5 Jahre von der Leyen-Kommission

Rechtsstaatlichkeit und Demokratie: Ein Blick auf die jüngsten Entwicklungen

, von  Lina Griess

Rechtsstaatlichkeit und Demokratie: Ein Blick auf die jüngsten Entwicklungen
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„Wir streben nach einer Union der Gleichheit, Toleranz und sozialen Gerechtigkeit, die auf Rechtsstaatlichkeit beruht“, lautet eine der sechs politischen Prioritäten der amtierenden EU-Kommission zu Beginn der Legislaturperiode im Jahr 2019. Aber konnte die EU-Kommission ihrem eigenen Anspruch unter der Kommissionspräsidentschaft von Ursula von der Leyen bezüglich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie tatsächlich gerecht werden?

Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bilden die grundlegenden Prinzipien der Europäischen Union, zu deren Einhaltung sich alle 27 Mitgliedsstaaten mit ihrem Beitritt zur Europäischen Union verpflichtet haben. Durch den wachsenden Erfolg populistischer Bewegungen und Parteien, der einige von ihnen in die Regierungen in mehreren europäischen Ländern getragen hat, zeigte sich jedoch in den letzten Jahren jedoch, dass die gemeinsam geteilten europäischen Werte nicht von allen Mitgliedsstaaten gleich geachtet und akzeptiert werden. Dies führt nicht nur zu wachsenden Spannungen innerhalb der betroffenen Gesellschaften, sondern auch zu Verwerfungen zwischen den Mitgliedsstaaten der EU und den populistischen Regierungen. Im Umgang mit diesen entstehen ebenfalls Spannungen zwischen den Organen der EU selbst.

Insbesondere in Polen unter der PiS-Regierung und in Ungarn unter der Fidesz-Regierung wurde die EU-Kommission in den letzten Jahren vor große Herausforderungen gestellt. Das Verhältnis zwischen Brüssel und Polen bzw. Ungarn war in den letzten fünf Jahren sehr angespannt.

Was bedeutet Rechtsstaatlichkeit und was ist in Polen und Ungarn passiert?

Per Definition bedeutet Rechtsstaatlichkeit, dass jegliche öffentliche Gewalt stets in den Grenzen von Recht und Gesetz ausgeübt werden muss. Rechtsstaatlichkeit erfordert den gleichen Schutz Aller durch das Gesetz und verhindert eine willkürliche Machtausübung durch die Regierung. Sie soll den Schutz und die Wahrung der grundlegenden politischen und bürgerlichen Rechte und Freiheiten gewährleisten.

Demgegenüber standen in den letzten Jahren Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit in Ungarn sowie eine umfangreiche Justizreform in Polen. Diese gefährdete die Unabhängigkeit der Justiz, da die rechtsnationalistische PiS-Partei ein Gesetz erließ, wonach kritische Richter*innen durch Geldstrafen oder Herabstufungen gemaßregelt oder sogar entlassen werden konnten. Dazu kommt in Ungarn eine immer weiter fortschreitende Einschränkung der Rechte von Minderheiten, wie beispielsweise der LGTBQIA+-Communities, der Geflüchteten oder Menschen mit Migrationshintergrund. Zum Beispiel verabschiedete die Fidesz-geführte Regierung in Budapest ein Gesetz, welches etwa die sexuelle Aufklärung Minderjähriger in Schulen erheblich einschränkt. Ebenso erließ die Orban-Regierung im Jahr 2021 ein Gesetz zur Beschränkung der Informationen über Homo- und Transsexualität im öffentlichen Raum.

Diese Beispiele bilden nur einen Teil von Maßnahmen der rechtsnationalistischen Regierungen Polens und Ungarns in den letzten fünf Jahren ab, welche mit dem Bestreben der Kommission nach einer Union, die „auf Gleichheit, Toleranz, sozialer Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit“ beruht, kollidieren.

