Ein neues Kapitel in den EU-Lateinamerika Beziehungen?

, von  Estefania Lawrance Crespo, Gonzalo Galván, José Ignacio Simó de Noriega, Marie Giebler, übersetzt von Moritz Hergl

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Ein neues Kapitel in den EU-Lateinamerika Beziehungen?
Beim EU-CELAC Gipfel im Juli 2023 in Brüssel: Ilan Goldfajn (ehem. Präsident der Brasiliansichen Zentralbank), Luiz Inácio Lula da Silva (Präsident, Brasilien), Ursula von der Leyen (Präsidentin der EU-Kommission), Pedro Sánchez (Präsident, Spanien), Sergio Díaz-Granados Guida (Präsident der CAF – Entwicklungsbank) Foto: flickr / Palácio do Planalto / CC BY 2.0 DEED / Background pictures: Canva Lizenz

Aus dem europäischen Winter sehnen sich viele ans Karibische Meer, träumen von einem Spaziergang im sonnigen Buenos Aires oder denken an die majestätischen Ruinenanlagen von Machu Picchu. Während die meisten Europäer*innen lateinamerikanische Länder gerne für einen Urlaub, ein Gap Year oder einen Freiwilligendienst besuchen, beherbergt der Kontinent aber auch viele europäische Unternehmen. Ausländische Direktinvestitionen kommen hauptsächlich aus den Niederlanden, Spanien, Italien und Deutschland, die in der Region sehr aktiv sind.

Ausländische Direktinvestitionen (ADIs) sind grenzüberschreitende Investitionen, bei denen ein in einer Volkswirtschaft ansässiger Investor ein dauerhaftes Interesse an einem Unternehmen in einer anderen Volkswirtschaft erwirbt und einen erheblichen Einfluss auf dieses ausübt. Einem Bericht der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) zufolge war die EU im Zeitraum von 2017 bis 2021 der größte Investor durch ADIs in Brasilien, Chile und Kolumbien (43 %, 44 % bzw. 30 % der Gesamtinvestitionen). Lediglich in Mexiko waren die ADIs aus den USA im gleichen Zeitraum bedeutender (41 % gegenüber 30 % aus der EU). Aufgrund der historischen Kolonialisierung hat Lateinamerika einen starken Einfluss durch europäische Einwanderer*innen und die Verbreitung gemeinsamer Glaubensvorstellungen erlebt. Doch was hat die beiden Kontinente neben den wirtschaftlichen Bindungen bisher davon abgehalten, politisch stärker zusammenzuarbeiten?

Die Wiederbelebung der politischen Kooperation

Am 17. und 18. Juli diesen Jahres trafen sich die Staats- und Regierungschef*innen Lateinamerikas und der Karibik, besser bekannt als CELAC, sowie die europäischen Kolleg*innen in Brüssel zum dritten EU-CELAC-Gipfel. Das Treffen markierte den Beginn der spanischen Ratspräsidentschaft, acht Jahre nach dem letzten gemeinsamen Treffen. Seit 2015 hatte es kein offizielles Gipfeltreffen zwischen den beiden Kontinenten mehr gegeben. Genau deshalb war es eines der Hauptziele der spanischen Ratspräsidentschaft, die bilateralen Beziehungen wieder aufzunehmen. Auf dem Juli-Gipfel kam neuer Schwung in mehrere Themen, die lange Zeit stagniert hatten, darunter Handelsfragen und die Schlussfolgerungen eines EU-Mercosur-Abkommens, die Überarbeitung der Nord-Süd-Kooperationsagenda sowie ein gemeinsamer Ansatz zu den jüngsten geopolitischen Entwicklungen.

Seit dem letzten Gipfeltreffen in Brüssel hat sich diese diplomatische Pattsituation nun grundlegend geändert. José Antonio Sanahuja, Leiter der Fundación Carolina und Experte für die Zusammenarbeit zwischen der EU und Lateinamerika, hat mit uns über die Aufnahme eines neuen Dialogs zwischen den Staats- und Regierungschef*innen gesprochen. Er betont, wie wichtig es sei, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und das Potenzial für eine neue Zusammenarbeit zwischen der EU und der CELAC in einer sich verändernden globalen Welt zu überarbeiten.

