Der Papst und Cancel Culture – Was haben die denn miteinander zu tun? Über die Frage muss wohl länger gegrübelt werden. Die jährliche Ansprache des katholischen Kirchenoberhauptes verrät einem mehr und zeigt auf, dass ihm das Thema Cancel Culture nicht fremd ist. Auch Papst Franziskus hat sich nicht vor dem Trendthema gescheut. Ein Gegenstand seiner Rede war die „Cancel Culture“, welche seines Erachtens und als Oberhaupt der katholischen Kirche zunehmend die freie Meinungsäußerung einschränkt. Für ihn steht fest, dass Cancel Culture “ in vielen und öffentliche[n] Institutionen” eingedrungen ist. Der “diktierende” und “einseitige” Charakter besorgen ihn besonders.
Der Terminus der “ Cancel Culture” ist im digitalen Zeitalter der sozialen Medien präsenter denn je. Cancel Culture hat im vergangenen Jahr auch vor bekannten Persönlichkeiten nicht halt gemacht, wie zum Beispiel Harry Potter Autorin J.K Rowling und die US-amerikanische Moderatorin Ellen DeGeneres. Cancel Culture ist auch in den Medien präsent. Kritische Auseinandersetzungen und hitzige Diskussionen ergeben eins: Die Cancel Culture ist eine Verbotskultur, bedrohend für die Meinungs- und Kunstfreiheit.
Offensichtlich liegt die Frage auf der Hand, wie diese teils ablehnende Kultur tatsächlich die freie Meinungsäußerung gefährdet. Stellt die Cancel Culture eine Erweiterung der strikten politischen Korrektheit dar oder ist Cancel Culture ein leerer Kampfbegriff, der für mehr Hysterie sorgt als Einschränkungen? Bis zu welchem Maß sind vielfältige Meinungen und künstlerische Ausdrucksfreiheit zu tolerieren. Ab wann werden Grenzen überschritten - zum Beispiel Grenzen des Rassismus?
Für ein besseres Verständnis von Cancel Culture und deren gesellschaftlichen Auswirkungen ist es entscheidend die Bedeutung des Begriffs unter die Lupe zu nehmen.
Ein misogyn gemeinter Witz
Cancel Culture (engl. für Kultur des Ablehnens, des Verbotes) meint das Missbilligen, Absagen von lebenden oder nicht lebenden Personen der Öffentlichkeit. Dabei wird dieses Canceln zu einer Kampfansage: “Let’s cancel Ellen DeGeneres/ Ellen DeGeneres is totally canceled” wären charakteristische Aussagen.
The Ellen Degeneres Show? pic.twitter.com/x9zJVjrz19
— Ξvan Ross Katz (@evanrosskatz) May 12, 2021
Die direkte Assoziation mit einem Skandal hat zur Folge, dass ein schlechtes Licht auf diese Person geworfen wird. Mehrheitlich sind die Anschuldigungen auf wahrgenommenen Antisemitismus, Rassismus oder Sexismus zurückzuführen. In erster Linie spielt sich der Prozess des Canceln über soziale Medien ab.
1991 wurde erstmals der Ausdruck “You’re canceled” durch den US-amerikanischen Film “New Jack City” verbreitet. “Cancel that bitch. I’ll buy another one” äußert dabei einer der Protagonisten. Im Film war der Ausdruck zunächst als frauenfeindlicher Witz gemeint. Auf Twitter wurde die Bezeichnung 2014 wieder aufgenommen und zwar durch die häufige Verwendung von queeren schwarzen Communities.
ima start telling people "you're canceled, out my face" 😂😂💀
— S 💉 (@renzoracks_) December 23, 2014
Schrittweise transformierte sich Cancel Culture zu einem Synonym für Boykott. Zeitgleich erschien der Begriff im Zusammenhang mit der #Metoo-Bewegung auf der Bildfläche der Mehrheitsgesellschaft. Prominente wie Harvey Weinstein wurden aufgrund ihrer Sexualvergehen oder LGTBQ-feindlichen Einstellung gecancelt. Die University at Buffalo beispielsweise entzog ihm seine Ehrendoktorwürde, Harvard widerrief Weinstein eine Auszeichnung und das British Film Institute erkannte ihm die Ehrenmitgliedschaft ab. Auffällig ist beim Betrachten der Einzelfälle, dass Cancel Culture auf oftmals privilegierte Personen zielt, die eine Minderheit auf eine bestimmte Weise beleidigt haben.
Wie steht es um Cancel Culture in Deutschland?
Die Statistik macht es deutlich – im englischsprachigen Raum ist der Begriff bekannter und im Vergleich wird dieser auch kritischer beurteilt. Mögliche Erklärungen wären die Abstammung des Begriffs aus den Vereinigten Staaten und die weitere Verbreitung im englischen Sprachraum. Nichtsdestotrotz ist der Begriff 2020 für nur knapp 20 % der befragten Personen umstritten.