Welche Maßnahmen hat die von der Leyen Kommission zur Stärkung und zum Schutz demokratischer Werte und Rechtsstaatlichkeit ergriffen?

Die EU-Kommission verfügte bereits vor der Legislaturperiode 2019 – 2024 über ein großes Instrumentarium, um Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit zu sanktionieren. So besteht z.B. zur Behebung schwerwiegender Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit die Möglichkeit, ein Verfahren nach Artikel 7 EUV einzuleiten. Als schwerste Sanktion sieht das Verfahren die Entziehung des Stimmrechts vor. Doch was auf den ersten Blick wie ein wirksames Instrument zur Sanktionierung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit wirkt, erwies sich in der Vergangenheit häufig als ineffektiv. Die Sanktionierung erfordert jedoch die Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten (bis auf die Stimme des betroffenen Mitgliedsstaates). Dadurch büßt das Art. 7 Verfahren einiges an Bedrohungspotenzial ein.. So wurde es zwar mehrmals eingeleitet, Sanktionen konnten bisher jedoch nicht verhängt werden. Beispielhaft hierfür ist das 2017 eingeleitete Verfahren gegen Polen, welches daran scheiterte, dass Ungarn sein Veto einlegte und es somit an der erforderlichen Einstimmigkeit mangelte. Sobald sich also zwei Regierungen gegenseitig unterstützen, können sie durch ihre Vetos das Verfahren ins Leere laufen lassen.

Deshalb mehrte sich in den letzten Jahren auch die Kritik an dem Umgang der EU-Kommission mit Polen und Ungarn. Es gibt nicht genug effektive Werkzeuge, im zu verhindern, dass Rechtsstaatlichkeit abgebaut wird oder Verstöße konsequent sanktioniert werden.

Zwar veröffentlicht die EU-Kommission seit 2020 jährlich einen „EU-Bericht zur Rechtsstaatlichkeit“, welcher die rechtsstaatliche Entwicklung der einzelnen Mitgliedsstaaten darstellt und Empfehlungen für Verbesserungen enthält, diese sind jedoch nicht bindend, was eine wirksame Sanktionierung somit ebenfalls erschwert.

Einführung des neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus

Um wirksamer gegen Rechtsstaatlichkeits- und Demokratieverstöße vorgehen zu können, führte die von der Leyen-geführte EU-Kommission 2020 deshalb einen neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus ein. Am 16. Dezember 2020 billigte das Europaparlament den neuen Mechanismus zur Überwachung der Rechtsstaatlichkeit, die sogenannte „Allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union“, welche seit dem 01. Januar 2021 in Kraft ist.

Hinter dem Haushalts-fokussiert klingenden Namen verbirgt sich erstmals die Möglichkeit, Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit finanziell zu sanktionieren, ohne dass alle Mitgliedsstaaten dafür stimmen müssen. So einigten sich das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union im Dezember 2020 darauf, EU-Finanzmittel mit der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu verknüpfen. Mitgliedsstaaten sollten von nun an nur noch dann EU-Mittel erhalten, wenn sie sich an die Rechtsstaatsprinzipien der Europäischen Union halten. So sollte erstens verhindert werden, dass EU-Mittel zur Untergrabung demokratischer Werte verwendet werden und zweitens sollten nationale Regierungen durch das Einfrieren von EU-Geldern (teilweise in Milliardenhöhe) unter Druck gesetzt und so zur Durchführung von Reformen zur Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit bewegt werden.

