Wenn Dystopie zur Realität wird: Segregation in Europäischen Hauptstädten

, von  Neele Sinthern, Pontus Hansson, übersetzt von Moritz Hergl, Zoriana Tsiupak

Alle Fassungen dieses Artikels: [Deutsch] [English]

Wenn Dystopie zur Realität wird: Segregation in Europäischen Hauptstädten

In der beliebten Buch- und Filmreihe „Tribute von Panem“ spielt die Geschichte in einem fiktiven Land, das in 13 Regionen, eine reiche Hauptstadt und 12 Bezirke mit unterschiedlichem Ausmaß von Armut unterteilt ist. Wo man lebt, bestimmt die Position in der sozialen Hierarchie, und es ist nahezu unmöglich, von einer Stufe aufzusteigen oder von einem Bezirk in einen anderen zu wechseln. Dieses System ist ganz klar eine Dystopie. In einigen unserer Großstädte können wir jedoch etwas Ähnliches erleben. Wenn dies der Fall ist, sprechen wir von Segregation.

„Segregation wird dann zum Problem, wenn Mechanismen des Wohnungsmarktes und Diskriminierungen bei der Wohnungsvergabe dazu beitragen, dass Armut und Perspektivlosigkeit in bestimmten Stadtvierteln dominieren.“

 Hartmut Häußermann

Segregation gibt es in vielen Formen, doch kann sie als physische Trennung zwischen Menschen in einer Region aufgrund ihrer Identität definiert werden. Die häufigsten Formen der Segregation sind auf sozioökonomische, kulturelle, ethnische, religiöse oder rechtliche Unterschiede zurückzuführen. Es gibt zwei Arten der sozioökonomischen Segregation: Armut und Wohlstand. Bei der Armutssegregation handelt es sich um eine Trennung zwischen den Menschen, bei der es Gebiete gibt, in denen nur Menschen leben, die in oder nahe der Armut leben. Das Gegenteil ist die Wohlstandssegregation, bei der es Gebiete gibt, in denen nur wohlhabende Menschen leben. Das Apartheidsystem in Südafrika, das bis in die 1990er Jahre bestand, ist ein Beispiel für eine solche Form der Segregation, die heute glücklicherweise nur noch selten vorkommt. Dennoch ist die Segregation noch lange nicht überwunden, und vor allem städtische Gebiete sind Hotspots für segregierte Gemeinschaften. In diesem Artikel werden wir vier europäische Hauptstädte, nämlich Stockholm, Berlin, Paris und Madrid, genauer unter die Lupe nehmen und uns ansehen, wie die Segregation in diesen Städten aussieht. Da wir ein umfassenderes Bild des Problems der Segregation vermitteln wollen, stützen wir uns bei unseren Recherchen sowohl auf wissenschaftliche Studien über die Städte als auch auf Interviews mit jungen Erwachsenen, die in diesen Städten leben oder aufgewachsen sind. Wir hoffen, dass wir durch das Aufzeigen des Problems der Segregation eine öffentliche Debatte anstoßen und hoffentlich dort, Anreize für Veränderungen schaffen können.

AUSKLAPPEN: Segregation in Stockholm Schweden wird oft als das Land der Gleichberechtigung angesehen, aber Stockholm ist vielleicht die Stadt, die am meisten Ähnlichkeiten mit Panem aufweist, da sie sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene eine Segregation von Wohlstand und Armut aufweist. Das bedeutet, dass es in Stockholm bestimmte Gebiete gibt, in denen sich nur die Reichen ein Leben leisten können, und bestimmte Gebiete, in denen fast ausschließlich Menschen mit geringeren finanziellen Mitteln oder sogar in Armut leben. Jüngste akademische Untersuchungen haben ergeben, dass Stockholm sowohl bei der Wohlstands- als auch bei der Armutssegregation in Europa an der Spitze liegt, was auf einen geringen Anteil an Sozialwohnungen und einen sehr schwer zugänglichen Wohnungsmarkt zurückzuführen ist.

