Zu einer ausgewogenen Berichterstattung gehört auch immer die Beleuchtung der negativen Seiten einer politischen Reform. Bei der Suche nach negativen Aspekten der offiziellen Einführung des Europäischen Binnenmarktes stieß die Tagesschau vom 01. Januar 1993 jedoch ‚nur‘ auf die Entlassung weniger deutscher Zollbeamte an der deutsch-französischen Grenze. Diese Anekdote illustriert möglicherweise sehr gut, wie unumstritten die Einführung des Binnenmarkts war – und bis heute ist. Der 01. Januar 1993 und damit die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts in der Europäischen Union gilt heutzutage nicht ohne Grund als einer der wichtigsten Schritte in der Geschichte der europäischen Integration. Die Europäische Gemeinschaft schuf damit den integriertesten Wirtschaftsmarkt der Welt. Schon damals wurde die Bedeutung des Binnenmarkts nicht unterschätzt: Mit großen Feierlichkeiten inklusive Feuerwerk wurden in Brüssel, an der deutsch-französischen Grenze und auch in London die Etablierung des Binnenmarkts gefeiert. Zentraler Aspekt des Binnenmarktes war die Ermöglichung der vier Grundfreiheiten – dem freien Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen. Zwar wurde schon im EWG-Vertrag 1957 die Etablierung dieser vier Grundfreiheiten als Ziel ausgegeben, jedoch sollte es noch 36 Jahre bis zur Realisierung des Binnenmarkts dauern.
Der EuGH legt vor – Jacques Delors folgt
Im Jahr 1979 legte der Europäische Gerichtshof mit seinem wegweisenden Urteil Cassis de Dijon vor und mahnte den Abbau von Handelsschranken an. Dabei ging es nicht um Warenzölle, die bereits zuvor abgeschafft worden waren, sondern primär um den Abbau einer Vielzahl von nichttarifären Handelshemmnissen, wie z.B. unterschiedliche Produktnormen oder Zulassungsverfahren. Als politische Antwort auf das EuGH-Urteil wurde 1987 auf Initiative des italienischen Außenministers Emilio Colombo zusammen mit seinem deutschen Amtskollegen Hans-Dietrich Genscher die Einheitliche Europäische Akte verabschiedet. Maßgeblich ausgearbeitet von Jacques Delors als Präsident der Europäischen Kommission wurden 300 Einzelmaßnahmen verabschiedet, die vor allem auf eine Etablierung von Mindestnormen innerhalb des Binnenmarktes abzielten. So sollten die vier Grundfreiheiten ermöglicht und bis zum 01.01.1993 umgesetzt werden.
Wirtschaftlicher Aufschwung durch den Binnenmarkt
Auch wenn nicht alle Mitgliedsstaaten die Vorgaben pünktlich umsetzten, waren die Erfolge der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums mit der Zeit unübersehbar. Heute ist die EU – zusammen mit Island, Liechtenstein, Norwegen und auch der Schweiz - der größte barrierefreie und integrierte Wirtschaftsraum der Welt mit mehr als 500 Millionen Bürger*innen. Der EU-Kommission zufolge sind 56 Millionen Arbeitsplätze in der EU auf den Binnenmarkt zurückzuführen und der wirtschaftliche Nutzen entspricht einem um 8 bis 9 % höheren BIP für die EU. Nicht zu unterschätzen ist zudem die Stärkung der internationalen Verhandlungsposition der EU: Ohne einen stark integrierten Binnenmarkt müsste jeder Staat für sich alleine verhandeln. Selbst wirtschaftlich starke Staaten wie Deutschland hätten eine wesentlich schwächere Verhandlungsposition und wären nie in der Lage gewesen, sich in den Verhandlungen zu den etlichen Freihandelsabkommen für ein starkes Verbraucher- und Umweltschutzniveau stark zu machen. Auch in der europäischen Wettbewerbspolitik wären einzelne Mitgliedsstaaten gegenüber Tech-Riesen wie Google oder Facebook vollkommen hilflos. Die Strafzahlung in Höhe von 2,4 Milliarden Euro gegen Google, die die EU-Kommission durchgesetzt hat, wäre so vermutlich nicht möglich gewesen. Somit gilt in verschiedenen Politikbereichen: Zusammen ist man stärker und kann im globalen wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb überhaupt bestehen.
Nobody is perfect – auch der Binnenmarkt nicht
Natürlich war 1993 nicht von einem auf den anderen Tag ein vollumfänglicher Binnenmarkt geschaffen. Die Abschaffung der Grenzkontrollen durch das Schengen Abkommen im Jahr 1995 und die Einführung des Euros als gemeinsame Währung im Jahr 2002 waren weitere entscheidende Meilensteine, ohne die der Binnenmarkt in seiner heutigen Form unvorstellbar wäre. Viele Anpassungsprozesse dauern zudem bis heute an. Weiterhin unterscheiden sich in Sektoren, wie beispielsweise dem Dienstleistungs- und Energiesektor, die nationalen Regelungsregime, wodurch der grenzübergreifende Handel erschwert wird; wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der darauffolgende Energiekrise ist der Abbau solcher Handelshemmnisse im Energiesektor wichtiger denn je. Die fortschreitende Digitalisierung und die enorme Bedeutung von digitalen Dienstleistungen wird von den vorhandenen gesetzlichen Rahmenbedingungen ebenfalls nur schwerlich und peu à peu eingefangen. Der Binnenmarkt leidet außerdem strukturell an Handelshindernissen, die sich aus den unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen zwischen den Mitgliedstaaten ergeben, was zu erheblichen Verwerfungen innerhalb des Binnenmarkts führt. Zentrales Problem ist hier beispielsweise die Steuerfrage: Die Steuerpolitik ist europäisch kaum harmonisiert, was dazu führt, dass Staaten sich weiterhin mit niedrigen Steuersätzen unterbieten können, was den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen erheblich beeinflusst. Ohne eine unionsweite Annäherung der Steuersätze bzw. einer europäisch geltenden Bemessungsgrundlage für die Festsetzung von Steuern kann der Binnenmarkt nicht sein volles Potenzial entfalten. Die Corona-Pandemie hat zudem gezeigt, dass die Geschlossenheit des Binnenmarkts in Krisen schnell Risse bekommt. Schnell wurden die Grenzen geschlossen oder der Export von entscheidenden Medizinprodukte in andere Mitgliedstaaten verhindert. In solchen Ausnahmesituationen werden nationale Interessen priorisiert und die ‚heiligen‘ Grundfreiheiten des Binnenmarkts werden relativ leicht ausgehebelt. Die derzeitigen multiplen Krisen verdeutlichen, dass der Europäische Binnenmarkt auch gegenüber solchen Krisen gewappnet sein muss und es Aufgabe der europäischen Politik ist, den Binnenmarkt durch weitere Reformen noch robuster zu machen.
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