Wie gehen die EU-Staaten mit Sexarbeit um?

, von  Jasmin Nimmrich, Marie Giebler, Marina Vidal Rico

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Wie gehen die EU-Staaten mit Sexarbeit um?
Sexarbeit findet oft im Verborgenen statt - Regierungen in den EU-Ländern gehen damit auf verschiedenste Weise um. Foto: Fursov Dmytro/Getty Images, Zerbor & Chris_Temfe/Getty Images via Canva Pro

Im vergangenen September hat das Europäische Parlament mit 234 Ja-Stimmen, 175 Nein-Stimmen und 122 Enthaltungen einen Bericht über die Regulierung der Prostitution angenommen. Der Text, der darauf abzielt, die Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen zu verringern und Freier zu „bestrafen“, wurde von zahlreichen Verbänden von Sexarbeitenden und Nichtregierungsorganisationen kritisiert. Und obwohl die Entscheidung der Kammer keine gesetzgeberische Wirkung hat, hat sie eine Diskussion ausgelöst, mit der sich die europäischen Länder schon seit Jahren beschäftigen: Wie kann man die Sexarbeit regulieren?

Auf der Suche nach der Antwort sind sowohl geschlechtsspezifische als auch menschenrechtliche Dimensionen zu beachten. Dies erschwert eine einheitlich EU-weite Beantwortung dieser Frage. In den letzten Jahrzehnten konnte sich jedoch auf eine kleine gemeinsame Basis in Bezug auf die Definition von „Sexarbeit“ und mögliche Legalisierungs-Ansätze geeinigt werden.

Wer und was gilt als Sexarbeiter oder Sexarbeiterin? Warum die Sprache wichtig ist.

Für diesen Text folgen wir der Definition des UNAIDS-Leitfadens zu HIV und Sexarbeit, der Sexarbeitende als "weibliche, männliche und Transgender-Erwachsene über 18 Jahre definiert, die regelmäßig oder gelegentlich Geld oder Waren als Gegenleistung für sexuelle Dienstleistungen erhalten und die sich selbst als Sexarbeitende bezeichnen können oder auch nicht. Bei dieser Definition sind drei Elemente hervorzuheben:

  1. Sexarbeit betrifft nur Erwachsene;
  2. Sexarbeit umfasst einvernehmliche Handlungen zwischen Erwachsenen; und
  3. Handlungen, die Täuschung, Betrug, Nötigung, Zwang oder Gewalt beinhalten, fallen nicht unter die Definition von Sexarbeit."

Dr. Elena Jeffreys, selbst Sexarbeiterin und Anwältin für die Belange anderer Sexarbeitender, hob in einer Veröffentlichung hervor, wie wichtig es sei, „Sexarbeit“ als inklusiven Oberbegriff bei der Organisation, der Politikgestaltung und der Bereitstellung von Dienstleistungen zu verwenden. Sie betonte, dass das Engagement der Sexarbeitenden-Bewegung für die Annahme und das Eintreten für eine angemessene Terminologie als erzieherisches Mittel dient und das Konzept stärkt, dass Sexarbeit eine legitime Form der Arbeit ist.

Die Sprache ist ein mächtiges Instrument, das Realitäten schafft und formt. Und die Art und Weise, wie wir über Sexarbeit sprechen, ist niemals neutral, denn sie vermittelt Bedeutung und beeinflusst, wie die Menschen das Thema verstehen und wie es gestaltet wird. Sie kann leicht zu einer vereinfachten oder stereotypen Darstellung führen, die die Komplexität der Realität von Sexarbeitenden außer Acht lässt.

Zwischen Legalisierung und Kriminalisierung

In Europa gibt es verschiedene Modelle zur Regulierung von Sexarbeit. So haben sich beispielsweise Deutschland und die Niederlande für ein Modell der vollständigen Legalisierung entschieden, bei dem Sexarbeit als legitimer Beruf behandelt wird. Damit einher geht die Verpflichtung für Sexarbeitende, ihren Beruf anzumelden und Einkommenssteuer zu zahlen. Weiterhin bestehen bei diesem Modell arbeitsrechtliche Vorschriften und Rechte als auch Schutzmaßnahmen. Ein Verstoß gegen diese Gesetze und der Kauf und Verkauf von Sex außerhalb dieser Vorschriften wird mit einer Verhaftung geahndet.

