Nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel wird es einen neuen Ansprechpartner für Paris in Berlin geben. Die gemeinsamen Herausforderungen innerhalb der Europäischen Union sind dabei nicht weniger geworden, und die deutsch-französische Zusammenarbeit wird sich an neuen Erwartungen messen lassen müssen. Diese Ausgangslage bietet Gelegenheit, das deutsch-französische Tandem auf seine Funktionalität und sein Potenzial hin zu überprüfen.
„Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der NATO.“ – Präsident Frankreichs, Emmanuel Macron
Mit diesem Interview für The Economist im November 2019, gelang dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron ein politischer Paukenschlag. Noch nie zuvor wagte ein westlicher Politiker das eigene Militärbündnis auf eine solche Art und Weise zu diskreditieren. Andere sahen in dem Interview einen lang überfälligen Anstoß für eine umfassende Debatte, über die zukünftige verteidigungspolitische und transatlantische Zusammenarbeit.
Doch viel interessanter als die eigentliche Aussage Macrons ist die Antwort Angela Merkels, die sie etwa einen Monat später im Rahmen einer Pressekonferenz gab. Diese steht sinnbildlich für einen Mangel an politischer Abstimmung und legt Differenzen in Analysen gemeinsamer Bündnisse nahe.
„Der Französische Präsident hat drastische Worte gewählt. Das ist nicht meine Sicht der Kooperation in der NATO. Ich glaube ein solcher Rundumschlag ist nicht nötig, auch wenn wir Probleme haben, auch wenn wir uns zusammenraufen müssen.“ – Bundeskanzlerin Deutschlands, Angela Merkel
Wenn selbst eine gemeinsame Bewertung gefestigter und langjähriger Bündnisse unmöglich ist, wie steht es wirklich um die deutsch-französische Zusammenarbeit und die Zukunft Europas? In einem weiteren Online-Bürgerdialog der Reihe „Europa – Wir müssen reden!“ der Europa-Union Deutschland e.V., diskutierten darüber am 13. Oktober 2021 Dr. Hans-Dieter Lucas, Botschafter Deutschlands in Frankreich und Monaco, und Sabine Thillaye, Präsidentin des Ausschusses für europäische Angelegenheiten der französischen Nationalversammlung, mit über 160 Teilnehmenden.
Über deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa diskutieren HEUTE mit euch:
-Sabine Thillaye, Präsidentin Ausschuss für europ. Angelegenheiten der frz. Nationalversammlung
-S.E. Dr. Hans-Dieter Lucas, deutscher Botschafter in Frankreich & Monacohttps://t.co/O3rPCT05V7 pic.twitter.com/XzVyp504B4— EUD Bürgerdialoge (@EUD_Dialog) October 13, 2021
Schon gleich zu Beginn der Diskussionsveranstaltung erhielten die Teilnehmenden die Möglichkeit, die Fahrtgeschwindigkeit und somit die Arbeitsgeschwindigkeit des deutsch-französischen Tandems zu bewerten. Diesem Stimmungstest zufolge schätzten etwas mehr als die Hälfte der Teilnehmenden die Zusammenarbeit als zu langsam, der zweitgrößte Teil als eher durchschnittlich ein.
Es ist immer eine Frage der Mentalität: Zwischen Pathos und Nüchternheit
Einer der großen Ausgangspunkte für die Zusammenarbeit der vergangenen Jahre, war die Rede des französischen Präsidenten an der Pariser Sorbonne-Universität im September 2017. Hier zeichnete Macron seine Vision eines zukünftigen Europas, mit einer Einladung an Deutschland eine neue Partnerschaft zu bilden. In den Fußstapfen von Robert de Sorbon und Robert Schuman, mit viel Pathos und Visionen, sollte die Rede der Beginn eines umfassenden Erneuerungsprozesses und schließlich der „Neugründung“ der EU werden.
Mit Angela Merkels nüchternem Regierungsstil, möchte man Berlin fast reflexartig vorwerfen, nicht genug auf die Vorschläge aus Paris eingegangen zu sein. Doch zwei Tage nach der Bundestagswahl 2017 konnte die deutsche Antwort nicht besonders entschieden ausfallen. Auch wenn der Zeitpunkt der Rede durchaus als Aufforderung an eine neue deutsche Regierung verstanden werden konnte, war er denkbar schlecht gewählt, wenn man sich die damalige Handlungsfähigkeit der deutschen Regierung anschaute.
Nichtsdestotrotz betonte der deutsche Botschafter Dr. Hans-Dieter Lucas die zahlreichen Erfolge der deutsch-französischen Kooperation: Vom Normandie-Format, dem Afrika-Dialog, bis hin zum EU-Wiederaufbaufonds und dem neuen Freundschaftsvertrag von Aachen; die Liste der konkreten Erfolge sollte man nicht ausblenden. Sie stellen wichtige Schritte dar und beweisen „einiges an Dynamik und Substanz“.
Allein der EU-Wiederaufbaufonds konnte für die wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Pandemie mit 750 Mrd. Euro ausgestattet werden. Einer Summe, die nur dank einer starken deutsch-französischen Abstimmung im Laufe der deutschen Ratspräsidentschaft zustande kommen konnte – und die einer überraschenden Zustimmung Deutschlands zu einer teilweisen Vergemeinschaftung von europäischen Schulden gleichkommt. Die Vergemeinschaftung von Schulden war bis zu diesem Zeitpunkt immer eine rote Linie deutscher Finanzpolitik gewesen, und das Wort „Transferunion“ ein europäisches Schreckgespenst.
Auch der Vertrag von Aachen von 2019 weist konkrete Punkte einer engeren Zusammenarbeit auf. Der darin beschlossene Bürgerfonds finanziert beispielsweise grenzüberschreitende Bürgerinitiativen zur weiteren Völkerverständigung. Darüber hinaus wurden regelmäßige Treffen der Staatssekretäre und Europaabteilungen der jeweiligen Außenministerien verabredet. Dennoch wird von Beobachtern kritisiert, dass der beschlossene Austausch zu sehr an den persönlichen Interessen der Funktionäre ausgerichtet sei, und dass dementsprechend kein gesamtheitliches Konzept vorliege. In dieser Konsequenz finden sich zahlreiche Formulierungen wieder, die eher an ein gewöhnliches Policy Paper eines Think-Tanks erinnern: „Rat der Wirtschaftsexperten, deutsch-französisches Zukunftswerk, deutsch-französischer Verteidigungs- und Sicherheitsrat“.
Sabine Thillaye, Präsidentin des Ausschusses für europäische Angelegenheiten der französischen Nationalversammlung, kennt diesen institutionellen Austausch gut. Sie sieht vor allem Vorteile in den regelmäßigen Treffen, auch zwischen der Assemblée Nationale und dem Deutschen Bundestag, durch die deutsch-französische Parlamentarische Versammlung:
„Hier entwickelt man ein gutes Verständnis für unterschiedliche parlamentarische Methoden, was die Beziehungen definitiv verbessert. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist auch immer eine Mentalitätsfrage.“
Dass die zwei Länder unterschiedliche Mentalitäten und Politikstile haben, wurde nicht zuletzt in der Kommunikation während der Pandemie deutlich. Wohingegen Macron mit der Aussage „Wir befinden uns im Krieg“ seine Bevölkerung zu mobilisieren versuchte, erwiderte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Osteransprache 2020: „Nein, diese Pandemie ist kein Krieg“.
Die Mentalitätsunterschiede fasst der deutsche Botschafter Dr. Hans-Dieter Lucas passend im Bürgerdialog zusammen:
„Deutschland und Frankreich starten fast immer von unterschiedlichen Positionen, aber der Reiz besteht darin, sich anzunähern und auch einen europäischen Konsens zu erreichen.“
Vor diesem Hintergrund wirkt die deutsche „Antwort“ auf die Sorbonne-Rede Macrons gar nicht mehr ganz so enttäuschend.
Nationale Freundschaftsversträge sind in der Praxis regional
Wie die Sorbonne-Rede oder der Vertrag von Aachen praktisch ausgeschöpft werden kann, zeigen Projekte in grenznahen Gebieten, die jedoch fast ausschließlich auf kommunaler Ebene umgesetzt werden. So wurden im Saarland Sprachbarrieren für französische Unternehmen und Arbeitnehmer abgebaut und sich Französisch als zweite Amtssprache zum Ziel gesetzt. Zudem gibt es in der Großregion Saar-Lor-Lux (Saarland, Lothringen, Luxemburg) Kooperationen mit Rettungsdiensten, Busunternehmen, Bildungseinrichtungen, sowie eine gemeinsame Abfallentsorgung oder Wasserversorgung, die nationale Grenzen vermehrt überwinden.
Die Zusammenarbeit findet allerdings nicht national, sondern meist zwischen den jeweiligen Gebietskörperschaften statt: Gemeinde, Kreise und Bundesländer in Deutschland – mit den Gemeinden, Departements und Regionen Frankreichs. Diese sind oftmals die Hauptakteure grenzüberschreitender und alltäglicher Zusammenarbeit – nicht (bundes-)staatliche Akteure, die die Verträge erarbeiten.
Schwierig wird es, wenn die jeweiligen Gebietskörperschaften nicht dieselben Kompetenzen besitzen, um Projekte auf Augenhöhe zu realisieren. Wohingegen deutsche Länder durch die föderale Struktur relativ viel Handlungsspielraum besitzen, können französische Regionen durch eine stärker zentralistische Staatsstruktur nicht auf dieselben Möglichkeiten zurückgreifen. Zudem
Ein höheres Vertrauen in die Träger und Beteiligten der jeweiligen Gebietskörperschaften sowie deren dezentrale Entscheidungen vor Ort können die in Berlin oder Paris verhandelten Verträge mit Leben füllen und einen noch effektiveren Grenzaustausch ermöglichen. Der Bürgerfonds des Vertrags von Aachen unterstütze zahlreiche Projekte zwar gut, dennoch müsse er noch konkreter und praktischer werden, betonte die Abgeordnete Sabine Thillaye der französischen Nationalversammlung.
Die Zukunftsfragen der EU müssen sich an Inhalten orientieren
Was die Zukunft der Europäischen Union betrifft, sind sich Deutschland und Frankreich in den meisten Punkten einig. So müsse die EU grundsätzlich offen bleiben für weitere Mitglieder, insbesondere mit Hinblick auf die Beitrittsgespräche mit den westlichen Balkanstaaten. Diese Offenheit sei auch in den Verträgen der EU festgeschrieben, betont Botschafter Lucas, man müsse jedoch aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und Beitrittsgespräche an Bedingungen knüpfen.
Mitglied der EU könne nur ein Land werden, das auch alle Bedingungen erfüllt. Diese sind in den Kopenhagener Kriterien niedergeschrieben worden, darunter fallen: eine funktionierende Marktwirtschaft, die Einhaltung von Menschenrechten, demokratische Stabilität und eine rechtsstaatliche Grundordnung. Dank Frankreich kontrolliere man nun auch die realen Fortschritte vor Ort, bekräftigte die französische Abgeordnete. Um dies zu erreichen, stoppte Frankreich im Herbst 2019 mit einem Veto die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien – wieder ein politischer Paukenschlag Frankreichs, wieder eine anschließende Grundsatzdiskussion.
Zum Problem können die Kopenhagener Kriterien dann werden, wenn ein Land zum Zeitpunkt der Aufnahme in die EU die Bedingungen erfüllen kann, sich aber Jahre später wieder zurückentwickelt, wie sich derzeit in Polen oder Ungarn zeigt. „Auch hierfür braucht es klare Mechanismen, denn Europa ist auch eine Rechtsgemeinschaft“, betonte der deutsche Botschafter. In der Tat gibt es für Ausschlüsse aus der EU oder in Fällen des Vertragsbruchs noch keine ausführlichen rechtlich abgesicherten Vorgehensweisen.
Was die Zukunft der EU an sich betrifft, sah Botschafter Lucas in der Föderalismus-Idee der EU „ein wichtiges Leitbild“. Dennoch sei die EU ein Gebilde sui generis, also ein eigenständiges Staatsgebilde, und deshalb nicht direkt mit anderen bereits bekannten Systemen vergleichbar. Ein wichtiger Pfeiler der Entwicklung der EU sei zudem das Subsidiaritätsprinzip, welches eine vernünftige Aufteilung von Kompetenzen innerhalb der EU, der Mitgliedstaaten, der Regionen und der Kommunen mit sich bringe. Bei dem Subsidiaritätsprinzip „muss man das positive Europaverständnis nicht verlieren“, auch wenn es womöglich weniger EU Kompetenzen in bestimmten Bereichen bedeutet.
Sabine Thillaye betonte ebenfalls die Wichtigkeit, sich zuerst auf Inhalte und Ideen und weniger auf institutionelle Veränderungen zu fokussieren. Hier dürfe man nicht dieselben Fehler machen wie im Jahr 2004, als der Vertrag über die EU-Verfassung in mehreren Ratifizierungsprozessen abgelehnt wurde. „Wir müssen die Prioritäten der EU definieren. Zuerst was wir wollen – und dann wie wir es wollen.“
Stimmen der Jugend und der Zivilgesellschaft
Im Rahmen des Bürgerdialogs kamen auch Stimmen der Juniorbotschafter*innen des Deutsch-Französischen-Jugendwerks, der Präsidentin der Union des Fédéralistes Européens (UEF) France, Ophélie Omnes und des Generalsekretärs der Europa-Union Deutschland, Christian Moos, zu Wort. Es sei vor allem wichtig die Bevölkerung überhaupt erst zu sensibilisieren und auszubilden, damit sie sich in europäische Fragen einbringen kann und möchte. Die Konferenz zur Zukunft Europas sei diesbezüglich ein „großer Moment der direkten Demokratie in Europa“, wie Ophélie Omnes betonte. Zudem gäbe es einen größeren Debattenbedarf bei außenpolitischen Themen, was insbesondere der Botschafter Dr. Hans-Dieter Lucas unterstrich: „In den drei TV-Triellen vor der deutschen Bundestagswahl wurde keine einzige außenpolitische Frage gestellt.“ Dies sei insbesondere auch Aufgabe der Zivilgesellschaft und der Medien.
Das Tandem ist zukunfts- und arbeitsfähig
Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist gekennzeichnet von unterschiedlichen politischen Herangehensweisen und rhetorischen Stilen, die auf den ersten Blick nicht immer kompatibel erscheinen, am Ende jedoch konkrete Erfolge für die ganze EU aufweisen können. Dabei wird die Freundschaft nicht nur durch internationale Verträge geformt, sondern vor allem durch tägliche Zusammenarbeit insbesondere in Grenzregionen mit einem nachhaltigen und generationenübergreifenden Charakter, der in Europa einmalig ist: Von der Kommunalverordnung bis zur Weltpolitik – das deutsch-französische Tandem ist überall zu finden.
Um abschließend im Wortspiel des Bürgerdialogs zu bleiben: Ein Tandem braucht eben seine Zeit, bis es richtig Fahrt aufgenommen hat und die Fahrtrichtung bestimmt ist – doch wenn es soweit ist, hat es zwei starke Antriebe, die genügend Schwung für eine erfolgreiche Zukunft mitbringen.
Dieser Beitrag ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Europa-Union Deutschland und treffpunkteuropa.de entstanden, in der wir über die bundesweite Bürgerdialogreihe „Europa - Wir müssen reden!“ berichten. Die interaktiven Online-Bürgerdialoge ermöglichen einen offenen Austausch und ehrliche Verständigung, um politische Beteiligung auch während der COVID-19-Pandemie aufrechtzuerhalten. Der Bürgerdialog am 13. Oktober wurde vom Auswärtigen Amt als grenzüberschreitendes Projekt gefördert. Mehr Infos gibt es hier.
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