Der unzugängliche Wohnungsmarkt war auch ein Thema bei unseren Gesprächen mit jungen Erwachsenen, die in Stockholm aufgewachsen sind. Die Erschwinglichkeit steht ganz oben auf der Tagesordnung der Stockholmer*innen und viele wollten über die Preise ihrer Häuser oder Wohnungen sprechen. Im Allgemeinen wird der Druck empfunden, dass man schon recht früh im Erwachsenenalter von zu Hause wegziehen sollte, was schwierig ist, wenn man bei den Gehältern, die junge Erwachsene bekommen, keinen Kredit für eine Wohnung bekommt. Stattdessen herrscht das Gefühl vor, dass viele, die in einer Wohnung in Stockholm leben, Eltern haben, die ihnen eine Wohnung kaufen oder zumindest bei der Beantragung eines Darlehens helfen können. Doch viele Familien verfügen nicht über diese Mittel.

Die Alternative zum Hauskauf wäre das Bostadskö, ein von der Stadtverwaltung betriebenes Warteschlangensystem für Wohnungen. Die Wartezeit kann jedoch extrem lang sein. Nach Angaben von Bostadsförmedlingen, der zuständigen Behörde, beträgt die Wartezeit für eine Wohnung im Zentrum Stockholms etwa 18 Jahre. Das bedeutet, dass jemand, der sich im Alter von 18 Jahren in die Warteschlange einreiht, erst im Alter von 36 Jahren Anspruch auf eine Wohnung hat.

Vor allem aufgrund der Wohnsituation in Stockholm ergibt sich ein großes Problem: die sozio-ökonomische Homophilie. Homophilie bedeutet, dass Menschen hauptsächlich mit Mitgliedern ihrer eigenen sozioökonomischen Gruppe interagieren. Dies führt zu Nachteilen und geringeren Chancen für Menschen, die in ärmeren Gegenden aufwachsen. Das Aufwachsen in ärmeren Gegenden ist auch ein Schlüsselfaktor, der Menschen zu kriminellen Aktivitäten verleitet. Die Begehung einer Straftat erscheint als die einzige Möglichkeit, den Status zu erreichen, den Menschen aus einem gewissen Viertel im Lebensstil von anderen, privilegierteren Gruppen sehen. Homophilie fördert ebenfalls eine Mentalität des „wir“ gegen „sie“, die das Misstrauen zwischen Menschen aus verschiedenen Vorstädten verstärkt und das Misstrauen in die rechtlichen und politischen Institutionen erhöht. Es gibt eine laufende Debatte über die Einführung von mehr Kameraüberwachung und sog. Visitationszoner in Gebieten, in denen kriminelle Netzwerke vermutet werden. Visitationszoner ähneln dem amerikanischen Stop-and-frisk für bestimmte Gebiete. Da es sich bei den diskutierten Gebieten meist um einkommensschwache Gegenden handelt, herrscht die Meinung vor, dass diese Maßnahmen als inakzeptabel angesehen würden, wenn sie stattdessen in einkommensstarken Gegenden eingesetzt würden.

In der Vergangenheit haben die Stadt Stockholm und die schwedische Nationalregierung versucht, die Situation in den Griff zu bekommen, wobei sie sich vor allem auf die Bereiche Bildung und Einwanderung konzentriert haben. Eine Verordnung hinderte Einwanderer*innen beispielsweise daran, in bestimmten Gebieten zu leben oder dorthin zu ziehen, in denen bereits ein hoher Prozentsatz von Immigrant*innen lebte. Ansonsten würden sie ihre wirtschaftliche Unterstützung verlieren - eine Lösung, die von der Regierung geschaffen wurde, um die Entstehung von Parallelgesellschaften in Gebieten mit einem hohen Migrant*innenanteil zu verhindern. Doch selbst wenn diese Politik die Entstehung von Parallelgesellschaften oder eine zunehmende Segregation innerhalb der Gesellschaft abmildert, trägt sie nicht zur Verringerung des bestehenden Problems bei.

