Übersetzung

Die Pro-europäische Haltung der georgischen Jugend: Ideale, Frust und die ‘europäische Identität’

, von  Élise Maréchal, übersetzt von Marlene Massen

Alle Fassungen dieses Artikels: [Deutsch] [English]

Die Pro-europäische Haltung der georgischen Jugend: Ideale, Frust und die ‘europäische Identität'
Eine Demonstrantin während der Proteste gegen ein geplantes Mediengesetz in Tiflis Anfang März 2023 Foto: Erekle Poladishvili, Georgia Today. All rights reserved.

Ein Großteil der georgischen Jugend identifiziert sich mit der Europäischen Union (EU) und hofft auf einen baldigen Beitritt Georgiens. Was steckt hinter dieser pro-europäischen Haltung?

Da ich in Tiflis wohne, hatte ich die Möglichkeit mit jungen Georgierinnen über ihre Meinung zu Georgien und der Europäischen Union zu sprechen. Dieser Artikel basiert auf diesen Gesprächen, Interviews und Diskussionen.

Georgien als europäisches Land

Die Grenzen des europäischen Kontinents definieren sich nicht durch tektonische Platten, weshalb keine natürliche Abgrenzung zu Asien existiert. Wo genau die Grenze zu Asien verläuft, ist darum weiterhin Gegenstand vieler Diskussionen und ein Konflikt, der politische Bedeutung hat. Europa besteht aus einem geografischen Staatenbündnis, das auf dem kollektiven Willen zur Einheit beruht und zum Aufbau der Europäischen Union geführt hat. Daher ist es allgemein akzeptiert, dass Europa ebenso eine kulturelle, ethnische und historische Realität bildet, wie auch eine politische, die auf gemeinsame Ziele und Werte setzt.

Die EU erkennt Georgien als osteuropäisches Land an. Dennoch gibt es auf die Frage der kulturellen und geografischen Zuordnung Georgiens keine eindeutige Antwort. Georgien liegt im eurasischen Südkaukasus, weshalb manche meinen, Georgien sei Teil von Europa. Andere behaupten, das Land liege in Asien, da der Ural im Westen Russlands und der Kaukasus im oberen Norden Georgiens die europäische Grenze darstellen, was das Land ausschließen würde. Sicher ist, dass der Kaukasus als geografisches und kulturelles Gebiet zwischen Europa und Asien liegt.

Das Gefühl der europäischen Zugehörigkeit

Viele junge Georgier*innen fühlen sich ‘europäisch’. Dies zeigt, dass Europa mehr als eine geografische Einheit verspricht. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass zwei Drittel der georgischen Jugend im Alter von 14-29 Jahren der Meinung sind, Georgien sei ein europäisches Land. Tatsächlich existiert das Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa und der ‘europäischen Kultur’ historisch schon länger, besonders im Vergleich zu den Nachbarstaaten Armenien und Azerbaidschan, welche aus georgischer Sicht eher von türkischer und persischer Kultur geprägt sind. Vor allem das Christentum beeinflusst dieses Gefühl der kulturellen und identitären Verbundenheit maßgeblich, ganz im Gegensatz zum Islam, welcher eher in südlichen Nachbarstaaten praktiziert wird.

Laut manchen Gesprächspartner*innen orientiere sich Georgien seit Jahrzehnten stark am Vorbild der europäischen Staaten. Um das zu untermauern, erwähnen zwei Georgier den Besuch des georgischen Prinzen und Diplomaten Sulkhan-Saba Orbeliani am Hof des französischen König Ludwig XIV. zu Beginn des 18. Jahrhunderts, bei dem um Unterstützung im Umgang mit dem Persischen Reich gebeten wurde. Unter Student*innen hat der Ausdruck “Ich bin Georgier und daher Europäer” an Beliebtheit gewonnen, ein Ausdruck, den der ehemalige Premierminister Zurab Zhvania 1999 im Europarat verwendete. Dieser Ausdruck wurde zum Beispiel im Juni 2022 während der pro-europäischen Kundgebungen zum EU-Beitritt Georgiens häufig verwendet. Tatsächlich erzählen mir viele junge Georgier*innen, dass sie europäische Werte teilen, wie zum Beispiel Demokratie und individuelle Freiheit, welche eng mit dem Konzept der nationalen Souveränität verbunden sind. Allerdings haben auch einige auf entscheidende kulturelle Unterschiede hingewiesen.

Hinter der pro-europäischen Haltung: wirtschaftliche Entwicklung und wahre Demokratisierung

Sich ‘europäisch’ zu fühlen, legitimiert für viele den Status Georgiens als möglichen EU-Beitrittskandidaten. Das Thema mobilisiert die Jugend, welche die Politik der regierenden Partei ‘Georgischer Traum’ in den letzten Jahren kritisch gesehen hat, da sie nicht genug für die Erfüllung der europäischen Beitrittskriterien tue. Besonders der sich verschlechternde Zustand der Demokratie, eine Entwicklung, die sich durch zunehmende Korruption, Nepotismus in ranghohen Positionen und Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit bemerkbar macht, wird mit Besorgnis beobachtet. Die georgische Jugend steht der Partei ‘Georgischer Traum’ insgesamt kritisch gegenüber. Die meisten von ihnen pflegen ein positives Bild der EU, da sie diese mit dem Schutz von Menschenrechten, der Freiheit des Einzelnen und öffentlicher Transparenz assoziieren. Im selben Zug haben viele Vertrauen in die nationalen und öffentlichen Institutionen verloren. Das Drängen auf echte Demokratisierungsbemühungen ist einer der Hauptgründe, weshalb sich die georgische Jugend für die europäische Integration ihres Landes einsetzt. Darüber hinaus wird die EU mit wirtschaftlichem Fortschritt und beruflicher Beschäftigung assoziiert, welche in Georgien nur als begrenzt vorhanden wahrgenommen werden.