Rückblick

Der dritte EU-CELAC-Gipfel hätte bereits im Oktober 2017 stattfinden sollen, doch die politische Krise in Venezuela versetzte damals die lateinamerikanische Region in Aufruhr. Die unterschiedlichen Positionen zwischen der EU und vielen lateinamerikanischen Ländern in dieser Frage führten schließlich zur Absage des Gipfels. Weitere Probleme waren die politischen Spaltungen und die Polarisierung zwischen verschiedenen lateinamerikanischen Staaten. Auch der Rückzug wichtiger Akteure wie Mexiko und Brasilien aus der internationalen Kooperation machten die Lage kompliziert: der brasilianische Ex-Präsident Jair Bolsonaro trat beispielsweise im Jahr 2020 aus dem MERCOSUR-Bündnis aus. Und auch die Auswirkungen der COVID19-Pandemie, die die Fähigkeit der Region zu einem konstruktiven Dialog beeinträchtigten, spielten eine Rolle. Auf lateinamerikanischer Seite gibt es Komplikationen bei der regionalen Integration in der Region und Schwierigkeiten, gemeinsame Standpunkte zu politischen Aspekten zu finden. Laut José Antonio Sanahuja, sind auf europäischer Seite die Schwierigkeiten vor allem auf das Fehlen einer gemeinsamen Strategie für die Region und das geringe Verständnis für Vielfalt und Komplexität der Region zurückzuführen. In der Globalen Sicherheitsstrategie der EU von 2016 wurde Lateinamerika nur ein untergeordneter Platz in den außenpolitischen Prioritäten der EU eingeräumt, was als schwerer politischer Fehler angesehen werden kann. Infolge der strategischen Konzentration der EU auf Osteuropa und Nordafrika erhielt Lateinamerika folglich weniger Aufmerksamkeit und somit auch weniger finanzielle Mittel.

Warum hat sich die EU jetzt Lateinamerika zugewandt?

Die COVID-19-Krise und der Krieg in der Ukraine haben die Wirtschaft der Region und damit das Leben der Einwohner*innen beeinträchtigt. Für José Antonio Sanahuja liegt die Motivation für das erneute Engagement Lateinamerikas mit Europa in dem gemeinsamen Ziel einer offenen strategischen Autonomie, auch um die geopolitische Konfrontation zwischen den USA und China zu überwinden. Außerdem müssen beide Kontinente den dreifachen Wandel bewältigen: sozioökonomisch, digital und ökologisch. Viele lateinamerikanische Länder hätten ein Interesse daran, mehr ausländische Direktinvestitionen in die Region zu holen, sagte er. China ist für die meisten Länder der wichtigste Handelspartner, aber die USA und Europa liegen dicht dahinter. Es liegt daher im Interesse vieler Länder, die Abhängigkeit von China zu verringern, indem sie ihre Handelsbeziehungen diversifizieren. Mit anderen Worten: Viele lateinamerikanische Länder sind auf der Suche nach einer Alternative zu China.

Der Klimawandel und die gefährlichen Auswirkungen auf den Kontinent spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Global-Gateway-Strategie der EU könnte zu Investitionen in die Infrastruktur führen, auch in Bezug auf Projekte der Energiewende, die lateinamerikanische Länder wohl nicht allein erreichen könnten. Der von der EU versprochene technologische Austausch ist besonders wichtig. China hat zwar zahlreiche Fonds und Projekte in der Region aufgelegt, wie z. B. das Wasserkraftwerk Coca Codo Sinclair in Ecuador, doch hat dies die Abhängigkeiten weiter verstärkt und zu einem Mangel an technologischem Wissen geführt. Der Coca Codo Sinclair Bau wies schon nach kurzer Zeit Risse im Beton auf und es gab Probleme mit Ersatzteilen.

Was jedoch derzeit zu Konflikten führt, ist die Forderung der EU nach Einhaltung von Umweltauflagen und mögliche Sanktionen im Falle der Nichteinhaltung dieser Auflagen. Der brasilianische Präsident Lula kritisierte, dass die bilateralen strategischen Partner von gegenseitigem Vertrauen und nicht von Misstrauen und Sanktionen geprägt sein sollten. Der paraguayische Präsident Peña erklärte gegenüber der argentinischen Wirtschaftszeitung Ambito Financiero, er gehe so weit, dass er die Überwachung von Behörden in Frage stelle: Dies bedeute einen Souveränitätsverlust, der für ihn praktisch nicht hinnehmbar sei.