Auf der anderen Seite hat sich unter anderem Schweden für einen Ansatz der teilweisen Entkriminalisierung entschieden, bei dem der Verkauf von Sex legal ist, der Kauf von Sex jedoch nicht. Dieses Modell zielt darauf ab, die rechtlichen Konsequenzen auf die Kaufenden von Sex zu verlagern und nicht auf die Verkaufenden. Nach Ansicht von Michelle N. Jeanis, Assistenzprofessorin für Strafrecht an der University of Louisiana in Lafayette, scheint dies in vielerlei Hinsicht mit einer Verringerung des Schadens verbunden zu sein. Allerdings gäbe es bei diesem Modell immer noch viele Möglichkeiten, Schaden anzurichten. „Besonders im Bereich des Sexhandels. Obwohl wir in der Forschung viele Beispiele dafür sehen, wie es die Ausbeutung von Menschen verhindern oder verringern kann, ist weitere Forschung erforderlich."

Und dann wären da noch Belgien und Neuseeland, sie ein Entkriminalisierungsmodell anwenden, für das sich laut Organisationen wie der European Sex Workers’ Rights Alliance (ESWA) vor allem Sexarbeitende selbst einsetzen. Im Gegensatz zur Alternative der vollständigen Legalisierung begehen einvernehmlich handelnde Erwachsene, die Sex kaufen oder verkaufen, keine Straftat und sind daher nicht strafbar.

Die Debatte über das effektivste und ethischste Modell der Legalisierung hält weiter an. Bislang haben sich die meisten Untersuchungen zu diesem Thema auf die Ansätze zur Legalisierung oder Entkriminalisierung von Sexarbeit konzentriert. May-Len Skilbrei, Professorin an der Fakultät für Kriminologie und Rechtssoziologie der Universität Oslo, meint dazu: „Politische Debatten sind in der Regel auf eine Handvoll Länder ausgerichtet, daher gibt es eine Menge Forschung über einige Länder. Über andere wiederum gibt es nur sehr wenig Forschung.“ Ihrer Ansicht nach führt dies zu einer Verzerrung des vorhandenen Wissens, die für ein besseres Verständnis der politischen Maßnahmen und ihrer Ergebnisse beseitigt werden muss.

Skilbrei zufolge ist es wichtig, über die gesetzgeberischen und politischen Ansätze zur Prostitution hinaus zu berücksichtigen, dass „die Art und Weise, wie Prostitution gesetzlich geregelt ist, nicht notwendigerweise in der alltäglichen Verwaltung der Prostitutionsmärkte zum Tragen kommt. So können Länder mit sehr ähnlichen Gesetzen tatsächlich sehr unterschiedlich an die Prostitution herangehen.„Für die Professorin könnte ein stärker datengestützter Ansatz, der Aspekte jenseits der „Gruppe, die um das Phänomen herum organisiert ist (z. B. Sexarbeiterorganisationen)“ berücksichtigt, bei der Entscheidungsfindung in dieser Hinsicht helfen. Auch Professor Jeanis stimmt dem zu: „Um diese Ziele zu erreichen, ist eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Praktikern und Forschenden dringend erforderlich“.

Das nordische Modell in Zahlen

Das 1999 in Schweden eingeführte nordische Strafrechtsmodell zur Bekämpfung der Sexarbeit stellt eine Pionierleistung zur Bekämpfung der kommerziellen Sexindustrie durch die Kriminalisierung von Sexkäufern dar. Es wird als zentrale Strategie zur Beseitigung der Nachfrage nach sexuellen Dienstleistungen angesehen. Neben Schweden regulieren auch Norwegen und Finnland die nationale Sexarbeit durch das nordische Modell. Dieses basiert auf radikalfeministischen Argumenten und betrachtet kommerziellen Sex als eine Form der Gewalt gegen Frauen. Nach diesem Modell müssen diejenigen, die Sex kaufen, und Dritte mit rechtlichen Konsequenzen rechnen, während diejenigen, die Sex verkaufen, nicht strafrechtlich verfolgt werden, da sie als schutzbedürftige Opfer betrachtet werden. Hinter der Gesetzesänderung steht das weiter gefasste Ziel, die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern und das gesellschaftliche und individuelle Wohlergehen zu verbessern, indem das Gesetz als normatives Instrument genutzt wird, um die gesellschaftliche Missbilligung und Ablehnung von kommerziellem Sex zu vermitteln.