Deutsche sehen "Cancel Culture vergleichsweise unkritisch.
Foto: statista
96 Stunden später - und schon ist der Job weg!
Während der Black Lives Matter Proteste, forderte die Bewegung nach dem Tod von George Floyd, ein Todesopfer rassistischer Polizeigewalt, das Streichen von Polizei Geldern mit dem Hashtag #DefundThePoilce. Harald Uhlig (@haralduhlig ) weißer deutscher Professor an der University of Chicago, anfang 60 teilte im Juni 2020 auf Twitter seine Meinung:
„Ich verstehe, dass einige da draußen sich wünschen, rauszugehen, zu protestieren und zu sagen #DefundThePolice und all diese Sachen, solange ihr noch jung seid und Verantwortung nicht zählt. Genießt es! Drückt euch aus! Nur macht nichts kaputt, ok? Und seid um 8 zuhause.
Nur 96 Stunden später wurde er seiner Stelle als leitender Redakteur des “Journal of Political Economy” entledigt, als Professor wurde er vorübergehend beurlaubt. Zurückzuführen ist seine Entlassung auf eine Online-Petition, die seinen Rücktritt forderte.
Was nicht passt, wird passend gemacht?
Uhligs Äußerung wurde nicht per se attackiert, sondern er wurde als Person angegriffen. Sein unliebsamer, kontroverser Tweet war Teil einer öffentlichen Debatte gewesen, aus die er radikal verbannt wurde. Genau dieser Punkt, der sozialen Ächtung einer Person gehört zu den ständigen Praktiken der Cancel Culture Auch “Doxing” wird betrieben, also private Adressen und Nummern von den gecancelten Personen ausfindig zu machen, um diese einem gar umfassenden Shitstorm auszusetzen.
Wo bleibt das Recht zur freien Meinungsäußerung, wenn beispielsweise Journalist*innen, Autor*innen nach der Veröffentlichung eines umstrittenen Werkes sich um ihre Existenz und berufliche Karriere fürchten müssen. Oder voller Vorsicht auf Publikationen verzichten, um ja keinen Widerstand der Cancel Culture zu provozieren. Lebt in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft der Diskurs nicht von gegenteiligen Meinungen und das Hineinversetzen in verschiedenen Ansichten? In einzelnen Fällen werden auch die Grenzen des Tolerierbaren überschritten. Konsens sollte durch überzeugende Argumentation und Aufklärung erreicht werden, nicht durch das mundtot Machen kritischer Stimmen. Die Suche nach der Richtigkeit und Wahrheit von Fakten wird lahmgelegt, die Diskussion ausschließlich in eine Richtung gedrängt.
Nicht nur das Prinzip “alle gegen einen” wird verwirklicht. Eine Person wird an den Pranger gestellt, während sich die Angreifer*innen hinter dem Schutzschild der Anonymität der sozialen Medien verstecken. Als Konsequenz hat dies auch, dass die Vorwürfe schärfer und vehementer geäußert werden. Die eigene Identität ist unbekannt, dann traut man sich mehr, was aber nicht immer der Fall sein muss. Es gibt aber auch erfolgreiche Fälle des Canceln, die durch Menschen vorangetrieben wurden, die unter Klarnamen auftreten. Zum Beispiel Salwa Houmsi gegen Sänger R.Kelly, dem Missbrauch vorgeworfen wurde.
Wie sich ein “Opfer” bewusst in Szene setzt
Im Falle Harald Uhlig zeigte die Mehrheit gegen ihn. Die berufliche Reputation ist beschädigt und auch der soziale Status in gewisser Hinsicht befleckt. Einige Betroffene von Cancel Culture nutzen inakzeptable Äußerungen zu ihrem eigenen Vorteil. Einer dieser Fälle ist der von Lisa Eckhart. Die österreichische Kabarettistin wurde mit antisemitischen Witzen rasch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Unter dem Deckmantel der Satire erzählt sie Witze wie:
“DJ Ötzi oder Joseph Goebbels? Ich schenk’ dir einen Stern, der deinen Namen trägt."
Seitens der jüdischen Community wird Empörung geäußert. Die jüdische Allgemeine schreibt es wäre“unerträglich, dass die antisemitischen Pointen der Kabarettistin als hintergründige Satire bezeichnet werden” und zwar auf Kosten einer Minderheit. Cancel Culture hatte keine langfristigen Auswirkungen auf ihre Karriere, ganz im Gegenteil sogar: durch die Provokation geriet sie explizit in den Fokus der Medien. Hohe Einschaltquoten, aufgeregte Debatten, ausverkaufte Programme sind das Resultat. Der Fall zeigt: Cancel Culture ist nur dann erfolgreich, wenn eine breite aktive Öffentlichkeit sich einig ist. Eckharts Anhänger*innen hingegen hielten “trotz” Diskussion” zu ihr.
