Verteidigungspläne im Nachkriegs-Europa
Bereits einmal scheiterte der Plan einer europäischen Verteidigungsunion. Als im Jahr 1950 der Korea-Krieg ausbrach, indem das von der Sowjetunion unterstützte Nordkorea Südkorea angriff, stieg auch in Europa die Sorge vor einer Eskalation des Kalten Krieges. Als Gegengewicht zu der sozialistischen Einflusssphäre in Osteuropa forderten nun insbesondere die amerikanische und britische Regierung, die Schaffung einer europäischen Armee und die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Nur fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bestanden allerdings besonders in Frankreich Bedenken vor einer Aufrüstung Deutschlands.
Im Oktober 1950 stellte dann der französische Ministerpräsident René Pleven vor dem französischen Parlament sein Konzept einer Europäischen Verteidigungsunion vor. Diese Rede bildete daraufhin die Grundlage für mehrmonatige Verhandlungen zwischen den Westalliierten, der Bundesrepublik sowie Italien und den Benelux-Staaten. Der endgültige EVG-Vertrag sah nun einen Verzicht auf nationale Streitkräfte zugunsten einer gemeinsamen Armee vor, allerdings mit Ausnahmen für außereuropäische Kolonien sowie für die Besatzung Berlins. Des Weiteren wurde eine allgemeine Beistandspflicht im Falle eine Angriffs und eine Kooperation mit der NATO festgelegt.
Scheitern der EVG auf den letzten Metern
Der EVG-Vertrag wurde schließlich 1952 unterzeichnet, trat letztendlich jedoch nie in Kraft, da die französische National-Kammer die Ratifikation des Vertrages ablehnte. Während die französischen Kommunisten eine militärische Zusammenarbeit mit Deutschland sowie die Westbindung der EVG generell ablehnten, fürchteten die Gaullisten vor allem den Verlust der französischen nationalen Souveränität. Nach dem damaligen Scheitern der EVG verständigte man sich wenige Jahre danach im Jahr 1955 stattdessen, insbesondere auf Drängen der USA und Großbritanniens, auf die Pariser Verträge. Diese sahen ein Ende des bis dahin geltenden Besatzungsstatuts in der BRD vor, sowie die Wiederbewaffnung Westdeutschlands und sollten damit die darauf folgende Mitgliedschaft in der NATO ermöglichen.
Aktuelle Verteidigung Bemühungen der EU
Mit dem russischen Angriffskrieg ist nun erneut die Sicherheitspolitik der EU in den Fokus gerückt. Ein Zeichen, das die Prioritätensetzung der europäischen Politik verdeutlicht, ist die Schaffung des Postens des Verteidigungskommissars durch Ursula von der Leyen in ihrer zweiten Kommissionspräsidentschaft. Mit dem Posten betraut wurde der frühere lettische Regierungschef Andrius Kubilius, der jedoch vor erheblichen Herausforderungen steht. Zu seinen Aufgaben gehört beispielsweise die Schaffung einer Plattform für die gesamteuropäische Nachfrage nach Rüstungsgütern oder der Aufbau von Initiativen zur Luft- und Cybersicherheit. Doch für die milliardenschwere Finanzierung dieser Projekte muss Kubilius erst noch Überzeugungsarbeit bei den nationalen Regierungen leisten.
Neu gestartet ist außerdem die schnelle Eingreiftruppe der EU, die im Bedarfsfall für Evakuierungen oder Friedensmissionen entsendet wird. Sie besteht aus rund 5000 Soldatinnen und Soldaten aus den einzelnen europäischen Ländern und stellt somit den ersten Militärverband der EU dar.
Notwendigkeit weiterer Kooperation
Doch noch immer besteht erheblicher Handlungsbedarf, insbesondere was die Beschaffung von Finanzmitteln für steigende Militärausgaben und die weitere Standardisierung und Integration der nationalen Armeen innerhalb der EU betrifft. Zwar sind in den letzten Jahren Programme wie die “European Sky Shield Initiative” oder “Elsa” gestartet, welche die starke Abhängigkeit von amerikanischen Fähigkeiten insbesondere im Bereich der Luftverteidigung oder der satelliten basierten Aufklärung reduzieren sollen, dennoch werden noch mehrere Jahre und deutlich höhere Verteidigungsausgaben benötigt um das amerikanische Niveau annähernd zu erreichen.