Berlin
Photo left: Wikimedia Commons / Steffen Zahn / CC BY 2.0 DEED; Photo right: private

AUSKLAPPEN: Segregation in Berlin

„Die Geschichte der Teilung und Wiedervereinigung Berlins hat die Muster der Suburbanisierung und die ungleiche wirtschaftliche Umstrukturierung der Stadt im Laufe der Zeit beeinflusst.“

 Talja Blokland und Robert Vief

Sowohl in Ost- als auch in West-Berlin wurde die Industrie von den Regierungen beiderseits der Mauer finanziell unterstützt. Als die Mauer und die DDR 1989 fielen, verschwand diese politisch motivierte staatliche Unterstützung und es folgte ein Prozess der Deindustrialisierung, vor allem, aber nicht nur, im Osten. Dies führte zu hoher Arbeitslosigkeit und dem niedrigsten BIP aller europäischen Metropolen im Vergleich zu ihren nationalen Durchschnittswerten.

Dennoch ist Berlin heute eine gut vernetzte Stadt; der öffentliche Nahverkehr ist erschwinglich und für Schulkinder sogar kostenlos. Allerdings geht die segregierte Armut heute Hand in Hand mit einer schlechteren Infrastruktur. Der Zugang zu Ressourcen ist ein zentraler Aspekt bei der Frage, wie sich Segregation auswirkt: Die Segregation zwischen armen Kindern und Empfänger*innen staatlicher Unterstützung hat sich im Laufe der Zeit verstärkt.

In Berlin ist die soziale und kulturelle Segregation ein anhaltendes Problem, das verschiedene Aspekte des städtischen Lebens betrifft. Besonders deutlich wird die Situation in Vierteln wie Neukölln, Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Weißensee.
Die Segregation in Neukölln hat zur Bildung sozialer und kultureller Parallelgesellschaften geführt, in denen bestimmte Gruppen dazu neigen, unter sich zu bleiben, was zu einem Mangel an Integration und einem begrenzten Austausch zwischen verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen führt.

Marlene P. ist in Berlin Kreuzberg aufgewachsen. Sie sagt, dass in Berlin zwischen den Bezirken Unterschiede zu erkennen sind. Die räumliche Abgrenzung ist dort stark, vor allem durch Zonen, die in den letzten 20 Jahren gentrifiziert wurden. „Früher gab es zum Beispiel fast nur türkische Läden in meiner Straße, jetzt gibt es nur noch einen einzigen Späti, weil die Gegend einfach gentrifiziert wurde und es jetzt wohlhabende Familien hier leben, die hauptsächlich aus Deutschland stammen“, sagt Marlene. Bis heute gibt es aber einen Unterschied zwischen dem gentrifizierten Kreuzberg mit seinen hippen Cafés und Bars und seinem Nachbarbezirk Neukölln. Aber auch Neukölln wird jetzt gentrifiziert. Studierende, die ihre Miete in Kreuzberg, Prenzlauer Berg oder anderen Teilen Berlins nicht mehr bezahlen können, ziehen zunehmend nach Neukölln, weshalb auch dort die Mieten steigen. Man kann in Neukölln schon Unterschiede zu vor zehn Jahren erkennen.

Auch die Kinder in den Berliner Kiezen sind von Gentrifizierung und Segregation betroffen. Marlene P. erzählte von ihrer Kindheit in Kreuzberg: „Ich denke da sofort an diese Abgrenzung allein in den Schulen. In meiner Grundschule in Kreuzberg war ich zum Beispiel in der A-Klasse das einzige Kind mit deutschen Eltern, in der C-Klasse sah es genauso aus, aber die B-Klasse bestand aus irgendeinem Grund hauptsächlich aus allen anderen Kindern mit deutschem Hintergrund. Ich glaube immer noch, dass es die Eltern waren, die sich da abgesprochen haben.“ Eine gemischte Wohnbevölkerung führt nicht unbedingt zu einer sozialen Mischung in den Schulen. Vor allem in nicht segregierten Vierteln sind die Schulen stärker segregiert, als es der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung entsprechen würde.

