Zwischen Bergen und Bürokratie: Vom Leben eines Hirten in Abhängigkeit von EU-Subventionen

, von  Ramona Schnall

Zwischen Bergen und Bürokratie: Vom Leben eines Hirten in Abhängigkeit von EU-Subventionen

Im Oktober 2024 verbringt Autorin Ramona Schnall zwei Wochen im italienischen Piemont, wo sie den Ziegenhirten Gian begleitet. Hier wird sie in die jahrhundertealte Praxis des Hirtens eingeführt und lernt die Tradition der Transhumanz kennen - den jährlichen Abtrieb der Ziegen vom Berg ins Tal. In ihrer Reportage erzählt sie von nachhaltiger Landwirtschaft, der Abhängigkeit von EU-Subventionen und von anarchistischen Lebensformen, die in den Bergen trotz systemischer Herausforderungen weiterbestehen.

“Anarchie und Rock’n’Roll", murmelt der Hirte, als sein Blick über die hundert Ziegen schweift, die über den Rücken des Berges strömen.

Wenn man mitten in der Stille der Berge steht und in der Ferne nur die Ziegenglocken singen, so scheint Rock’n’Roll ein Begriff so fremd, als würde er einer anderen Sprache angehören.

Gian, Bild: Ramona Schnall

Gian vor dem Transportwagen, der seine Ziegen in das Winterdomizil bringt, Bild: Ramona Schnall

Doch für Gian Vittorio Porasso - der Hirte und Hobbyphilosoph, neben dem ich inmitten der Berge des italienischen Piemonts stehe - ist diese Stille genau das: wilde Lebensenergie mit einer Prise Politik.

Im Oktober 2024 begrüßt mich der kleine, drahtige, um die 40-jährige Gian am überschaubaren Bahnhof von Cuneo mit energischem Handdruck.

Seine Berufung als anarchistischer Ziegenhirte ist nicht nur an den schweren Schuhen, der Arbeitshose oder dem Geruch von Tier und Ziegenkäse erkennbar: Das Credo Anarchie lugt unter seiner Softshelljacke in Form eines T-Shirts hervor, auf dem eine Ziege durch das Anarchisten-“A” blickt.

Für die nächsten zwei Wochen wird mich Gian in die Kunst des Hirtens einführen: mehr noch, in den alljährlichen Abtrieb seiner 120 Ziegen vom Bergrücken hinunter ins Tal. Ein Prozess, der in Italien als Transhumanz bekannt ist und seit 2023 von der UN als immaterielles Kulturgut anerkannt ist.

Der Umzug symbolisiert nicht nur den Beginn einer neuen Jahreszeit, in der die hohen Bergrücken schneebedeckt und deswegen zu nährstoffarm für die Ziegen sind, sondern auch organisatorischer Stress. Sein Hausstand - ein Campingbungalow, der sich auf ungefähr 1000 Meter Höhe an die Bergwand schmiegt, die Molkerei, 120 Ziegen, fünf Herdenschutzhunde und vier aufgedrehte Hütehunde - muss vollständig verpackt und in das Farmhaus im Tal verfrachtet werden.

Ganzjährig lädt Gian Freiwillige zu sich auf den Berg ein, um nicht nur das Handwerk weiterzugeben, sondern auch das Glück des Hirtens zu teilen. Manche von ihnen bleiben nur wenige Tage, andere mehrere Monate.

Während der Tanshumanz sind ihm sechs Freiwillige zu Hilfe gekommen, die nun an seiner Stelle mit den Ziegen über den Berg jagen oder die Winterwiesen umzäunen. Ich bin in diesem Jahr eine von ihnen.

Die Stallungen im nächtlichen Nebel versunken, Bild: Ramona Schnall

Gians Campingbungalow, Bild: Ramona Schnall

Jedoch ist der Stress der Transhumanz nicht allein Sonderzustand: Auch der normale Alltag bedeutet Anstrengung - etwas, das ich am eigenen Körper erfahren darf. Schon am ersten Abend, nachdem mich Gian seinen Ziegen vorgestellt hat, lockt verheißungsvoll die Schlafbank. Meine schmerzenden Beine wollen sich bis zum Ende meines Aufenthalts nicht mehr erholen.

Morgens um sechs, die Dunkelheit noch immer in den Bäumen hängend, reißt der Wecker mich aus den Träumen. Gestärkt durch den runtergestürzten Espresso und Frühstückskeks geht es dann an die Fütterung und das Melken der Ziegen. Für den Laien stellt alleine schon dies eine Herausforderung dar, nicht nur wegen der Koordination der Ziegen und dem Schleppen der Futtersäcke, sondern auch weil die provisorische Stallung, die an ein rundes Gewächshaus erinnert, für Neuankömmlinge als Gefahrenzone erklärt ist. Die fünf georgischen Herdenschutzhunde, die unter den Ziegen leben, verstehen keinen Spaß. Ob Wanderer oder Wolf, Gefahr ist Gefahr, gegen die die Ziegen verteidigt werden müssen.