Ein Hauptansatzpunkt für strukturelle Reformen muss des weiteren vor allem darin bestehen, den europäischen Rüstungsmarkt effizienter zu gestalten. Wie die Expertin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ronja Kempin, in einem Interview mit dem ZDF angab, “beschaffen die Mitgliedstaaten weit über 80 Prozent ihrer Rüstungsgüter national. Das hat Folgen: hohe Kosten und keine Interoperabilität.” Mit einer Bündelung des Bedarfs, sowie weiterer länderübergreifender Kooperation wie etwa im Fall der Eurofighter Herstellung, könnte zudem dem Problem mangelnder Standardisierung der nationalen Armeen, begegnet werden. So beschreibt der Vorsitzende des EU- Verteidigungsausschusses, General Robert Brieger, in einem weiteren ZDF-Interview die aktuelle Notwendigkeit einer verbesserten Kompatibilität der Armeen: “Wir haben eine unglaubliche Varietät an unterschiedlichen Waffensystemen und Einsatzsystemen. Diese Varietät gehört drastisch reduziert. Ein Beispiel: Es gibt zehn europäische Kampfpanzer und einen amerikanischen.”
Der Fokus auf einheitliche Waffensysteme ist hierbei ein erster und wichtiger Schritt für weitere militärische Kooperationen innerhalb der EU, und Ausgangspunkt für eine weitere politische Integration der Streitkräfte, etwa in Form einer gemeinsamen Europa-Armee. Eine gemeinsame Europäische Armee, oder zumindest eine Erhöhung der Interoperabilität bestehender Streitkräfte, würde des Weiteren dazu beitragen, das Gewicht Europas auch innerhalb der NATO zu erhöhen.
Klärungsbedarf für eine Europa-Armee
Für die Schaffung einer Europäischen Armee stehen aber wohl noch einige Fragen offen, zum Beispiel ob eine als Europa-Armee der Zusammenschluss sämtlicher Streitkräfte innerhalb der EU oder als eigenes Kontingent als Ergänzung zu den nationalen Armeen zu verstehen wäre. Die wohl umstrittenste Frage besteht jedoch darin, wer die Befehlsgewalt über eine solche Armee hätte. Wäre es die Europäische Kommission, das EU-Parlament oder der Rat der Staats- und Regierungschefs ? Hierin sind vermutlich auch einige der Hauptgründe für die bisherige Weigerung der nationalen Regierungen zu sehen, die europäische Integration auch auf das Gebiet der militärischen Verteidigung auszuweiten.

Die aktuelle Kommission unter Ursula von der Leyen. Quelle: Wikimedia Commons / Von der Leyen II Commission group photo / Dati Bendo - European Commission Audiovisual Service
Klares Votum der Bevölkerung
Sorgen, die Gunst der Wähler durch eine verstärkte militärische Kooperation zu verlieren, müssten sich die meisten Staats- und Regierungschef*innen indes hierbei wohl nicht machen. Im Gegenteil steht der Großteil der EU-Bürgerinnen und Bürger einem solchen Vorhaben wohlwollend gegenüber. Laut einem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags überwiegt bei einem Großteil der Europäischen Bevölkerung deutlich die Zustimmung zur Schaffung einer Europa-Armee. So ist die Zustimmung in Polen mit 60% gegenüber 20% Ablehnung am stärksten. Sowohl seine geografische Lage im Osten Europas, als auch seine historischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und Jahrzehnten innerhalb des Warschauer Paktes, dürften hier zu einem starken Verteidigungs Bedürfnis beitragen. Auch in Frankreich überwiegt mit 56% zu 28% der Anteil der Zustimmung eindeutig. Dieses Ergebnis fällt insofern erstaunlich hoch aus, als das der Anteil der EU kritischen, rechts- und linkspopulistischen Parteien wie der Rassemblement National oder la France Insoumise bei Parlamentswahlen erheblich war. Dass trotz solch hoher Zustimmungswerte auch in anderen Ländern Europas, wie Italien und Spanien, eine Europäische Armee bei vielen Politikern noch immer auf Skepsis stößt, ist daher umso unverständlicher.
Mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist Europas Sicherheit und Demokratie erneut bedroht. Doch anders als früher wird Europa sich nicht auf die Hilfe aus den USA verlassen können. Wenn Europa dem aggressiven Imperialismus und der Menschenverachtung des russischen Regimes etwas entgegensetzen will, muss es den Weg der europäischen Integration auch militärisch weitergehen. Europa darf sich diese Chance heute nicht entgehen lassen und muss aus seiner Geschichte lernen. Nationalismus und einzelstaatliche Alleingänge sollten angesichts der offensichtlichen Vorteile einer engeren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit nicht länger den Ton in der europäischen Politik angeben.
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