesondere nach der Russischen Revolution, als die Sowjetunion versucht, ihre kommunistische Ideologie in der ganzen Welt zu verbreiten. Dadurch wird Russkiy Mir zunehmend auch mit imperialistischen Tendenzen unterfüttert.

Auf der Suche nach einer russischen Identität

Die Schocktherapie der 1990er Jahre durch das Ende der Sowjetunion und der Einführung der Marktwirtschaft führt zu einer Wirtschaftskrise und dem Implodieren des sozialen Zusammenhalts. Russland muss sich als Staat neu erfinden, sodass Russkiy Mir als direkte Antwort auf die politischen Umbrüche benutzt wird. Unter dem ersten Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, wird eine Debatte zum Russischsein angestoßen. Der orthodoxe Glaube wird zur tragenden Säule, wobei er mit fluiden ideologischen Konzepten gepaart wird, sodass Russkiy Mir unterschiedliche Deutungen erhält und verschiedene Bevölkerungsgruppe umfassen kann – eine strategische Unschärfe, die Raum für die unterschiedlichen Besitzansprüche Russlands lässt.

Russkiy Mir wird fortan einerseits zu einem wichtigen politischen Soft-Power-Instrument, und andererseits von einem diasporischen zu einem imperialistischen Projekt umgedeutet. Ab Mitte der 2000er Jahre wird das Konzept zunehmend verstaatlicht und unter Putin schließlich Teil der politischen Sprache. Damit geht die Idee einher, dass Russland eine aktive Fürsorge- und Schutzpflicht für russischsprachige Menschen hat, die in einer Instrumentalisierung der völkerrechtlichen Responsibility to Protect Doktrin mündet. Unter dem Deckmantel der „Wahrung von Menschenrechten“ und des Schutzes jener russischsprachigen Bevölkerung werden Interventionen und Verletzungen territorialer Integrität sowie der globale Geltungsanspruch Russlands als Kultur- und Großmacht gerechtfertigt.

Russkiy Mir – Weiterhin starke kulturelle und ideologische Kraft…

Der Begriff wird gleichzeitig weiterhin zur Förderung der russischen Sprache und Kultur weltweit verwendet, etwa durch die Einrichtung russischer Sprachschulen und Kulturzentren auf der ganzen Welt. In diesem Sinne wurde auch 2007 die Stiftung Russkij Mir gegründet. Nach Ansicht der russischen Regierung müssen die „traditionellen Werte“ Russlands bewahrt werden, da sie für die „moralische Souveränität“ der russischen Welt stehen. Die russische Regierung fördert Russkiy Mir auch über die Medien, die eine alternative Perspektive zur westlich dominierten Medienlandschaft bieten, während sie russische Interessen fördern. Die kulturelle und intellektuelle Manipulation durch Desinformation und Propaganda ist dabei eine der wichtigsten Waffen im Arsenal des Kremls. Sie bietet der politischen Elite Russlands eine nationale Ideologie, die die Abkehr von internationalen Normen rechtfertigt und westliche Kritik an Russlands aktueller Politik zurückweist. Innerhalb Russlands wird dabei ein neuer Wertekonservatismus wiederbelebt, der auf einer christlich geprägten patriarchalen Herrschaftsform fußt. Diese konservative Gesellschaftstheorie soll sich nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb Russlands von westlichen Wertevorstellungen distanzieren, die als pervertiert und degeneriert dargestellt werden. Die Staatsideologie der Russischen Welt geht daher mit spezifisch russischen geistig-moralischen Werten einher, die insbesondere die Komponenten Orthodoxie, Autokratie und Volksverbundenheit umfassen. Mit Hilfe von Gesetzen, die jene „traditionellen Werte“ bewahren sollen, hat sich die russische Regierung insgesamt sowohl in der Region als auch weltweit als eine wichtige ideologische Kraft positioniert.

… und gleichzeitig Basis für aggressiven Imperialismus

Bereits der Krieg in Georgien im Jahr 2008 wird mit dem angeblichen Schutz vor westlichen Einflüssen legitimiert, gefolgt von der Krim, dessen völkerrechtswidrige Annexion 2014 Putin als „Wiedervereinigung“ präsentiert. Der pro-europäische Euro-Maidan, bei der für eine wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit der Europäischen Union gekämpft wird, wird von Putin als Angriff gegen Russland dargestellt. Mit der militärischen Invasion, so die Argumentation aus dem Kreml, soll der angeblich durch die ukrainische Regierung vorangetriebene „Völkermord“ der russischsprachigen Bevölkerung ein Ende nehmen. Mit der Invasion der Ukraine 2022 erfolgt schließlich der Wechsel von diskursiver Imperiums- und Nationsbildung zu politischen Zukunftserwartungen.

Die Aufteilung der Russischen Welt in unterschiedliche Nationen wird als historischer Fehler gewertet, den es durch die „Vereinigung russischer Länder“ im Sinne Peter des Großen zu korrigieren gilt. Russkiy Mir rechtfertigt demnach, dass die Ukraine ihre Eigenständigkeit verliert, und nach und nach Russland einverleibt wird. Charakteristisch bezeichnet Putin Russland in seinen Reden als ‚Vaterland‘ der Ukraine. Russkiy Mir stellt somit ein essenzielles ideologisches Instrument des Kremls dar, um dessen geopolitischen Ziele zu fördern und die Souveränität seiner Nachbarländer zu untergraben. Mit der Einverleibung der besetzten Gebiete im Süden der Ukraine könnte sich Putin darauf berufen, das „Neurussland“ von Katharina II. teilweise wiederhergestellt zu haben. Gleichzeitig würde Putin sich darin bestätigt fühlen, dass „bewaffnete Aggression sich auszahlt“, wie es der britische Historiker Timothy Garton Ash formulierte. Der Angriffskrieg auf die Ukraine könnte für Russland somit nur der Beginn einer umfassenderen, imperialistischen Strategie sein.

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