Die Beziehungen zwischen der EU und Russland sind seit Ende 2013 besonders angespannt. Statt Verhandlungen zu einer friedlichen Lösung des Ukrainekonflikts setzt man nun beiderseits auf Sanktionen. Der Ausschluss Russlands von internationalen Verhandlungen verhindert die Lösung weiterer Krisen wie des Syrienkonflikts.
Russland wird in Europa und generell im Westen als eine expansionistische, autoritäre und rachsüchtige Macht dargestellt, deren Demokratisierung hoffnungslos sei und die gar versuche, die Sowjetunion wiederaufzubauen. Diese Sicht der Dinge begründet sich auf Denk- und Darstellungsweisen aus der Zeit des Kalten Krieges. In Wahrheit ist sie obsolet: zu behaupten, Wladimir Putin versuche zur UdSSR zurückzukehren, ist absurd, genauso wie Angela Merkel der EU keine deutsche Führung aufzudrängen versucht. Das Hauptproblem ist vielmehr das totale Unverständnis des Westens gegenüber Russland, seinen Interessen und Bedenken. Als Putin 2014 erläuterte, Russland sei vom Westen „geplündert“ geworden, hätte man vielleicht eher zuhören müssen, um herauszufinden, was er mit dieser Aussage hätte meinen können.
Zwei Weltsichten
Um die russischen Ansichten zu verstehen, muss man auf das Ende des Kalten Kriegs zurückkommen. Im Westen wie ein Sieg gefeiert, war es für den Ostblock das „Ende der Geschichte", allgemein dargestellt als eine Niederlage der Sowjetunion. Dem politisch, wirtschaftlich, militärisch und vor allem ideologisch geschwächten Russland fehlte es an Kraft, sich dem siegreichen Westen entgegenzusetzen. Die europäischen Werte der Demokratie, des Rechtsstaats, der Menschenrechte konnten sich plötzlich auf alle Völker ausbreiten, mit der Annahme, alle würden glücklicher, wenn sie das westliche Modell nachlebten und sich von Unterdrückern befreiten. Auf dem Kontinent äußerte sich dies durch die kontinuierliche Erweiterung der NATO sowie der EU, angesehen als für alle Bürger vorteilhafte Region des Friedens und der Demokratie. In der Tat hat Russland diese Werte akzeptiert, insbesondere mit der Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1996, mit der es Mitglied des Europarats wurde.
In Russland jedoch wurde die Geschichte anders geschrieben. Denn dass der Kalte Krieg ohne Gefechte zu Ende ging, ist auch der Politik Michael Gorbatschows zu verdanken. Eine verhinderte nukleare Konfrontation ist in der Tat für alle ein Sieg, die Russen einbegriffen.
Doch warum wird die Militärmacht Russland plötzlich ignoriert, etwa im Kosovo, Irak oder Libyen? Die NATO, historisch anti-russisch, breitet sich bis zu den Grenzen des Landes aus. Das internationale System hat sich grundlegend verändert: immer mehr „humanitäre“ Interventionen mit eigentlich interessengeleiteten Zielen verachten den grundlegenden Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen: die Souveränität der Staaten und ihre Verantwortung für innere Angelegenheiten. Vom russischen Gesichtspunkt aus wurde über keine dieser Interventionen gemeinsam beschieden, denn wie bei der Konferenz von Jalta benutzen die westlichen Staaten das internationale Recht und ihre sogenannten universellen Werte, um ihre Einflusssphäre zu vergrößern. Die russische Empörung angesichts von „Farbenrevolutionen“, unsanktionierter UNO-Interventionen, der konstanten Kritik des Westens an Putins Führung und der Anzweiflung der Wahlen im Land ist gewachsen. Die Verteufelung Russlands, die von westlichen Politikern und Medien betrieben wird, ist ein Grund für Russlands fortschreitende Abkehr von seinen westeuropäischen Partnern.
Schwarz-Weiß-Malerei ist unangebracht
Durch diese Art von Kritik und durch das Verweigern der Legitimität Moskaus im Rang der Großmächte wird Russland seine Identität verweigert. Eine einzigartige Identität sicher, aber eine, die zu Europa und seiner Diversität gehört. Ideen, Normen und Werte sind sicher unterschiedlich, aber keineswegs den westeuropäischen unterlegen. So mancher Russe bedauert, dass 1991 ein Europa rund um Brüssel beschlossen wurde, anstatt ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok, dass sich um mehrere gleichberechtigte Pole konstruieren würde. Die Antwort Russlands auf dieses Manko äußert sich, angesichts einer ertragreichen Öl- und Gaswirtschaft, in der Verteidigung dessen, was als Einflusssphäre bleibt, und Versuchen, die westliche Herrschaft zu konterkarieren. Putin versucht zudem sein Regime vor westlichen Putsch- oder Stürzungsversuchen (und im Extremfall der Tötung, siehe Gaddafi) zu schützen und stemmt sich gegen den westeuropäischen Wertekodex, den er als Instrument der Realpolitik ansieht.
Sicher ist Russland mit der Verschiebung seiner nationalen Grenzen zu weit gegangen. Doch Schwarz-Weiß-Malerei ist hier unangebracht, hat doch Westeuropa Serbien bombardiert, aber die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt. Die verbale und politische Eskalation in der Form von Sanktionen führt nirgendwo hin. Russland hat in der Tat schlimmeres als wirtschaftliche Sanktionen erlebt. Heute braucht es ein neues Jalta: ein gemeinsames Abkommen zur Sicherheit des Kontinents. Denn ohne Russland kann das restliche Europa kaum die Probleme regeln, mit denen es heute zu kämpfen hat: über Terrorismus, Klimawandel, den syrischen Bürgerkrieg und Drogenhandel. Russland muss in eine pan-europäische Struktur integriert werden, einer gestärkten OSZE zum Beispiel, in der das Land eine vollwertige Partnerrolle einnimmt, oder auch durch eine Reintegration in die Entscheidungszirkel des Europarats. Auch durch Austausch der Zivilgesellschaften, zum Beispiel durch Abschaffung der Visumspflicht, und durch Stärkung der Erasmus Mundus Kooperation kann der Verteufelung Russlands, so unperfekt sein Regime auch sein möge, ein Ende bereitet werden. Nur wenn Russland den Glauben an die europäischen Werte wiedererlangt, wird die Außenpolitik des Landes entsprechend neu ausgerichtet werden.
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