Nach der Grundschule ging Marlene P. auf eine weiterführende Schule im Bezirk Reinickendorf. „Dort gab es wenig Migrationshintergrund unter den Schüler*innen, während in der Schule um die Ecke, in Kreuzberg, fast nur junge Leute aus arabischen oder türkischen Familien waren. Insgesamt finde ich es sehr auffällig, dass sich die Schulen in ihrer Demografie unterscheiden“, sagt Marlene P. Der geringe Migrationshintergrund in Reinickendorf kann daran liegen, dass dort, wie auch in anderen Bezirken, die Wohneigentumsquote am höchsten ist.

Auf dem Weg von Kreuzberg und Neukölln weiter in den Norden, wo der Bezirk Prenzlauer Berg liegt, trafen wir Eva G., die bereit war, uns ein Interview über ihr Leben zwischen Prenzlauer Berg und Weißensee zu geben: „Ich sehe diesen sozialen Aspekt in meinem Kiez. Ich wohne im ehemaligen Ostberlin, aber Prenzlauer Berg und Weißensee sind jetzt mehr gentrifiziert.“ In Prenzlauer Berg, dem gentrifizierten Stadtteil, der heute mit dem Klischee der Latte-Macchiato-Mutter mit teurem Kinderwagen verbunden ist, ist die Kinderarmutsquote gesunken. „Es gibt einen Zuzug von Menschen, die gute Jobs haben, die weiß sind usw. und die sich die immer höher werdenden Mieten leisten können, vor allem aufgrund ihrer sozialen Stellung. Menschen aus anderen Bildungsschichten und Menschen, die früher dort wohnten und eine sozial schwächere Position haben, werden verdrängt.“

Was Eva uns erzählt, kann man sehen, wenn man in den Osten fährt, wo heute mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben. Im Osten Berlins findet man Wohnungen mit niedrigeren Mieten, manchmal aufgrund von Altverträgen oder älteren Wohnungen, die schon lange nicht mehr saniert worden sind. „Der Osten war und ist bekannt für seine Plattenbauten, die noch aus der DDR stammen. Gerade dort wird wenig Geld in die Sanierung gesteckt“, sagt Eva.

Wenn von sozialer Segregation die Rede ist, scheint die kulturelle Segregation immer mit eingeschlossen zu sein. Marlene und Eva erwähnten, dass es schwieriger zu sein scheint, eine Wohnung zu finden, wenn man einen „ausländisch klingenden“ Nachnamen hat. Auch die ukrainischen Flüchtlinge hatten es in den letzten zwei Jahren nicht leicht, eine Wohnung zu finden. Eva stellt außerdem fest, dass es in Kreuzberg/Neukölln eine große Gemeinschaft türkischstämmiger Menschen gibt, die oft unter sich bleiben. Ähnliche Muster sind jedoch auch in westlichen Bezirken wie Schöneberg oder Charlottenburg-Wilmersdorf zu beobachten, die schicker und teurer sind: Hier leben mehr Menschen mit deutsch klingenden Namen und ohne Migrationshintergrund, die auch eher unter sich bleiben.

Die soziale Segregation in Berlin scheint ein wichtigeres Thema zu sein als die statistische Frage, wer wo wohnt. Die soziale Segregation bei der Nutzung städtischer Orte und Einrichtungen in der Stadt kann die Reproduktion von Benachteiligungen über Gruppen und möglicherweise Generationen hinweg beeinflussen. Was wir jetzt nicht ändern, wird mindestens eine weitere Generation lang bestehen bleiben. Es ist wichtig, dass die politischen Entscheidungsträger*innen Maßnahmen ergreifen, um diesem Problem entgegenzuwirken, z. B. indem sie gleichmäßig investieren. Dazu gehören Investitionen in Bildungseinrichtungen, Sozialprogramme und die Förderung von Integration und kulturellem Austausch in allen Bereichen der Stadt. Nur ein ganzheitlicher Ansatz kann die soziale und kulturelle Segregation in Berlin langfristig überwinden und eine inklusive Gesellschaft schaffen, in der alle Kinder gleiche Chancen haben.

