Das Boot füllt sich langsam mit Wasser. Es wird immer weiter ins Meer gezogen, bietet keinen Halt mehr. Verzweifelt klammern sich die Menschen daran fest – wollen nicht wahr haben, dass ihnen dasselbe passiert wie schon Hunderten zuvor. Sie sind auf der Flucht vor Krieg und Elend, auf der Suche nach Schutz in Europa. Doch vierzig Meilen von Libyen entfernt beginnt das Boot zu kentern und sinkt. Es ist der 13. Mai 2014 als die Leichen aus dem Meer geborgen werden, viele werden vermisst – und die Europäische Union schaut weg.
Seit Monaten wird die EU von der italienischen Regierung angefleht, die Marineoperation Mare Nostrum zur Sichtung und Rettung von Flüchtlingen finanziell zu unterstützen. Am 13. Mai konnte die italienische Marine 206 Menschen retten, doch das Projekt ist auf lange Sicht zu kostspielig für das Land. Bei der Bergung von Flüchtlingen ist Italien – wie viele andere EU-Mitgliedstaaten – auf sich alleine gestellt. Mare Nostrum ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, auch wenn das Projekt umstritten ist. Italiens Ziel scheint es hauptsächlich zu sein, den Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer einzudämmen. Die Rettung von Schiffbrüchigen ist dabei nur ein Nebeneffekt. Doch genau solche Marineoperationen braucht die EU, wenn auch mit richtig gesetzten Prioritäten.
Den Kurs ändern
Mare Nostrum zeigt, dass an die Migrationsproblematik eine andere Herangehensweise als die abgeschottete und unterkühlte Praxis der EU möglich ist. Um mehr Menschen eine sichere Flucht nach Europa zu ermöglichen, ist die EU dringend gefordert. Politisch gesehen scheint die Zeit dafür perfekt, endet doch das Stockholmer Programm Ende dieses Jahres. Danach muss ein neuer Mehrjahresplan her. Das Stockholmer Programm hat bisher die Leitlinien der Bereiche Inneres und Justiz innerhalb der EU festgelegt, unter die auch die Felder Migration und Asyl fallen.
Ein Hauptziel sollte nun sein, das Dublin-Verfahren zu überdenken. Dieses legt unter anderem fest, dass der Asylantrag in dem Land gestellt werden muss, wo der Flüchtling zuerst den Boden der Europäischen Union betreten hat. Dadurch sind automatisch Mittelmeer- oder Grenzstaaten am stärksten betroffen. Eine faire Verteilung der Aufnahmen ist notwendig, um den Druck von stark belasteten Ländern, wie Italien oder Griechenland, zu nehmen. Zusätzlich sollten die EU-Länder Asylbewerber nicht mehr in Drittstaaten rücküberführen, wenn in diesen kein stabiler Rechtsstaat und somit keine Sicherheit für die Flüchtlinge garantiert ist.
Schutz anstatt Blockade
Einer der am stärksten vertretenen Forderungen an die EU ist der Ausbau der Such- und Rettungsmaßnahmen, um die Zahl der Todesopfer zu verringern. Es müssen dringend sichere Einreisewege nach Europa geschaffen werden. Humanitäre Aufnahmeprogramme und eine verstärkte Ansiedlungen der Flüchtlinge in den Aufnahmeländern könnten einiges verändern. Für diese Verbesserungen ist eine Umverteilung der Gelder notwendig – weg vom Ausbau der Grenzkontrollen, hin zur Rettung und Aufnahme der Migranten. Bisher ist in diese Richtung nicht viel geschehen. Die Metapher „Festung Europa“ scheint Realität zu werden – anstatt den Flüchtlingen Schutz zu bieten, schottet sich die EU weiter ab - Zäune werden ausgebaut, Grenzschutzkontrollen verstärkt. Rund zwei Billionen Euro investierte die EU zwischen 2007 und 2013 in Grenzschutzmaßnahmen. Zum Vergleich: gerade einmal 700 Millionen Euro - 17 Prozent der Gesamtausgaben – flossen in die Verbesserung der Lebensumstände der Flüchtlinge.
Besonders deutlich wird das Vorgehen der europäischen Politiker an den Grenzen Bulgariens und Griechenlands zur Türkei: Flüchtlinge berichteten Amnesty International, Human Rights Watch und dem bulgarischen Flüchtlingsverein Bordermonitoring Bulgaria, dass sie an der Grenze von Grenzpatrouillen mit Gewalt zurück in die Türkei gedrängt wurden. Von solchen Push-Backs berichten Betroffene immer öfter, eine Chance auf Asyl bleibt ihnen dabei komplett verwehrt. Von ähnlich brutalen Methoden berichten auch Flüchtlinge in Griechenland, an dessen türkisch-griechischen Grenze auf Flüchtlinge mit scharfer Munition gefeuert wurde. Weiter wurden in Spanien Boote mit illegalen Migranten von den Grenzkontrolleuren mit Gummigeschossen beschossen – mehrere Menschen ertranken.
Einzelfälle, welche die Brutalität der europäischen Migrationspolitik verdeutlichen und die in einigen Ländern zur Routine gehören. Betrachtet man beispielsweise die finanzielle Unterstützung der EU an Bulgarien, so lässt sich hier der gleiche Trend feststellen: Vertreibung anstatt Schutz. Über 13 Millionen Euro stellte die Union der bulgarischen Regierung für Grenzschutzmaßnahmen und den Bau eines 30 Kilometer langen Zaunes an der Grenze zur Türkei zur Verfügung. Lediglich 750 000 Euro wurden in die Verbesserung der Aufnahmebedingungen und des Asylverfahrens investiert.
Umdenken und Handeln
Grundsätzlich muss eine Umverteilung der EU-Finanzen stattfinden. Ein anderer Weg sollte eingeschlagen werden, bei dem Schutz die oberste Priorität hat. So wie die spanische Regierung den Einsatz von Gummigeschossen nach den Todesfällen verboten hat, so sollten alle Länder ihre Maßnahmen überdenken und das Vorgehen der Grenzpatrouillen aktiv überwachen. Der neue Mehrjahresplan bietet die Möglichkeit, all dies umzusetzen und verbindlich festzulegen. Auch ist es sinnvoll, die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu beobachten und zu untersuchen. Durch gut eingesetzte Entwicklungshilfe lässt sich das Problem der Flüchtlingsströme an den Brennpunkten bekämpfen, ohne dass die Menschen die gefährliche Flucht antreten müssen. Eines bleibt zu hoffen, wenn sie es doch bis nach Europa schaffen: Dass sie zukünftig keine Festung, sondern eine Union erwartet, die den Friedensnobelpreis verdient hat.
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