Während sich also die Freiwilligen, die mit den Herdenschutzhunden schon vertraut sind, den Ziegen widmen, macht sich der Rest an die Käseproduktion. Obwohl die Berge die Herstellung aufwendiger Käsesorten erschweren, legt Gian viel Wert auf Qualität: Gutes Essen ist einer der Gründe, die ihn ins Hirtenleben gelockt haben. Eine Überzeugung, die ihn und seinen Käse auch unter den Sterne-Lokalen im Tal berüchtigt macht.

Michaela in der Bergmolkerei, Bild: Ramona Schnall

Ziegenkäse im Reifeprozess, Bild: Ramona Schnall

Frühmorgens bei dem Melken der Ziegen, Bild: Ramona Schnall

Doch während der Transhumanz ist Gian wenig mit Käse, Berge oder Ziegen beschäftigt, sondern mit dem Umzug und dem emsigen Putzen des Winterhauses.

Gian entschied sich bewusst für die Transhumanz und für das Leben mit Ziegen zwischen Berg und Tal. Schon als dreißigjähriger diplomierter Architekt ahnte er, der Beton der Stadt würde ihn nicht glücklich machen können. Also kaufte er sich kurzerhand ein altes Bauernhaus und ergriff die Chance, während der Sommermonate mit seinen Ziegen in die Berge zu ziehen.

Gian entschied sich nicht nur bewusst für die Berge, sondern auch für die kleine Anzahl der Ziegen und ihre Rasse: Roccaverano. Es ist eine vom Aussterben bedrohte Art, die jedoch optimal an die Bedingungen der Region im Piemont angepasst ist.

Die Entscheidung für Roccaverano-Ziegen, Bergluft und das Leben im Campingbungalow ist für Gian auch eine Art der anarchistischen Alltagspolitik. Denn obwohl es mit finanziellen Sorgen gespickt ist, bedeutet dieses Handwerk für Gian auch Widerstand gegen kapitalistische Konzerne, übersättigte Lebensmittel und seelenlose Konsumkultur. Damit lebt er den Beweis, dass es eine Alternative zu unserer spätkapitalistischen Gesellschaft gibt - und besonders zu großen Agrarbetrieben und ihren tierverachtenden, menschen- und umweltschädlichen Praktiken.

Roccaverano-Ziegen bei der Transhumanz, Bild: Ramona Schnall

Denn wandernder Hirten-Pastoralismus, wie Gian ihn betreibt, bringt nicht nur Geschmacksorgasmen in Käse-Form hervor, sondern stellt auch einen wichtigen Beitrag für den Klimaschutz dar. Das erklärt mir Tommaso von Shep Life for Bio, einer Organisation, die nachhaltiges Hirten unterstützt.

Mit dem nomadischen Pastoralismus werden die Grasflächen nicht intensiv genutzt. Damit unterscheidet er sich von großen Farmerbetrieben, bei denen der Boden übernutzt und somit erschöpft wird. Durch Pastoralismus erhalten die Pflanzen Zeit zur Erholung, so Tommaso. Dieser schonende Umgang mit der Natur erhält Biodiversität, vermeidet Bodendegradation und unterstützt dadurch Wiesen und Wurzeln in ihrer Funktion, große Massen an CO2 zu speichern. Etwas, das wiederum der Klimaerwärmung entgegensteuert.

Und trotz aller Schonung fressen Gians Ziegen so viel Biomasse vom Boden, dass sie die Ansammlung von trockenem Gras und Laub verhindern und somit die Wahrscheinlichkeit und Feuerwut von Waldbränden verringern.

Ziegen auf dem Rücken des Berges, Bild: Ramona Schnall

Ziegen unter einem Baum, Bild: Ramona Schnall

Es sind Eigenschaften, die die EU und inbesondere von Waldbränden betroffene Staaten mit ausgesprochenem Interesse beäugen sollten.

Prinzipiell hat die EU sich dem Klimaschutz verschrieben. Auch ihre Klimaziele und Klimaabkommen legen klare Pläne für Kreislaufwirtschaft und mehr E-Auto-Tankstellen vor. Bei Hirten kommt jedoch wenig von den EU Klimaträumen an.

Subventionen für die Agrarwirtschaft werden nach Fläche berechnet. Die größten Bauern - Agrarkonzerne - bekommen die größten Zuschüsse. So schrieb der Jacobin schon im Jahr 2022, dass 80 % der Subventionen der Common Agriculture Policy (CAP) bei 20 % der Farmerbetriebe ankommen. Das ist so lukrativ, dass es sich für Agrarholdings mehr lohnt, in Agrarfläche zu investieren als das Geld am Finanzmarkt anzulegen.

Dieses System ist das Ergebnis der Copa-Cogeca Lobbygruppe. Es ist dazu ausgerichtet, die Anhäufung von Geld der Großbetriebe zu begünstigen, nicht aber die Diversität unserer Bauernlandschaft zu fördern.

Und es liegt auch nicht im Interesse der Ziegen, der Berge, des Klimaschutzes. Denn nur 20 % der gesamten Subventionen sind an den Klimaschutz gebunden, und dann auch nur in schwammiger Form, so der Jacobin.