Paris
Photo left: Pxhere / CC0 1.0 DEED; Photo right: Wikimedia Commons / Ralf Treinen

AUSKLAPPEN: Segregation in Paris

Paris, die Stadt des Glanzes, der Liebe und auch der Banlieues (Vorstädte). Regelmäßig sind die Banlieues von Paris in den Nachrichten, vor allem die im Norden der überbevölkerten Stadt. Paris wird nicht nur von Tourist*innen gut besucht, sondern auch von Student*innen, die dort ein oder zwei Semester verbringen. Sie alle sind auf der Suche nach erschwinglichen Wohnungen, die, wie in fast jeder Großstadt, rar sind. Für eine Student*in in Paris bedeutet das, in einem 10- bis 15-Quadratmeter-Zimmer zu leben und sich manchmal die Toilette zu teilen, die sich im Erdgeschoss befindet. Mehr als 30 Millionen Tourist*innen pro Jahr übernachten in Hotels oder Airbnbs in der Nähe des Zentrums und nehmen damit die Wohnmöglichkeiten in Paris fast vollständig ein. Viele Menschen ziehen in die Banlieues, da die Mieten in der Innenstadt in die Höhe schießen. Die räumliche Segregation ist in Paris und in der Region Île de France sehr präsent. Sie zeigt sich in den Vorurteilen gegenüber einigen Banlieues, in den Möglichkeiten, von den Vororten ins Zentrum zu gelangen, im Fehlen einiger wichtiger Einrichtungen und manchmal sogar im Mangel an medizinischer Versorgung, da es nicht genügend Ärzt*innen für die große Zahl der Einwohner*innen gibt.

Léa S. studiert in Paris und hat immer in der Banlieue gelebt, nie in Paris selbst. Zunächst lebte sie bei ihrer Großmutter und musste ständig arbeiten, manchmal mit zwei oder drei Jobs gleichzeitig, um ihr Studium und ihre Wohnung zu finanzieren. Léas Familie ist nicht arm, sie wuchs in der Bretagne in einer gut situierten Mittelklassefamilie auf, aber sie musste hart arbeiten, um sich ein Leben in Paris leisten zu können. Es war für sie seltsam, dass die meisten ihrer Freund*innen in Paris lebten, einige in sehr schönen Vierteln, und nicht viel oder gar nicht arbeiten mussten.

Wie kann es sein, dass eine Person aus einer Familie mit mittlerem Einkommen neben dem Studium noch zwei oder drei Jobs annehmen muss? Entstehen in Paris so große Klüfte zwischen den Gesellschaftsschichten? Léa sagt, dass die Segregation für sie mehrere Ebenen hat und in verschiedenen Bereichen sichtbar ist: „Als ich an der Sorbonne ankam, habe ich die Kluft zwischen den Klassen gespürt. Als ich letztes Jahr in einer Pariser Kommunikationsagentur zu arbeiten begann, wurden die Unterschiede noch deutlicher. Die Kinder meiner Kolleg*innen sprachen Englisch seit sie acht Jahre alt waren, gingen fast jedes Wochenende ins Museum und hatten mehr Ahnung von Filmwissenschaft als ich.“ Das zeigt, dass wohlhabende Familien, die die Miete in Paris bezahlen können, ihren Kindern auch eine bessere kulturelle und schulische Ausbildung bieten können. Das wiederum bedeutet, dass diese Kinder später mit größerer Wahrscheinlichkeit einen guten Job haben als Kinder aus der Banlieue, wo sie keinen Zugang zu Museen, guten Schulen und dem Geld haben, um all das zu bezahlen. Es scheint ein Teufelskreis zu sein, aus dem man nur schwer ausbrechen kann.

Léas Meinung wird in einem NZZ-Artikel aufgegriffen, in dem es heißt, dass die "neuen Einwohner des Quartier de la Goutte d’Or im stark durchmischten 18. Arrondissement [...] ihre Kinder nicht in die nächstgelegenen Schulen, sondern in jene des bürgerlicheren Westens des Viertels oder ins 9. Arrondissement [schickten]”.