Der nordische Ansatz zielt dabei direkt auf die Nachfrage nach Prostitution ab, indem er die Handlungen von Zuhältern und Käufern kriminalisiert und nicht die Handlungen der prostituierten Personen: Es ist eine Form der asymmetrischen Entkriminalisierung. Dieses Modell erkennt an, dass die überwiegende Mehrheit der Käufer Männer und die überwiegende Mehrheit der Sexarbeiterinnen Frauen und Mädchen sind. Der Ansatz umfasst öffentliche Aufklärungsprogramme, die vom Kauf von Sex abraten, sowie umfassende Ausstiegsprogramme und soziale und wirtschaftliche Unterstützung, um den Prostituierten beim Ausstieg aus der Branche zu helfen.

Die vollständige Legalisierung in Zahlen

Unter den Ländern in der EU, die Sexarbeit legalisieren, unterscheidet eine Studie des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 2021 zwischen den Ländern, die Sexarbeit vollständig, teilweise oder gar nicht regulieren. In der ersten Ländergruppe finden sich neben Deutschland, mit einer von Erobella für 2023 geschätzten Zahl von 88.800 SexarbeiterInnen, Länder wie Griechenland, Lettland, die Niederlande, Österreich und Ungarn. In Deutschland ist Sexarbeit seit 2002 legal, aber 2016 und 2017 gab es zwei wichtige gesetzliche Änderungen: Erstens wurde eine neue Bestimmung des Strafgesetzbuches (§ 232a StGB) erlassen, die sich gegen Kunden von gehandelten und gezwungenen Sexarbeitenden richtet. Zweitens wurde das Prostituiertenschutzgesetz verabschiedet, um Sexarbeiterinnen zu unterstützen und kriminelle Ausbeutung zu bekämpfen. Das Gesetz enthält obligatorische Verpflichtungen für Sexarbeitende, wie beispielsweise die Registrierung und obligatorische Beratung, es schreibt die Verwendung von Kondomen vor und führt Beschränkungen für die Werbung für sexuelle Dienstleistungen ein.

Unterschiedliche Arten des Regulation von Sexarbeit in EU-Ländern

Die zweite Gruppe, die Sexarbeit nur teilweise oder gar nicht reguliert, ist laut der EU-Studie mit 55,6 Prozent die größere Gruppe. Zu ihr gehören Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Italien, Luxemburg, Malta, Polen, Portugal, die Slowakei, Slowenien, Spanien, die Tschechische Republik und Zypern.

So hat die Tschechische Republik seit 1990 Prostitution legalisiert, sie aber weitgehend ungeregelt gelassen. Die nationalen Gesetze stellen die Verleitung zur oder den Gewinn aus der Sexarbeit unter Strafe (Artikel 189 c.c.), einschließlich spezieller Straftaten für Sexarbeiter in der Nähe von Orten für Kinder (Artikel 190 c.c.). Die Gemeinden können die Prostitution im Rahmen von „kommunalen Angelegenheiten der öffentlichen Ordnung" regeln und Verstöße mit Geldbußen ahnden. Obwohl es landesweit mehr als 860 Bordelle gibt (200 davon in Prag), ist die Strafverfolgung oft lax und organisierte Prostitution weit verbreitet.

Das Entkriminalisierungsmodell in Zahlen

Seit dem 1. Juni 2022 gilt Sexarbeit in Belgien nicht mehr als illegal. Es ist somit das erste Land in Europa und nach Neuseeland das zweite Land weltweit, das Sexarbeit entkriminalisiert. Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter dürfen sich daher als selbstständig melden und ein im Juni 2023 verabschiedetes Gesetz ermöglicht es ihnen nun auch, als Angestellte zu arbeiten. Mit diesem Beschluss sollen mehr Sicherheitsmaßnahmen, wie die Installation von Sicherheitsknöpfen am Arbeitsplatz, sowie das Erfordernis, dass der Arbeitgeber nicht vorbestraft sein darf, gewährleistet werden.