“Man darf ja heutzutage gar nichts mehr sagen”
Verteidiger*innen Eckharts meinten “Man darf ja heutzutage gar nichts mehr sagen”. Mit dieser Aussage wird Cancel Culture oft in Verbindung gebracht. Nach Meinung der Gegner*innen ist diese Kultur des Absagens eine Fortführung von Political Correctness, eine strikte und penible Einhaltung von gesellschaftlichen und sprachlichen Normen. „Cancel Culture ist eine Kultur des Sprechverbots“ ist aber viel eher ein Versuch sich der Rechtfertigung für die eigenen Aussagen zu entziehen und jedweder Kritik die Legitimität abzusprechen. Oftmals wird dann noch hinzugefügt: „Früher waren die Menschen nicht so empfindlich”. Früher hatten aber auch viele Gruppen nicht die Möglichkeit an öffentlichen Debatten teilzunehmen. Die Debattenkultur wird vielfältiger durch Entwicklungen wie Migration und ein Selbstverständnis des Mitspracherechts vieler Minderheiten. Jahrzehntelang nicht geäußerte Meinungen als überzogene Empfindlichkeit zu bezeichnen scheint eine defensive Reaktion derer zu sein, die sich vor dem Verblassen ihrer Privilegien fürchten.
Negativeispiel hierfür wäre Schauspielerin Janine Kunze, die beim WDR Talk “Die letzte Instanz (Talkshow zum Thema Rassismus) keinerlei Verständnis dafür zeigte, dass bestimmte Bezeichnungen bei Angehörigen von Minderheiten wie den Sinti*zze und Roma*nja als beleidigend aufgefasst werden.
Konkret ging es um Begriffe wie “Z-sauce” und “Z-schnitzel”, die vom Rat der Sinti*zze und Roma*nj als beleidigend aufgefasst werden. Sie äußert manche hätten “nichts Besseres zu tun und fangen dann mit so einem Quatsch an”, es wäre “nervig”.
Ihre Empörung entfachte einen großen Shitstorm und es folgte mit ein paar Monaten Zeit mehrheitliches Canceln von Kunze. Die Frage lautet: Wie schränkt ein Verzicht auf diese Begriffe die Meinungsäußerung von Janina Kunze ein? Eigentlich kaum, und dennoch weigert sie sich die Belange einer Minderheit zu beachten. Ihr Verhalten wirkt auf die Betroffenen ignorant und abweisend, was genau dazu führte, dass sie gecancelt wurde. Es geht hier auch darum eine Balance zwischen Selbstverständnis der Minderheiten und eine vermeintliche Selbstdegradierung zum Opfer zu finden. Kurz gesagt: Es geht um die Frage, wann ist etwas wirklich beleidigend oder wann Beleidigung “nur” ein Vorwurf ist.
Das zweischneidige Schwert unserer Zeit
Was ist Cancel Culture nun?
Ein gnadenloser Online Mob oder ein wichtiges Gesellschaftsinstrument, um Ungerechtigkeiten aufzudecken?
Das Motiv der Cancel Culture ist es Personen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Kern geht es darum Menschen zu sensibilisieren und ein Feingefühl hinsichtlich Themen wie Rassismus und Kultur zu anzuregen Das allein ist richtig und wichtig. Die Umsetzung dieser Vorhaben hingegen ist ein wenig problematisch, denn der Grat zwischen Kritik und Intoleranz ist schmal. Ein positives Beispiel hierfür wäre die #Metoo-Debatte, welche einen wirksame Veränderung in der Gesellschaft bewirkte - und zwar auf internationaler Ebene
Bei Cancel Culture handelt es sich auch um ein Thema des gegenseitigen Umgangs und der Kommunikation miteinander. Um Veränderungen zu bewirken sind Diskussionen statt strafendes Ausschließen notwendig. Demütigung, Intoleranz, Illiberalität hingegen sind nicht nur ineffektiv sondern auch ein moralisch verwerflicher Weg. So etwas erinnert eher an eine mittelalterliche Hexenjagd, ohne tatsächlich überprüfbare Fakten, handfeste Begründungen Schuldige zu suchen und sie (sozial) zu verdammen - ein ganz klar überholtes Bild fürs 21. Jahrhundert.
Aber Berühmtheiten, die sich um eine vermeintliche Bedrohung ihrer Meinungsfreiheit empören, stecken tatsächlich selten in einer Opferrolle mit anhaltenden Konsequenzen für ihre Karriere. Letztendlich werden immer unterschiedliche und vielfältige Meinungen existieren. Es ist wichtig, als Gesellschaft zu lernen richtig damit umzugehen. Ein bedeutender Schritt, um offene Diskussionen aufrechtzuerhalten, in denen alle Teilnehmenden gehört, aber auch konstruktiv kritisiert werden können.
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