Den Prager Frühling verstehen: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“

, von  Théo Boucart, übersetzt von Etienne Höra

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Den Prager Frühling verstehen: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“
Milan Kundera im Jahre 1980. Ein Jahr später erhielt er die französische Staatsbürgerschaft. Foto: Flickr / Elisa Cabot / CC BY-SA 2.0

Am 21. August dieses Jahres jährte sich die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei, die den „Prager Frühling“ zu einem jähen Ende brachte, zum 50. Mal. Es lohnt sich, dieses historische Ereignis neu zu betrachten – mit Milan Kundera, einem der großen Autoren der tschechischen, französischen und europäischen Literatur.

„Einige Gedanken sind wie Attentate.“ Dieser Satz zeigt die Rolle der Intellektuellen, der kritischen Literatur, Kunst, Dichtung und Wissenschaft in modernen Gesellschaften auf. Er gewinnt eine ganz besondere Kraft, wenn er sich auf Dissident*innen bezieht, die einem autoritären, gar totalitären Regime den Kampf angesagt haben. Ein Kampf, der selbst im besten Fall in öffentlicher Schande oder erzwungenem Exil endet. Ideen aber können sich verbreiten wie ein Lauffeuer und haben das Potential, eine Ideologie in den Augen der unterdrückten Bevölkerung zu diskreditieren. Dadurch können ganze Imperien ins Wanken geraten.

Milan Kundera ist einer dieser Intellektuellen, deren Ideen ein „Attentat“ darstellten – für das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei und darüber hinaus. Das Zitat stammt übrigens aus seinem bekanntesten Werk Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, das 1984 zuerst in Frankreich erschienen ist. Die Handlung des Romans ist eng mit dem Prager Frühling der ersten Monate des Jahres 1968 verknüpft, in dem die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei dem Sozialismus durch wirtschaftliche und politische Reformen ein „menschliches Antlitz“ verleihen wollte, ebenso wie mit Moskaus Reaktion und dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Nacht auf den 21. August 1968, um die neu gewonnene Freiheit im Keim zu ersticken. Kundera wurde von den kommunistischen Machthabern nach 1968 als einer der Anstifter dieser „Gegenrevolution“ angesehen und war 1975 gezwungen, das Land zu verlassen. Er kam nach Frankreich, wo er, mittlerweile fast 90 Jahre alt, immer noch lebt.

Die Ereignisse von 1968 im Zentrum des Werkes

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins ist nicht das einzige Buch Kunderas, das sich mit dem Prager Frühling beschäftigt, tatsächlich spielt ein Großteil seiner Werke darauf an. Der Roman ist allerdings sein bekanntester und sicher auch sein philosophischster. Die tragischen Ereignisse des Jahres 1968 erscheinen unter verschiedenen Blickwinkeln. Dabei schneidet das Buch eine Fülle verschiedener Themen an: Liebe, Sexualität, die Komplexität des Daseins, Politik. Die Hauptcharaktere repräsentieren jeweils Ideale, die mit dem Grundgegensatz verbunden sind, der sich durch den ganzen Roman zieht: Schwere versus Leichtigkeit. Tomáš (in deutschen Übersetzungen Tomas) stellt den Widerspruch zwischen Treue zu seiner Frau Tereza (Teresa) und der Libertinage dar; Tereza, die sich ganz Tomáš hingibt, aber durch diese Hingabe innerlich ausbrennt, repräsentiert die Moral; Sabina, die Freundin und Geliebte Tomáš‘, repräsentiert die manchmal unerträglich werdende Leichtigkeit; Franz schließlich, der andere Geliebte Sabinas, steht für die Schwere, sowohl in seinen Ideen als auch in seinem Gefühlsleben. Die vier Hauptpersonen gehören als Chirurg, Fotografin, Malerin und Professor zu den Intellektuellen, den Hauptakteuren des Prager Frühlings und größten Leidtragenden des sowjetischen Gegenschlags.

Die Ereignisse von 1968 schlagen sich in der Struktur des Romans nieder. Trotz zahlreicher Abschweifungen und Auslassungen lässt sich klar unterscheiden zwischen der Stimmung vor und nach der Invasion am 21. August, die sieben Tage dauert: zunächst die Sorglosigkeit und Leichtigkeit während des Frühlings, als Alexander Dubček, der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, liberale Reformen durchführte – und dann die Schwere des Lebens nach dem Einfall der Truppen des Warschauer Paktes und der sogenannten „Normalisierung“, die damit beginnt. In der Zeit zwischen 1968 und 1989 wird die Tschechoslowakei durch den konservativen Flügel der KPT kontrolliert und das Regime mit regelmäßigen Säuberungen deutlich brutaler als zuvor. In diesem Zusammenhang wird der Reformer Dubček durch Gustav Husák ersetzt. Tomáš und Tereza leiden selbst unter diesen Umständen: Sie stürzen auf der sozialen Leiter ab. Er wird vom Chirurgen erst zum Fensterputzer und dann zum Lastwagenfahrer degradiert, sie von der Pressefotografin zur Bäuerin. Ein sozialer Abstieg, der für die tschechischen Intellektuellen in den 1970ern typisch war.