Für Sexarbeitende in Belgien ist daher eine Arbeitserlaubnis erforderlich, die es Wanderarbeitnehmern ermöglicht, ihre Dienste anzubieten, wenn sie im Besitz eines Visums sind. In Neuseeland hingegen ist es Wanderarbeitnehmern und Personen mit einem Arbeitsvisum nicht gestattet, sexuelle Dienstleistungen gegen Geld anzubieten. Das neuseeländische Prostitutionsreformgesetz (2003) gilt ausschließlich für Bürger über 18 Jahre, die sexuelle Dienstleistungen verkaufen, egal ob auf der Straße oder in einem Bordell. Die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern in Neuseeland sind durch die Arbeits- und Menschenrechtsgesetzgebung zu gewährleisten. Vor der Legalisierung wurde übrigens das Nordische Modell in Betracht gezogen, aber vom neuseeländische Parlament nach Anhörung von Sexarbeiterinnen und Feministinnen abgelehnt.

Auf dem Weg zu einem europäischen Ansatz?

Mit dem Bericht vom September letzten Jahres hat das Europäische Parlament versucht, ein einheitlicheres Vorgehen gegen Sexarbeit zu erreichen. Zu den weiteren jüngsten Entwicklungen in diesem Bereich gehören die ebenfalls vom Europäischen Parlament verabschiedete Entschließung aus dem Jahr 2014, in der den EU-Mitgliedstaaten empfohlen wird, das nordische Modell zu übernehmen. Und auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom August letzten Jahres, eine Klage von Sexarbeitern gegen ein französisches Anti-Sexarbeitsgesetz anzuhören, ist wegweisend für den Umgang der EU mit Sexarbeitenden. Diese Entscheidung wurde unter anderem von UN-Sachverständigen und dem Global Network of Sex Work Projects begrüßt, die die Ankündigung des Gerichts als „bahnbrechenden Sieg" bezeichneten.

Und obwohl die Sexarbeit, wie Professor Skilbrei betont, heute mehr denn je auf europäischer Ebene diskutiert wird, fällt das Thema aufgrund seiner Verbindung zum Strafrecht in den meisten Fällen in die nationale Zuständigkeit. „Nur wenn es sich um hochgradig transnationale Themen handelt, können sie in Zusammenarbeit behandelt werden", fügt sie hinzu. Für die Forscherin ist das Argument, dass die EU einen kollektiven strafrechtlichen Ansatz für die Sexarbeit entwickeln sollte, zwangsläufig mit dem Menschenhandel und dessen Platz auf der europäischen Agenda verbunden.

Darüber hinaus ist „eine europäische Harmonisierung möglicherweise keine gute Idee„, so Skilbrei, denn „es gibt große Unterschiede zwischen den Ländern in Bezug auf Rechtskulturen, polizeiliche Qualifikationen, Interaktion mit anderen Gesetzen, Interaktion mit gesellschaftlichen Normen, und es gibt gute Gründe für die Annahme, dass Strafverfolgungsmaßnahmen, die auf dem Papier ähnlich sind, in der Praxis nicht so sein werden“. Michelle N. Jeanis fügt hinzu, dass die Annahme eines Modells in einem anderen Kontext als dem, in dem es entstanden ist, zwar möglich ist, dass sich aber die Wahrnehmung von Sexarbeit ändern und sich in der Politik widerspiegeln muss, was ein ganz anderes Thema ist.

Abgesehen von der Frage, wie Sexarbeit reguliert werden kann, müssen die EU-Länder auch überlegen, ob eine Vereinbarung über eine Regulierung überhaupt möglich oder für die verschiedenen Kontexte von Vorteil ist. So oder so sind sich Forschende und internationale Organisationen in einem Punkt einig: Bei der Ausarbeitung von Maßnahmen im Zusammenhang mit der Ausübung von Sexarbeit sollte der Schwerpunkt auf der Gleichstellung der Geschlechter und der Gewährleistung grundlegender Menschenrechte liegen.

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Newsroom Europa", das junge Europäer aus drei EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Schweden und Spanien) in kritischer und aufgeschlossener Medienberichterstattung und zur Funktionsweise der europäischen Entscheidungsfindung schult. Das Projekt wird gemeinsam von der Europäischen Akademie Berlin e.V. durchgeführt Nationalmuseen für Weltkultur Schweden und der Friedrich-Naumann-Stiftung Spanien und wird auch von der Europäischen Union kofinanziert.



Förderer des Projekts „Newsroom Europe“


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