Einsatz des neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus in Polen und Ungarn

Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament entschied die EU-Kommission im Jahr 2022, auf die umstrittene Justizreform der PiS-Regierung in Polen zu reagieren. 137 Milliarden Euro, davon 60 Milliarden Euro aus den Corona-Hilfsfonds der EU und 76 Milliarden Euro aus dem Kohäsionsfonds, dessen Ziel es ist, den Lebensstandard der 27 EU-Staaten auf ein gleiches Level zu bringen, wurden eingefroren. Bevor die Mittel freigegeben werden sollen, müssen die von der EU-Kommission geforderten Reformen zur Wiederherstellung der unabhängigen Justiz umgesetzt werden. Mit der Abwahl der rechtskonservativen PiS-Partei im Oktober 2023 und den Bemühungen der Regierung Tusk, die von der PiS-Regierung eingeführten Justizreformen rückgängig zu machen, kündigte Kommissionspräsidentin von der Leyen Ende Februar 2024 an, die Gelder wieder freizugeben.

Im April 2022 aktivierte die von der Leyen-Kommission außerdem den neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn. So wurden wegen wiederholter Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit mehrere Milliarden Euro aus den Kohäsionsfonds eingefroren. Im Dezember 2023 entschied die Kommission trotz bestehender Kritik an der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, zehn Milliarden Euro freizugeben. Unter anderem forderten ungarische Politiker die Freigabe von eingefrorener EU-Gelder, bevor sie den Weg für den NATO-Beitritts Schwedens freimachen wollten. Zudem drohte Ungarns Regierungschef Viktor Orban damit, den Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen der Ukraine sowie ein Hilfspaket für die Ukraine zu blockieren, sollten die Gelder nicht freigegeben werden.

Der ungarische Präsident Viktor Orban und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 03. Februar 2020; Foto: Europäische Union, 2020 / Etienne Ansotte / Copyright / erstellt mit Canva Pro

Aufgrund der umstrittenen Freigabe der Gelder einigte sich der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments mit großer Mehrheit darauf, die von der Leyen-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu verklagen, um zu klären, ob die Freigabe der Gelder an Ungarn rechtmäßig war. Laut dem EU-Abgeordneten Daniel Freund von Bündnis 90/Die Grünen stehe der Verdachtim Raum, dass sich EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen durch Orbán habe erpressen lassen. Zwar begründete die EU-Kommissionspräsidentin die Freigabe der Gelder mit den Justizreformen in Ungarn, Abgeordnete des Europäischen Parlaments sahen darin jedoch vielmehr ein Nachgeben auf die Drohungen Viktor Orbans.

Ist die EU-Kommission zu nachsichtig mit Rechtsstaatsverstößen?

Die EU-Kommission kann mit dem Mechanismus finanziellen Druck auf die nationalen Regierungen ausüben. Am Beispiel Ungarns, unabhängig davon, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Klage des Parlaments entscheiden wird, zeigt sich jedoch bereits jetzt, dass es auch beim neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus, ähnlich wie beim Art. 7 EUV-Verfahren, zu erheblichen Durchsetzungsschwierigkeiten kommen kann.

Vor allem dann, wenn betroffene Regierungen auf den Rechtsstaatsmechanismus der Kommission reagieren, indem sie in anderen Entscheidungen, ihre Zustimmung von der Freigabe von zurückgehaltenen Geldern abhängig machen. Wenn die Kommission zudem den Eindruck erweckt, auf diese Taktiererei einzelner Regierungen einzugehen, trägt die Kommission selbst dazu bei, den von ihr neu eingeführten Mechanismus seiner Wirkung zu berauben.

Demokratieaktionsplan

In der Legislaturperiode 2019 – 2024 waren der Schutz der Rechtsstaatlichkeit und die Schaffung des neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus zwar zentrales Thema, im Fokus der EU-Kommission stand gleichwohl auch die Stärkung der Demokratie und die Sensibilisierung für die Gefahren antidemokratischer Tendenzen der Bevölkerung, insbesondere mit Perspektive auf die bevorstehenden Wahlen des EU-Parlaments im Juni 2024.