Gian und seine Ziegen sehen von diesen flächenbezogenen Subventionen wenig, erklärt Tommaso. Denn obwohl sie Klimaschutz leben, wandern sie auf einem Berg, der nicht ihnen gehört, sondern der Gemeinde.

Gian in dem Bergstall, Bild: Ramona Schnall

Finanzielle Hoffnung verspricht die zweite Säule der CAP, die sich explizit der mobilen Agrikultur und dem Pastoralismus wie den der Ziegenhirten widmet. Sie soll Infrastruktur wie mobile Melkstationen, Hütepersonal und auch Herdenschutzhunde finanzieren. Jedoch sind diese Subventionen mit einem großen Bürokratieaufwand verbunden: Oft benötigen Hirt*innen eine*n Berater*in, die*der ihnen hilft, durch das Formularmeer zu sichten. Trotzdem gleicht das Einkommen durch Subventionen am Ende nicht dem Arbeitstundenaufwand, den man benötigt, um sie zu beantragen. Überhaupt diese Möglichkeit zu haben, setzt zudem voraus, dass man in einer Region arbeitet, die die Regelungen der EU übernommen hat - etwas, das jedes Land zu einem bestimmten Maß für sich entscheiden kann.

Das Piemont, in dem Gian lebt, ist das beste Beispiel für regionale Souveränität. Bis 2022 waren hier nur Maremmano-Herdenschutzhunde subventioniert. In anderen Regionen Italiens waren es alle Hunderassen. Gian jedoch entschied sich noch vor 2022 für die georgischen Herdenschutzhunde. Diese sind nicht so überzüchtet wie der Maremmano, weswegen sie wachsamer und stärker sind und einen effektiven Schutz vor Wolfsattacken bieten. Es war eine Entscheidung für die Sicherheit und somit auch das Leben seiner Ziegen - eine, die jedoch auch eine finanzielle Belastung bedeutet.

Der fast-Ziegenkuss, Bild: Ramona Schnall

Gian und die Ziegen warten auf den Transporter, Bild: Ramona Schnall

Trotz der Schwierigkeiten, die mit den Subventionen verbunden sind, sind es oft die Einnahmequellen, die den Hirten über Wasser halten.

Alleine schafft es ein Betrieb wie Gians, der nur 120 Ziegen umfasst, kaum das Einkommen eines Vollerwerbslandwirts zu sichern. Nicht nur, weil Ziegen zeitintensiver sind und besondere Schutzmaßnahmen in den Bergen bedürfen, sondern auch weil Ziegenmilch und Fleisch am Markt weniger erzielen als ihr Kuhequivalent.

Anstelle finanzieller Unabhängigkeit bedeutet das eine Abhängigkeit von unsicheren Subventionen und einen hohen Arbeitsaufwand im Büro.

Mensch fragt sich also: Wieso das Leben eines Architekten mit gesichertem Einkommen und kulturreichem Leben in der Stadt mit diesen Herausforderungen eintauschen?

Gian mit den Ziegen im Piemont, Bild: Ramona Schnall

Die Antwort leuchtet jedes Mal erneut in Gians Gesicht auf, wenn sein Blick auf seinen Ziegen und dem Bergpanorama ruht. Es sind Gefühle von Staunen, von Stille, von Bewunderung für die Schönheit unserer Welt.

Für Gian sind seine Ziegen mehr als nur präventive Brandbekämpfungsmittel oder Umweltschutz im Sinne der EU-Klimaziele. In jeder seiner Gesten, mit denen er seine Ziegen durch den Wald führt, liegt ein tiefer Respekt.

“Natürlich sind Ziegen die Grundlage meines Lebens, aber mehr noch, sie sind meine Familie,” erzählt er mir, während wir Zäune um die Winterstallungen aufbauen.

“Sie sind der Grund für mein Glück. Es ist ein holistischer Kreis,” erklärt er. “Wenn es den Ziegen schlecht geht, geht es mir schlecht, und wenn es mir schlecht geht, dann ihnen auch. Wir sind eins.”

Und so begründet sich auch sein anarchisches Ziegen-T-Shirt: Ziegen und Mensch existieren in seiner Weltanschauung gleichberechtigt und hierarchielos nebeneinander. Sie leben in einer Mensch-Ziege-Anarchie.

Mit diesem anarchistischen Gedankengut ist er auf seinem Berg nicht der Erste. Kaum dreihundert Meter über Gians Hütte befindet sich die heute restaurierte Häuser-Sammlung Paraloup, die während des italienischen Faschismus als Stützpunkt und sicheren Rückzugsort für antifaschistische Partisan*innen auserkoren wurde.

Vielleicht ist für Gian und uns Freiwillige der Berg erneut ein Ort, der das fast schon utopische Gedankengut von Harmonie zwischen Tier, Natur und Mensch vor einer Welt beschützt, in der kapitalistische Absurditäten und faschistische Staaten eben jene Harmonie zu verschlingen droht.

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