Léa erwähnt nicht nur die soziale und kulturelle Segregation, mit der sie tagtäglich konfrontiert ist, sondern hebt auch die rassische Segregation hervor. Sie ist immer mit Rassismus verbunden und scheint eine Folge der kulturellen Segregation zu sein. „Ich fühle keine Segregation, ich bin weiß, aber ich sehe die rassische Segregation von Zeit zu Zeit, weil mein Freund nicht weiß ist. Die Familie meines Freundes und viele seiner Freund*innen leben in den Banlieues. Er ist dort aufgewachsen, und in seinem Viertel leben mehr Menschen mit Migrationshintergrund als Menschen ohne Migrationshintergrund. Kulturelle Segregation und rassische Segregation gehen Hand in Hand. Menschen mit Migrationshintergrund leben in einer anderen Kultur und haben in der Regel nicht das Geld, um sich eine Wohnung in Paris zu leisten - daher ziehen sie in die Vororte, wo sie auf andere Menschen ihrer Kultur oder anderer Kulturen treffen, die nicht als“typisch französisch" gelten. Andererseits gibt es auch sehr teure Vorstädte mit Einfamilienhäusern, in denen sich die Reichsten der Reichen niedergelassen haben. Hier findet man in der Regel nur Familien mit sehr französischen Wurzeln.

Die Banlieues werden in den Medien oft als schlechte Orte voller Gewalt dargestellt. „Ich will nicht sagen, dass alle Vorstädte schlecht und voller Gewalt sind, wie sie in den Medien oft dargestellt werden, aber es gibt sie“, sagt Léa. Das Vorurteil, dass Vorstädte immer soziale Brennpunkte sind, die Stigmatisierung der Banlieue als „sozialer Brennpunkt“ oder „Ghetto“ hat dazu geführt, dass die räumliche Konzentration sozialer Probleme selbst zu einer Ursache für Ausgrenzung und Benachteiligung geworden ist. So haben zahlreiche Studien gezeigt, dass die Bewohner*innen von Problemvierteln aufgrund ihres Wohnorts beim Zugang zum Arbeitsmarkt und bei der Wohnungssuche außerhalb der Problemviertel diskriminiert werden. Diese Diskriminierung betrifft insbesondere Migrant*innen, die mehr als die Hälfte aller Vorstadtbewohner*innen ausmachen.

„Die Pariser Stadtverwaltung versucht, der“Gentrifizierung„, der Übernahme der Stadt durch die besser Gebildeten und Bessergestellten, entgegenzuwirken, indem sie einige dieser Wohnungen erwirbt und sie in Sozialwohnungen umwandelt.“ Hoffen wir, dass es mit dem sozialen Wohnungsbau klappt und Paris als Stadt der Liebe und des Glanzes sich nicht in eine monokulturelle Stadt verwandelt.

Madrid
Photo left: Gonzalo Galván Martín / All Rights Reserved; Photo right: Leah Pattem / All Rights Reserved

AUSKLAPPEN: Segragation in Madrid

Die pulsierende Stadt Madrid, reich an kultureller Vielfalt und historischer Bedeutung, hat mit einem immer drängenderen Problem zu kämpfen, das das soziale Gefüge ihrer verschiedenen Stadtteile bedroht: die sozioökonomische Segregation. Die Ungleichheiten zeigen sich am deutlichsten bei den Wohnverhältnissen, wo bestimmte Viertel zu Enklaven des Wohlstands geworden sind, während andere mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben. Da sich Madrid immer mehr zu einer Weltstadt entwickelt, die nationale und internationale Einwohner anzieht, ist die große Kluft zwischen Arm und Reich zu einem zentralen Problem für politische Entscheidungstragende, Stadtplaner*innen und die Einwohner*innen der Stadt geworden.

Vor diesem Hintergrund haben wir uns mit Leah Pattem unterhalten, einer unabhängigen britisch-indischen Journalistin in Madrid, die über aktuelle Themen und unterrepräsentierte Geschichten aus der spanischen Gesellschaft berichtet. Sie lebt seit zehn Jahren in einem Madrider Viertel namens Lavapiés. In dieser Zeit hat sie sich aktiv in ihrer Nachbarschaft engagiert und versucht, die verschiedenen Probleme anzugehen und Teil der Lösung zu sein, obwohl sie von den Einheimischen mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert wurde und man ihr sagte, sie solle sich nicht in die lokalen Angelegenheiten einmischen. Sie hat eine Online-Medienplattform mit dem Namen Madrid No Frills ins Leben gerufen, auf der sie sich mit den soziopolitischen Problemen in Madrid auseinandersetzt und gleichzeitig daran arbeitet, dieselben Themen in ihren journalistischen Arbeiten zu behandeln.

Einer der Gründe für die sozioökonomische Segregation in Madrid sind die hohen Lebenshaltungskosten, insbesondere im Stadtzentrum. Während Luxuswohnungen und gehobene Geschäfte in Gegenden wie Salamanca und Chamberí florieren, werden Bewohner*innen mit geringerem Einkommen an den Stadtrand gedrängt, wo Wohnraum erschwinglicher ist, aber Annehmlichkeiten und Chancen Mangelware sind. Diese räumliche Trennung verschärft die soziale Kluft und schafft ein deutliches Gefühl der Ungleichheit. In Lavapiés wurde eine Reihe von Bewohner*innen, die einen befristeten Vertrag hatten, von den Eigentümer*innen vertrieben, wie Leah bemerkt. Sie sagt, dass sie in ein paar Jahren wahrscheinlich auf die gleiche Weise betroffen sein wird. Die Deregulierung der Immobilienbranche hat dazu geführt, dass Lavapiés wegen seiner zentralen Lage besonders ins Visier genommen wurde, so dass die Zahl der Tourist*innen und Student*innen, die dort wohnen wollen, gestiegen ist. Das begünstigt angesichts des derzeitigen wirtschaftlichen Klimas und der Rechtslage im Wohnungswesen vor allem die Vermieter*innen.

„Ich bin nicht Teil des Problems - ich bin Teil der Lösung.“

 Leah Pattem

Als Reaktion auf die Herausforderung der Segregation hat sich in Madrid eine Welle von Bürgerinitiativen gebildet. Die Madrider Bevölkerung mobilisiert sich durch Gemeinschaftsaktionen, um die lokalen Bedürfnisse der Bürger*innen zu erfüllen, aber auch um den Dialog zwischen den Einwohner*innen und den politischen Entscheidungsträger*innen zu fördern. So soll sichergestellt werden, dass die Stimmen derjenigen, die am meisten von der städtischen Segregation betroffen sind, gehört werden. Leah erwähnt, dass es in Lavapiés viele verschiedene Bewegungen gibt, die sich darauf konzentrieren, die Nachbarschaft zusammenzubringen, um die Probleme zu bewältigen, unter denen sie alle leiden. Feministische Bewegungen befassen sich mit der Segregation, weil so viele Frauen von Zwangsräumungen betroffen sind. Und auch senegalesische und bangladeschische Gruppen sensibilisieren für das Thema Wohnen und klären die Menschen über ihre Rechte auf.

Einige Gruppen wie die Mietergewerkschaft von Madrid (Sindicato de Inquilinas e Inquilinos de Madrid), die Nachbarschaftsvereinigung Vecinas y Vecinos de Arganzuela oder die Basisbewegung Asamblea 15M setzen sich für eine Politik ein, die erschwinglichen Wohnungen, einer verbesserten öffentlichen Infrastruktur und verstärkten Investitionen in das Bildungs- und Gesundheitswesen in unterprivilegierten Gegenden Vorrang einräumt. Ein wirksames Mittel, um das Ziel der Verringerung der Segregation zu erreichen, ist die Zusammenarbeit zwischen den Basisbewegungen und den lokalen politischen Parteien, die die Anliegen und Ideen direkt an den Rat herantragen können.