Im Dezember 2020 stellte die Europäische Union einen Demokratieaktionsplan vor, welcher im Dezember 2023 durch die Kommission ergänzt wurde. Dieser soll die Meinungs- und Medienfreiheit durch Förderung von digitalem Journalismus und unabhängigen Medienorganisationen stärken. Im Mittelpunkt soll dabei unter anderem stehen, dass sich Desinformationen in der Bevölkerung nicht weiter verbreiten, vor allem wenn diese darauf abzielen, öffentlichen Schaden anzurichten und Vertrauen in die demokratischen Insitutionen zu schwächen. Durch erweiterte Rechenschaftspflichten für Online-Plattformen und einen verbesserten Verhaltenskodex soll die Verbreitung von Fehlinformationen verhindert werden. Im Mittelpunkt des Demokratie-Aktionsplans steht zudem die Förderung und der Schutz freier und fairer Wahlen. Konkrete Maßnahmen der EU-Kommission sind z.B. die Überarbeitung der „Verordnung über die Finanzierung europäischer politischer Parteien“ oder Rechtsakte zur Gewährleistung von mehr Transparenz bei sogenannter „politischer Werbung“. Was besonders in Zeiten von Tik-Tok und anderer Social-Media-Plattformen von erheblicher Relevanz ist. So sollen ab April 2024 mehrere Millionen Bürger*innen der Europäischen Union von Tik-Tok Push-Benachrichtigung erhalten, welche sie zu ihrer lokalen Wahlinformationsseite leiten. Dort sollen die Wähler*innen zuverlässige Informationen über die bevorstehende Europawahl bekommen.

Last but not least: Konferenz zur Zukunft Europas (CoFE)

Erstmalig fand im Jahr 2021 mit über 700.000 Teilnehmer*innen die Konferenz zur Zukunft Europas (CoFE) statt. Bei der Konferenz sollen Europas Bürger*innen stärker mit einbezogen werden. So sollen neue Antworten für die Zukunft der europäischen Demokratie und Vorschläge für die weitere Entwicklung der Europäischen Union gemacht werden. Die beteiligten Bürger*innen diskutierten in einer Reihe von Debatten miteinander, tauschten Ideen zur Zukunft der EU aus und fertigten einen Abschlussbericht mit 49 Vorschlägen und über 300 Maßnahmen an, welche von nun an durch das Europäische Parlament weiterverfolgt und umgesetzt werden sollen. Ob und in welchem Umfang diese tatsächlich umgesetzt werden, muss sich erst noch zeigen. Es lässt sich aber jetzt schon sagen, dass die CoFE ein neuartiger Prozess zur Bürger*innenbeteiligung darstellt und eine Chance bieten könnte, die Bevölkerung mehr an demokratischen Prozessen teilhaben zu lassen.

Eine Bilanz: Zwischen dem eigenen Anspruch und der Realität

Wie die verschiedenen Reformen gezeigt haben, ist die Kommission durchaus gewillt die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten zu schützen und antidemokratischen Gefahren entgegenzuwirken. Jedoch zeigt sich am Beispiel Ungarns deutlich, dass die Kommission ihr Instrumentarium nicht konsequent genug durchsetzt. So braucht es Mittel, die dem politischen Druck und der Einflussnahme der gegen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verstoßenden Staaten, standhalten können. Denn trotz wiederholter Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit oder der Diskriminierung von Minderheiten in Ungarn als auch in Polen hat die EU-Kommission nur bescheiden reagiert.

In Anbetracht der bevorstehenden EU-Wahlen und der Gefahr einer weiteren Verschiebung nach rechts, ist es umso wichtiger, die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie der EU und ihrer Institutionen konsequent zu schützen. Obwohl Ursula von der Leyen zu Beginn ihrer Amtszeit die Vision einer EU hatte, welche auf Rechtsstaatlichkeit beruht, handelte die EU-Kommission im Umgang mit den teils gravierenden Rechtsstaatlichkeitsverstößen nur zögerlich und unzureichend. Durch das Einlassen auf die Erpressung und Spielchen von Ungarn schadet die Kommission sich in ihrem Kamp gegen Verstöße der Rechtsstaatlichkeit nur selbst.

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