Im Juni 2018 haben Italien und Malte der Aquarius verweigert, an ihren Häfen anzulegen. Die Aquarius ist ein Rettungsschiff der französischen NGO SOS Méditerranée und hatte zu dem Zeitpunkt mehr als 600 gerettete Migrant*innen an Bord. Dies löste eine Reihe von Vorfällen aus, die dem gleichen Muster folgten. Schiffe mit geretteten Migrant*innen mussten Tage, manchmal sogar Wochen auf die Erlaubnis eines nahegelegenen Hafen warten, bis sie anlegen durften, da sich die europäischen Staaten nicht einigen konnten. Dies schürte die Abschreckungspolitik, für die sich die italienische Regierung engagierte, in dem sie sich für die Einschränkung von NGO Such- und Rettungsaktionen (SAR) im Mittelmeer einsetzte und eng mit dem libanesischen Regime zusammenarbeitete.
In dem Zusammenhang begannen Frachtschiffe ihre Pflicht zu ignorieren Menschen zu retten, da sie einen wirtschaftlichen Verlust fürchteten, wenn sie wochenlang auf der See feststecken würden. Die Operation Sophia, die einzige europäische Kontribution für Seenotrettung hat eine unsichere Zukunft. Letztes Jahr endete einer von 14 Rettungsversuchen tödlich, hinzu kommen 2.200 ertrunkene Migrant*innen. Dieses Jahr wurden bereits 200 Tote (Stand 07.02.2019) gezählt. Sea Watch 3, das letzte Rettungsschiff im Mittelmeerraum, durfte erst nach der Intervention vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anlegen.
Suche und Rettung im Mittelmeerraum – legale Grauzone?
Nach diesen Entwicklungen ist die öffentliche Aufmerksamkeit größer als je zuvor. Jedoch bleibt eine gewisse Unsicherheit bestehen bezüglich der Legalität von Rettungsaktionen, die nicht von der Regierung organisiert wurden und den Praktiken der europäischen Staaten. Normalerweise folgen wir alle dem Gesetz der Hilfeleistung, um Menschen in Not zu helfen – das ist auch ein fundamentaler Bestandteil des maritimen Gesetzes. Dies ist auch verpflichtend für jede*n Bootbesitzer*in, der*die mitbekommt, dass Menschen in Not sind aber auch für jeden Küstenstaat, jede Information zu benutzen, um selbst SAR Operationen einzuleiten oder die Aufgabe an Frachtschiffe in unmittelbarer Nähe weiterzuleiten.
Die Situation ist weniger offensichtlich, wenn man sich das Recht der europäischen Staaten anschaut den Frachtschiffen mit geretteten Migranten Einlass zu gewähren. Während das internationale Gesetz vorsieht, dass ein Schiff und dessen Insass*innen mit der jeweiligen Flagge auch unter dessen Rechtsprechung stehen,, zeigt die momentane Ausführung von europäischen Ländern eine gewisse Unsicherheit, wer verantwortlich für die Asylsuchenden ist. Im Fall von Diciotti wurde ein Schiff der italienischen Küstenwache für fast eine Woche von Italiens Innenminister Salvini aufgehalten und im Anschluss eine Investigation eröffnet wegen angeblichem illegalem Arrest.
Schließlich gibt es noch Befragungen zur italienischen Praxis der Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache. Aus rechtlicher Sicht hat Italien, auch wenn die betroffenen Migrant*innen niemals in italienisches Gebiet eingereist sind, bestimmte Verpflichtungen ihnen gegenüber. Laut Gesetz, wegen des libyschen Abkommen, kann Italien für mögliche Menschenrechtsverletzungen der libyschen Küstenwache haftbar gemacht werden. De facto weil nur Italien Informationen über Vorfälle von Migrant*innen-Frachtschiffen vorliegen und diese selektiv an Libyen weitergegeben werden, wodurch die Migrant*innen der libyschen Miliz ausgeliefert werden.
Indem Italien die Migrant*innen zwingt, nach Libyen zurückzukehren, verstößt Italien gegen zwei Prinzipien von Menschenrechtskonventionen, an die es gebunden ist, nämlich das Verbot der Kollektivausweisung und den Grundsatz der Nichtzurückweisung, welches die Rückkehr von Asylbewerber*innen in Staaten verbietet, in denen sie Folter oder unmenschliche Behandlung riskieren. Diese Umstände sind dennoch Teil des täglichen Lebens in libyschen Flüchtlingslagern.
NGO Seerettung – ein „Taxi für Migranten“?
Ein weiteres umstrittenes Thema ist die Rolle von NGO-Rettungsaktionen, die als „Pull-Faktor“ fungieren und weitere Migration aus Nordafrika fördern, da sie die Chancen auf eine erfolgreiche Reise erhöhen. Nicht jeder würde so weit gehen wie der stellvertretende italienische Premierminister Di Maio (Fünf-Sterne-Bewegung) und NGOs als „Taxi für Migrant*innen“ zu bezeichnen. Viele Menschen denken jedoch, dass nichtstaatliche Organisationen zumindest einen Teil der Verantwortung für die Zahl der Todesopfer von Migrant*innen auf See tragen, eine Annahme, die durch Zahlen bestätigt wird. Die Zahlen zeigen einen Rückgang der Flüchtlinge aus Libyen, während die SAR-Aktivitäten im Mittelmeerraum ebenfalls zurückgegangen sind.
Ein detaillierter Blick auf die Daten zeigt aber, dass das Vorhandensein von SAR-Maßnahmen nicht als Pull-Faktor haftbar gemacht werden kann, da die Anzahl der Migrationsübergänge zu sinken begann, bevor die SAR-Aktivitäten zurückgingen. In der Tat kann der Rückgang eher mit dem Beginn der Zusammenarbeit zwischen Italien und Libyen zurückzuführen sein, welche zu einer verstärkten Überwachung durch die libysche Küstenwache gegen den Schmuggel von Migrant*innen führte.
Wenn man sich die Daten noch genauer ansieht, können wir feststellen, dass die Zahl der irregulären Ankünfte über das Mittelmeer seit dem Beginn der Zusammenarbeit im Jahr 2017 zurückgegangen ist. Die absolute Sterblichkeitsrate ist jedoch seit Salvinis Amtsantritt beträchtlich angestiegen und er sich für die Abschreckung der Seerettung durch die NGOs einsetzt. Tatsächlich bedeutet dies, dass das Sterberisiko jetzt so hoch ist wie nie zuvor.
In öffentlichen Debatten ist es besonders wichtig, die tatsächlichen Fakten im Auge zu behalten, insbesondere wenn sie so emotional beladen sind, wie die zur Einwanderung. In diesem Fall zeigen sie uns, dass derzeit unbestreitbare gesetzliche Verpflichtungen der europäischen Staaten stetig verletzt werden. Die Rechtskonformität ist das Fundament der europäischen demokratischen Ordnung und sollte unter keinem Vorwand außer Acht gelassen werden.
Darüber hinaus erinnern uns die Fakten daran, dass NGOs nicht für die steigenden Sterberaten im Mittelmeer verantwortlich gemacht werden können, sondern vielmehr für das Fehlen ihrer lebensrettenden Aktivitäten. Schließlich ist die derzeitige Situation ein Beweis für die dringende Notwendigkeit, dass die Europäische Union eine dauerhafte gemeinsame Lösung für die Aufnahme von Asylbewerber*innen findet. Dieses reformierte Aufnahmesystem muss sich wirklich auf die Solidarität zwischen den europäischen Staaten stützen und vor allem das Recht der Migrant*innen auf Leben und menschliche Behandlung respektieren.
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