Europäische Länder sind wirtschaftlich wohlhabender und bieten verstärkt Möglichkeiten, die eigenen akademischen und beruflichen Ziele zu verfolgen. Ein georgisches Mädchen erzählt mir beispielsweise, dass in ihrer Heimatstadt Batumi der Nepotismus ihren beruflichen Ambitionen Grenzen setze. Daher sehen die Jugendlichen einen EU-Beitritt als Chance, die wirtschaftliche Entwicklung Georgiens anzukurbeln.

Mit dieser Hoffnung geht auch eine gewisse Idealisierung der EU einher. Das Wissen um die innereuropäischen Herausforderungen, beispielsweise die massive Energieabhängigkeit oder der Dissens über eine europäische Verteidigung, die Steuer- und Haushaltsvorschriften, die Außenpolitik und den Föderalismus, ist begrenzt. Dennoch erwähnen einige die Probleme der EU im Umgang mit illegaler Einwanderung, dem Zerfall der Demokratie in Ungarn und Polen und der wirtschaftlichen Stagnation.

Meiner Meinung nach wird diese besonders pro-europäische Haltung durch die Ablehnung des illiberalen und autoritären Einflusses Russlands im Land angetrieben, dessen Annahme die Jugend der Regierung regelmäßig vorwirft.

Anerkannte, kulturelle Unterschiede

Die Georgier*innen, mit denen ich sprechen durfte, erzählen mir ebenfalls von den Unterschieden zwischen georgischer und ‘europäischer Kultur’ und Tradition. Europa werde in Bezug auf tägliche Bräuche und Lebensweise als moderner wahrgenommen. Außerdem betonen sie die zentrale Rolle des orthodoxen Konservatismus im georgischen Alltag, wohingegen Europa weitaus säkularer wahrgenommen werde. Besonders hervorgehoben wurden die Wichtigkeit der Familie und die begleitende traditionelle Rollenverteilung von Mann und Frau in Georgien. Zum Beispiel sei es vor allem in ländlichen Regionen üblich, früh zu heiraten.

Obwohl der Konservativismus besonders bei Jugendlichen aus der Hauptstadt Tiflis mit einem gewissen Bildungsgrad an Anhängern verloren hat, prägen diese traditionellen Sentiments weiterhin den Alltag vieler. Laut der oben bereits erwähnten Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung, empfinden 88% der Befragten Familienwerte wie Kinderkriegen und 77% Heiraten ziemlich oder sehr wichtig. Eine 23-jährige Frau meint zu mir, sie fühle sich im Vergleich zu ihren Freunden ‘europäisch’, da diese alle bereits verlobt oder Eltern geworden seien, während sie sich auf ihre berufliche Karriere fokussiere. Dies verkörpere für sie eine modernere Haltung. Außerdem weist sie auf die Situation der Frauen in Dörfern hin, welche traditionell die gesamte Care-Arbeit erledigen. Zusätzlich seien die Rechte und der Respekt für die LGBTQ+ Gemeinschaft aufgrund der zentralen, gesellschaftlichen Rolle der Religion ein kontroverses Thema. In kritischer Ablehnung sieht die georgische Jugend sowohl die queere Gemeinschaft als auch die russische Gemeinschaft und Drogenabhängige. 74% sind der Meinung, die queere Gemeinschaft solle ‘niemals Straßenparaden abhalten’. Diese Einstellung erweist sich als stark abhängig vom Wohnort und dem Bildungsgrad der Befragten. Es scheint, dass die leidenschaftlichsten Verfechter der modernen, europäischen Werte einen höheren Bildungsgrad aufweisen.

Folglich könnte man meinen, die Identifikation vieler Jugendlicher mit der EU sei paradox, da sie weiterhin wertkonservativ, traditionell und weniger säkular leben. Darin spiegelt sich die Idealisierung der EU. Allerdings existiert eine einheitliche ‘europäische Kultur’ tatsächlich nicht, was an der Dichotomie zwischen konservativen und liberalen Mitgliedstaaten deutlich wird.

Fazit

Die Identifikation mit europäischen Werten wie Demokratie, individuelle Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, politische Transparenz und Menschenrechte erzeugt ein Gefühl der ‘europäischen’ Identität unter Jugendlichen, welche die illiberale Politik der Regierungspartei im eigenen Land ablehnen. Durch einen EU-Beitritt hoffen sie auf wirtschaftlichen Fortschritt, wie er in baltischen und osteuropäischen Ländern stattgefunden hat. Allerdings ist ihnen ebenso bewusst, dass ein ernsthafter Beitritt erst nach wesentlicher nationaler Reform in Erwägung gezogen werden kann. Jugendliche, insbesondere Studierende, leiden auf Grund von schwacher wirtschaftlicher Entwicklung unter mangelnden Berufschancen, weshalb viele Georgien verlassen und in Länder wie Deutschland oder Frankreich ziehen. Momentan hegen viele die Meinung, der ‘europäische’ Lebensstil sei dem von Konservatismus geprägten Georgischen zu verschieden. Im Endeffekt existiert eine ‘europäische’ Kultur nicht- manche Mitgliedstaaten sind konservativer, während andere liberaler sind.

Schlagwörter
Ihr Kommentar
Vorgeschaltete Moderation

Achtung, Ihre Nachricht wird erst nach vorheriger Prüfung freigegeben.

Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom