Beitrag anlässlich des Online-Bürger*innendialogs „Brauchen wir eine Europäische Sozialunion? Die EU im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Sozialem“ der überparteilichen Europa-Union Deutschland e.V. am 2. Dezember 2021.

Zwischen europäischer Sozialunion und nationalen Kompetenzen

Welche Sozialpolitik wünschen sich die Bürger*innen von der EU?

, von  Moritz Hergl

Zwischen europäischer Sozialunion und nationalen Kompetenzen
Foto: European Union, 2016 / François Walschaerts / Lizenz

In Deutschland soll der Mindestlohn im nächsten Jahr laut Koalitionsvertrag auf 12€ pro Stunde steigen. Währenddessen liegt er im EU-Mitgliedsland Bulgarien bei 2€ pro Stunde. Zwar ist das Preisniveau in Bulgarien auch geringer, doch dieses Beispiel zeigt: Die sozialen Disparitäten innerhalb der EU sind immens. Diese Unterschiede schlagen sich im Armutsrisiko, in der Arbeitslosigkeit und in anderen Parametern in den EU-Ländern nieder.

Sozialpolitik in Europa im Spannungsfeld der Mitgliedstaaten

Krankenversicherung, Rente, Arbeitslosengeld, Arbeitsschutzregelungen, Maßnahmen im Bereich der Pflege, Sozialhilfe, Unterstützung von Studierenden sowie Kindergeld - all das sind Maßnahmen, die in den Bereich der Sozialpolitik fallen. In Europa liegen die politischen Kompetenzen im sozialen Bereich vor allem bei den Mitgliedstaaten. Die EU selbst ist aufgrund des Subsidiaritätsprinzips kaum involviert. Dieses besagt, dass Regelungen soweit wie möglich von der unteren Ebene bzw. kleineren Einheit wahrgenommen werden sollen. Aber bleibt Europa deshalb hinter seinen Möglichkeiten zurück? Brauchen wir eine Europäische Sozialunion? Diese Frage wurde beim Bürger*innendialog der überparteilichen Europa-Union Deutschland vergangene Woche intensiv diskutiert. Den Fragen der Bürger*innen stellten sich Tanja Bergrath, Leiterin des Europa-Büros des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Brüssel, Christian Bäumler, Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) und Arne Franke, Abteilungsleiter der Abteilung Europa der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).

Die Kompetenzen der EU im sozialen Bereich gehen auf die Römischen Verträge 1957 zurück, in denen zum ersten Mal soziale Aspekte in die bis dato rein wirtschaftliche Kooperation einflossen. So wurden die Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten aufeinander abgestimmt und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) gegründet. Laut Christian Bäumler, selbst Mitglied des EWSA, handelt es sich hierbei vor allem um einen gemeinsamen Dialograum für Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen in Europa.

Obwohl die Sozialpolitik weiterhin vor allem bei den Mitgliedstaaten liegt, deklarierte die EU im Jahr 2017 die Europäische Säule der sozialen Rechte. Diese gibt bestimmte Standards, Ziele und Empfehlungen vor, ist allerdings nicht rechtsverbindlich. Darunter fallen z.B. das Recht auf Arbeitslosenunterstützung, aber auch die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben.

Europäische Sozialunion vs. Soziales Europa

Laut Christian Bäumler sollte das Ziel der EU sein, diese europäischen Mindeststandards verbindlich zu machen und die bisher nötige Einstimmigkeit im Rat zu sozialen Fragen zu überwinden. Diese Schritte wären notwendig um eine Sozialunion zu schaffen. Anders sieht das Arne Franke von der BDA. Für die Schaffung einer echten Sozialunion müssten die Europäischen Verträge einstimmig geändert werden und dazu gäbe es momentan aufgrund der politischen Lage keine Chance. “Wir sollten unsere Energien darauf verwenden, ein soziales Europa zu schaffen, und nicht unsere Energie auf mögliche Vertragsänderungen einbringen”, sagt er.

Die Mehrzahl der Teilnehmenden des Bürgerdialogs (69%) wünscht sich allerdings eine solche Europäische Sozialunion. Doch nicht nur politisch gibt es aufgrund der nötigen Einstimmigkeit Gegenwind, auch in der Realität sind die Unterschiede in den Mitgliedstaaten gewaltig: griechisches Kündigungsschutzrecht, dänisches Arbeitslosengeld, deutsches Renteneintrittsalter - all diese Maßnahmen funktionieren im nationalen Rahmen und sind in der EU (noch) nicht vereinheitlicht. Im Gegensatz zu einer Sozialunion, in der die EU rechtlich verbindliche Standards vorgibt und die Mitgliedstaaten kein Veto-Recht in der Sozialpolitik mehr besäßen, spricht sich Franke für ein soziales Europa aus. Dies bedeute vor allem die bestehenden Instrumente zu nutzen um Wachstum und Innovation in der EU zu fördern.

Auf dem Weg zu einem Europäischen Mindestlohn?