Alle Länder sehen sich gezwungen, die Energiewende voranzutreiben. Zum einen, um potenzielle Absatzmärkte für grünen Wasserstoff und Lithium zu erschließen, zum anderen, um dessen nachhaltige Entwicklung zu finanzieren und die Produktivität überhaupt erst zu steigern. Viele Länder, darunter auch Bolivien und Ecuador, benötigen aber zunächst den technologischen und rechtlichen Rahmen, um grüne Potenziale nutzen zu können. Dementsprechend ist eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und die Förderung der nationalen Produktion von Rohstoffen anstelle des einfachen Exports von großem Interesse.

Der Abschluss der Handelsabkommen zwischen den Mercosur-Staaten und der EU oder auch zwischen Mexiko und der EU ist daher von großer Bedeutung. Es lag im Interesse von Brasiliens Präsident Lula, ersteres zu unterzeichnen, bevor die vorübergehende Präsidentschaft Brasiliens im Mercosur im Dezember 2023 ausläuft. Denn die politischen Veränderungen innerhalb des Kontinents - wir blicken mit Nachdruck auf Argentinien, Venezuela oder Kuba - könnten sie in Frage stellen. Nun ist es Dezember und es wurde kein Abkommen erzielt, ein Ergebnis, über das viele Umweltgruppen und Menschenrechtsorganisationen erleichtert waren, da sie kritisierten, dass das Wirtschaftsabkommen nur den Interessen der Unternehmen diene.

Die nächsten Schritte in den EU-CELAC Beziehungen

Auch wenn eine Stärkung der Beziehungen zwischen der EU und der CELAC aus der Ferne wie eine Win-Win-Situation aussehen mag, ist sie keineswegs so einfach: Während in Europa Uneinigkeit über das Handelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur und den damit verbundenen langwierigen Abstimmungsprozess herrscht, gibt es auch in Lateinamerika unterschiedliche Auffassungen. Insbesondere ist die Zukunft des Mercosur durch die Wahl und Einsetzung von Javier Milei als Präsident in Argentinien gefährdet. Die argentinische Außenministerin Diana Mondino versicherte jedoch gegenüber der Zeitung Ambito, dass die neue Regierung das Abkommen nicht ablehnen werde, obwohl es seit Beginn der Wahl Widersprüche gegeben habe.

Die andere Schwierigkeit liegt in der Gestaltung der europäischen Global Gateway Strategie als Instrument der Entwicklungszusammenarbeit. Wie die Carolina-Stiftung betont, ist es wichtig, dass die Zusammenarbeit horizontaler ist und auf eine Dreiecks- oder Süd-Süd-Kooperation abzielt. Gleichzeitig sind die EU-Projekte für viele der Länder nicht klar definiert und die Art und Weise ihrer Finanzierung ist unbekannt. Es gibt jedoch Stimmen in Lateinamerika, wie die Fundacion Milenio in Bolivien, die von ihren Regierungen fordern, Projekte auf den Tisch zu legen: von mehr als 130 Global Gateway-Projekten sei in Bolivien kein einziges geplant.

Während Chile und die EU am 13. Dezember ein Rahmenabkommen und ein Interimshandelsabkommen unterzeichneten, um die politische Zusammenarbeit zu stärken und Handel und Investitionen zu fördern, wird der nächste biregionale CELAC-EU-Gipfel wohl erst 2025 in Kolumbien stattfinden. Es bleibt zu hoffen, dass die EU-Kommission mit ihrer Behauptung Recht hat: „In den vergangenen Monaten wurden erhebliche Fortschritte erzielt“. Zumindest reden sie wieder miteinander.

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Newsroom Europa", das junge Europäer aus drei EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Schweden und Spanien) in kritischer und aufgeschlossener Medienberichterstattung und zur Funktionsweise der europäischen Entscheidungsfindung schult. Das Projekt wird gemeinsam von der Europäischen Akademie Berlin e.V. durchgeführt Nationalmuseen für Weltkultur Schweden und der Friedrich-Naumann-Stiftung Spanien und wird auch von der Europäischen Union kofinanziert.



Förderer des Projekts „Newsroom Europe“


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