Der Prager Frühling: vielfältige Perspektiven

Die Euphorie und die Unterdrückung des Jahres 1968 werden in Milan Kunderas Roman auf verschiedenen Ebenen wahrgenommen. Zusätzlich zur Gesamtstimmung, die die Ereignisse widerspiegelt, werden diese mehrfach explizit erwähnt. Das Thema Exil ist eine kaum verhüllte Anspielung auf das, was Kundera und Tausende weitere Intellektuelle durchleben mussten. Tomáš, Tereza und Sabina fliehen nach der sowjetischen Invasion für kurze Zeit in die Schweiz. Der Westen wird zwar überhöht als Land der Freiheit und einer gewissen Leichtigkeit dargestellt, dieses Bild wird jedoch durch das Leiden des Exils dargestellt, das schwer auf den Protagonisten lastet.

Der Kommunismus wird als geistige Leere beschrieben, das Reich des „totalitären Kitsches“. Kundera definiert diesen als ein übertriebenes ästhetisches Ideal, aus dem Zweifel und kritischer Geist verbannt sind. Der Autor unterscheidet nicht zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus: In beiden Systemen wird das Individuum seiner Persönlichkeit beraubt und muss sich dem entmenschlichten Kollektiv unterwerfen. Hier lässt sich eine Parallele schlagen zwischen der anonymen Masse im Totalitarismus und Terezas Kindheit, in der ihre Eltern sie ständig ihrer Individualität beraubten. Der Kommunismus wurde seinem Ruf als System des „kulturellen Schweigens“ zur Zeit der „Normalisierung“ besonders gerecht. Zu dieser Zeit gab Kundera der französischen Presse ein Interview, in dem er den langsamen Niedergang der tschechischen und später auch der europäischen Kultur beklagte.

Kunderas literarisches Projekt ist ein realistisches, der Autor will in seinen Romanen eine gewisse Wahrheit wiedergeben. Deshalb flechtet er in seine Erzählung konkrete reale Ereignisse ein: die Invasion der Panzer des Warschauer Paktes in Prag, die Tereza fotografiert, das 2000-Worte-Manifest des Schriftstellers Ludvík Vaculík, oder auch die verhängnisvolle Rede Dubčeks nach seiner Rückkehr nach Moskau, in der er seiner Nation die Demütigung durch den Kreml verkündet. Kundera stellt Dubček als äußerst schwachen Mensch dar, wodurch er eine Parallele zu Terezas eigener Schwäche zieht. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins ist ein hochpolitischer philosophischer Roman, in dem der Prager Frühling und seine tragischen Konsequenzen in aller Tiefe dargestellt werden.

Fünfzig Jahre danach – Nietzsche und die „ewige Wiederkunft“

2018 markiert den fünfzigsten Jahrestag der vergeblichen Einführung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ in der Tschechoslowakei und seiner brutalen Niederschlagung. Um daran zu erinnern, sind Tausende Tschech*innen und Slowak*innen in Prag und Bratislava auf die Straße gegangen. Den Menschen war es wichtig, der Opfer dieser dunklen Episode zu gedenken. Miloš Zeman, Staatspräsident der Tschechischen Republik, hat dagegen entschieden, sich nicht zu äußern. Manche erklären sein Schweigen mit seiner kommunistischen Vergangenheit und seiner pro-russischen Einstellung. Andere sehen darin sogar eine Verbindung zwischen der „Normalisierung“ nach 1968 und der zunehmenden Gefährdung der Demokratie in Mittel- und Osteuropa.

Gibt es aber eine echte Verbindung zwischen 1968 und 2018? Tatsächlich hat der kulturelle Winter in den 1970ern und 1980ern der Tschechoslowakei und dem späteren Tschechien geschadet. Der Ursprung des aktuellen Aufstiegs des Euroskeptizismus in dem Land liegt aber eher in den gewaltsamen wirtschaftlichen und sozialen Reformen der Neunzigerjahre vor allem unter Premierminister Václav Klaus sowie in der Identitätskrise, die durch Migrationsbewegungen noch verstärkt wird. Wie dem auch sei: Die Geschichte wiederholt sich. Wir dürfen uns nicht durch den Frieden, den die Europäische Union gebracht hat, einlullen lassen, sondern müssen die politischen Entwicklungen in ganz Europa verfolgen. Die ersten Seiten von Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins rufen uns dies mit Nietzsches Konzept der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ in Erinnerung. Obwohl Kundera versucht, dieses Konzept zu widerlegen, könnte es in unserem Fall reale Auswirkungen haben: Die Versöhnung mit einer dunklen Vergangenheit wäre dann ein verräterisches Anzeichen moralischer Verderbtheit, die einer Welt inhärent wäre, in der es die ewige Wiederkunft Nietzsches nicht gibt. Alles wäre im Voraus vergeben, alles wäre uns auf zynische Weise erlaubt. Es lohnt sich, darüber nachzudenken.

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