Für Tanja Bergrath vom DGB ist es besonders wichtig, dass Dumpinglöhnen in Europa etwas entgegengesetzt wird. Ein “race-to-the-bottom” im Bereich sozialer Leistungen sei nicht zielführend für die gemeinsame Entwicklung von Wohlstand und die Überwindung sozialer Disparitäten in Europa. Ganz im Gegenteil: Es brauche jetzt verpflichtende Kriterien, wie etwa einen Europäischen Mindestlohn. Dieser könnte sich zum Beispiel an 60 Prozent des mittleren Einkommens der Menschen in den einzelnen Mitgliedstaaten orientieren. Im Rahmen der Säule sozialer Rechte hat die EU-Kommission hierzu bereits einen Vorschlag unterbreitet. Dieser verpflichtet die Mitgliedstaaten allerdings weder dazu, gesetzliche Mindestlöhne generell festzulegen, noch ihre konkrete Höhe.

Doch auch über Mindestlöhne hinweg steht Europa vor großen Transformationen, denn unsere Arbeitsweisen werden immer digitaler und grenzüberschreitender. Diskutiert wurde deshalb auch die Plattform-Direktive, die die EU-Kommission bald vorlegen möchte. In dieser sollen die Rechte von Plattform-Arbeiter*innen gestärkt werden. Bei Plattform-Arbeit geht es um aufgegliederte entgeltliche Dienstleistungen mittels einer Online-Plattform, die zwischen den Kunden und den Arbeitskräften steht (wie z.B. Apps für Essenslieferdienste).

Christian Bäumler sprach sich für ein selbstbewusstes Auftreten der EU in sozialen Fragen aus. Es müsse klar sein, dass “es nur dann Geld von Europa gibt, wenn bestimmte Standards eingehalten werden”. Dies sollte für einen europäischen Mindestlohn, aber auch weitere europäische Arbeitsbestimmungen gelten. Bäumler setzt sich hier vor allem für mehr verbindliche, interne Beteiligungsprozesse von Angestellten in Unternehmen ein.

“No Green Deal without a Social Deal”

Politisch hat sich die EU auf einem anderen Themenfeld bereits viel vorgenommen: der Bekämpfung der Klimakrise. Mit dem Green Deal und den “Fit for 55”-Maßnahmen möchte die EU ihre Klimaziele erreichen und bis zum Jahr 2050 der erste klimaneutrale Kontinent werden. Dabei werden viele Transformationen unserer Art zu Leben und zu Wirtschaften notwendig sein. Auf die Frage eines Gewerkschaftssekretärs der IG BCE aus der Lausitz - einer traditionell kohleabbauenden Region in Deutschland, die durch den Kohleausstieg einer besonderen Transformation unterlegen wird - warnt Arne Franke vor dem Verlust internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Soziale Politik sei schließlich ein Querschnittsthema, und sollte deshalb auch in der Ausgestaltung der Antwort auf die Klimakrise miteinbezogen werden.

Einerseits muss verhindert werden, dass rohstoffintensive und umweltschädliche Produktion (wie zum Beispiel der Kohleabbau) aus der EU abwandert und dann in anderen Ländern erfolgt, in denen Umwelt- und Sozialstandards möglicherweise geringer sind. Andererseits ist eine klimaneutrale Wirtschaftsweise nicht nur notwendig, um langfristig das Überleben der Menschheit zu sichern; der Umbau bietet auch wirtschaftliche Chancen. Europa sollte beim Klimaschutz im Weltmarkt führend werden - diese Ansicht teilten alle Redner*innen auf dem digital stattfindenden Bürger*innendialog. Mit Fridays for Future habe es bereits eine Bewegung geschafft, ihre Anliegen in politisches Handeln zu übersetzen, sagt Tanja Bergrath und zeigt sich trotz sozialer Missstände in Europa optimistisch. Mit mehr Mitbestimmung vor Ort, auch in den Betrieben, könne grenzüberschreitend in Europa zu mehr sozialem Zusammenhalt beigetragen werden. Die EU müsse hier aktiv eingreifen, doch der gesellschaftliche Rückhalt solcher Maßnahmen müsse noch stärker zur Geltung kommen.

Mit der Säule sozialer Rechte hat sich die EU eine Stärkung sozialer Kompetenzen auf die Fahnen geschrieben. Angesichts der enormen Herausforderungen durch Digitalisierung und Klimakrise darf die EU eine soziale Spaltung Europas nicht riskieren. Die Bürger*innen haben große Erwartungen an die EU in diesem Politikfeld; das hat der Bürger*innendialog eindrucksvoll gezeigt. Wirtschafts- und Sozialpolitik müssen zusammenwirken, um auch in Zukunft ein wirtschaftliches und sozial starkes Europa zu erhalten. Doch ob sich mutige und verpflichtende Regelungen zu einer echten Europäischen Sozialunion so schnell umsetzen lassen, ist unklar. Es liegt sicher auch daran, inwieweit wir selbst die bestehenden Unterschiede der verschiedenen Sozialsysteme in Europa als Chance sehen können, das Beste für unseren Kontinent herauszuholen.

Dieser Beitrag ist im Rahmen einer Kooperation zwischen der Europa-Union Deutschland und treffpunkteuropa.de entstanden, in der wir über die bundesweite Bürgerdialogreihe „Europa - Wir müssen reden!“ berichten. Die interaktiven Online-Bürgerdialoge ermöglichen einen offenen Austausch und ehrliche Verständigung, um politische Beteiligung auch während der COVID-19-Pandemie aufrechtzuerhalten. Der Online-Bürgerdialog am 2. Dezember wurde von der Europäischen Union kofinanziert und vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung unterstützt. Mehr Infos gibt es hier.

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