Liebes Christkind,
irgendwie ist es ein merkwürdiges Gefühl, dir nach all den Jahren wieder zu schreiben. Habe ich nicht schon vor langer Zeit aufgehört, an dich zu glauben? Zugegeben, die Weihnachtszeit strahlt einen besonderen Zauber aus, wenn alles leuchtet und funkelt. Man trifft Freund*innen, die man das ganze Jahr nicht gesehen hat, und lässt bei Glühwein das Jahr Revue passieren. Man besinnt sich, erinnert sich an das schöne und denkwürdige das währenddessen geschehen ist.
Ein Stern ist aufgegangen, ertönt es immer wieder zwischen den Buden. Europa, das ist nicht nur einer, sondern zwölf Sterne. Aus dem Weltall funkelt dieser alte Kontinent immer noch als Leuchtpunkt von Demokratie, Menschenrechten und Frieden in einer immer chaotischen Welt.
Aber Weihnachten als die ruhige Zeit, diese Zeiten scheinen vorbei. Denke ich heute an Weihnachten, so denke ich auch an Hektik und Gedränge, noch die letzten Geschenke einzukaufen, viele Weihnachtsfeiern, und die Wohnung in festliche Atmosphäre zu bringen. Denke ich heute an Europa, denke ich unweigerlich auch an die vielen Krisen, die Europa derzeit prägen. Sei dies allen voran die Migration, die Wirtschaft, die Umwelt oder die Globalisierung, und nicht zuletzt jene, die enttäuscht oder bewusst aufgehört haben, an die europäische Idee zu glauben, sich von ihr abwenden oder aber diese gezielt zerstören wollen.
In diesem Jahre wurde an das Ende des 1. Weltkrieges vor 100 Jahren erinnert. Aus ehemaligen Feinden wurden Partner, Freunde und vielleicht sogar etwas mehr. Während den Gedenkfeierlichkeiten wurde die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel gar für die Frau von Macron gehalten.
Weihnachten, egal woran man glaubt oder auch nicht, hat doch etwas Magisches und kann Wunder bewirken. Nirgendwo wurde dies wohl deutlicher als 1914 an der Westfront, als plötzlich zwischen den Fronten für kurze Zeit Frieden einkehrte. Immer wieder erinnere ich mich an die Geschichten meines Großvaters, der seine Jugend als Soldat an der Ostfront verbringen musste. Ich durfte meine Jugend in einem Europa des Friedens in Wien, Mailand, Tallin, Paris, Córdoba, Glasgow verbringen und viele europäische Freundschaften schließen. Es mag pathetisch klingen, doch träumte man davon ein Europa zu schaffen, ein Europa Wirklichkeit werden zu lassen, in den Europäer*innen leben können.
Für viele Menschen, die sich in diesen Tagen aufmachen nach Hause zu fahren, ist dieses Europa Wirklichkeit geworden, in ganz Europa ohne Grenzen zu reisen, zu leben und zu lieben. Weihnachten ist das Fest, an die Nächsten zu denken, auch wenn man sie vielleicht nicht so mag. Weihnachten ist nicht nur Geschenke und Glühwein, sondern auch ein Familienfest. An Weihnachten kommt die gesamte Familie mit all ihren Besonderheiten zusammen. Da gibt es die etwas eigene Tante, die gerne für Chaos sorgt. Da ist der Onkel mit der besonderen Liebe zu einer liquiden und spritzigen Weihnacht. Es gibt die Großeltern, die mit ihren Ansichten vielleicht auch schon manchmal zu sehr in der Vergangenheit schwelgen als in die Zukunft zu schauen. Da kommt die entfernte Verwandtschaft, die einem über das Jahr fremd geworden zu sein scheint. Aber irgendwie freut man sich doch insgeheim über ein Wiedersehen, denn es gibt da irgendwas, dass uns immer wieder zusammenbringt doch gemeinsam zu feiern.
Warum also, liebes Christkind, schreibe ich dir nach all den Jahren auf einmal wieder? Mittlerweile denke ich, es ist wieder an der Zeit an dich und Europa zu glauben. Im nächsten Jahr entscheidet sich, wohin dieser Kontinent in der immer globaleren Welt steuern soll.
Irgendwie ist Weihnachten doch die schönste Zeit des Jahres, auch wenn wir es häufig nicht wahrhaben wollen bei all den vielen Dingen, die zu tun sind. Genauso ist es mit Europa, wird doch vor lauter Krisen häufig die Schönheit, Vielfalt und der kulturelle Reichtum unseres Kontinents vergessen.
Europa ist nicht nur ein Kontinent, sondern vielmehr eine Idee, gar ein Versprechen gemeinsam verschieden sein zu dürfen, gemeinsam in Frieden, Freiheit, Freundschaft leben zu können. Aber diese Idee wird nur verständlich, wenn sie erlebt und gelebt wird. Viele Herausforderungen liegen vor dem europäischen Projekt, das ist gar nicht zu bestreiten. Die Liste der anstehenden Themen ist sicher länger als so mancher Wunschzettel. Daher wünsche ich allen Europäer*innen, in vielen Momenten Europa zu erleben, um die europäische Idee und das europäische Versprechen zu erneuern, gemeinsam europäische Themen gestalten.
Liebes Christkind, du siehst: Mein Wunschzettel für Europa ist lang – und ich hoffe sehr, dass sich meine Wünsche auch nach dem 24. Dezember weiterhin erfüllen.
Und liebe Leute, schon jetzt: Eine schöne Adventszeit und frohe Weihnachten!
Adventliche Grüße
Stephan
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