Die Stadtverwaltung von Madrid hat das drängende Problem der sozioökonomischen Segregation erkannt und verschiedene Maßnahmen ergriffen, um das wachsende städtische Dilemma zu lösen. Der "Plan Madrid Recupera" ist ein Beispiel dafür und konzentriert sich auf die Wiederbelebung vernachlässigter Gebiete durch die Verbesserung von Parks, öffentlichen Plätzen und Verkehrsnetzen. Diese Bemühungen zielen darauf ab, ein lebenswerteres Umfeld zu schaffen und die physischen Barrieren abzubauen, die zur sozioökonomischen Segregation beitragen. Trotz dieser Initiativen gibt es nach wie vor Probleme.

Um das Problem der Segregation wirksam zu lösen, braucht es viel mehr Einigkeit und Vertrauen zwischen den politischen Organisationen und den Nachbarschaftsverbänden, meint Leah. Aber es ist von grundlegender Bedeutung, dass sich die Bürger*innen engagieren und verstehen, was in ihrer Stadt vor sich geht, um etwas dagegen unternehmen zu können. Die gesamte Stadt muss miteinander kommunizieren. Sie betont, dass die ausländischen Einwanderer*innen, die nach Madrid kommen, nicht als Problem, sondern als Lösung gesehen werden sollten. Sie alle können sich in Nachbarschaftsbewegungen engagieren und an der Lösung gemeinsamer Probleme arbeiten.

Segregation in Europa - was tun?

Dieser Artikel hat vielleicht nur ein kleines Licht auf das komplizierte und sich ständig ausweitende Problem der städtischen Segregation in Europa geworfen. Die europäischen Hauptstädte ziehen jeden Tag mehr Menschen an, und die Probleme verschärfen sich bereits seit vielen Jahren. Die Beispiele der Städte in diesem Text zeigen, dass verschiedene Arten der Segregation im Stadtbild miteinander verwoben sind: Zur räumlichen Segregation kommen sozioökonomische, kulturelle und bildungsbezogene Segregation.

In den genannten Hauptstädten bilden die Kommunalpolitik, die Wohnungsmärkte und Wohnungssysteme die Grundlage für die Zunahme der städtischen Segregation, aber sie tragen nicht allein zu diesem Problem bei. Es sind auch die Menschen, die entscheiden, wie sie mit ihren Mitbürger*innen interagieren: von der Entscheidung über die Zusammensetzung der Schulklasse bis zum Verzicht auf Interaktionen mit anderen sozialen Gruppen und Klassen. Die städtischen Behörden müssen wirksame Strategien ausarbeiten, um die bestehenden Ungleichheiten zwischen den Bürger*innen zu beseitigen, aber auch die Einwohner*innen selbst können die Kraft haben, die Stadtstruktur zu verändern und sie integrativer zu gestalten. Vielleicht könnte die letzte Zeile des Songs Banlieusards des französischen Rappers Kery James - „apprendre, comprendre, entreprendre“ (lernen, verstehen, interagieren) - ein Schlüssel zur Lösung dieses städtischen Dilemmas sein.

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Newsroom Europa", das junge Europäer aus drei EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Schweden und Spanien) in kritischer und aufgeschlossener Medienberichterstattung und zur Funktionsweise der europäischen Entscheidungsfindung schult. Das Projekt wird gemeinsam von der Europäischen Akademie Berlin e.V. durchgeführt Nationalmuseen für Weltkultur Schweden und der Friedrich-Naumann-Stiftung Spanien und wird auch von der Europäischen Union kofinanziert.



Förderer des Projekts „Newsroom Europe“


Ihr Kommentar
Vorgeschaltete Moderation

Achtung, Ihre Nachricht wird erst nach vorheriger Prüfung freigegeben.

Wer sind Sie?

Um Ihren Avatar hier anzeigen zu lassen, registrieren Sie sich erst hier gravatar.com (kostenlos und einfach). Vergessen Sie nicht, hier Ihre E-Mail-Adresse einzutragen.

Hinterlassen Sie Ihren Kommentar hier.

Dieses Feld akzeptiert SPIP-Abkürzungen {{gras}} {italique} -*liste [texte->url] <quote> <code> et le code HTML <q> <del> <ins>. Absätze anlegen mit Leerzeilen.

Kommentare verfolgen: RSS 2.0 | Atom