Eigentlich spiegelt der „Grand Prix” die Methode eines gesunden Wettbewerbs perfekt wider: Aus ganz Europa und darüber hinaus senden teilnehmende Länder ihre Repräsentanten zum musikalischen Wettkampf besonderer Art. Je nach Land wird die Sängerin, der Sänger oder die Gruppe dabei in einem nationalen Wettbewerb ermittelt, oder ganz einfach von der jeweiligen Sendeanstalt benannt. Vor ihrem Auftritt müssen sie alle sich jedoch zunächst in einem Halbfinale beweisen - und nur die bestplatzierten Auserkorenen dürfen auch im Finale antreten.
In diesem Jahr nahmen dabei 37 Länder an der Vorauswahl des ESC teil - nur 26 jedoch waren für das Finale am 11. Mai schließlich zugelassen. Für fünf teilnehmende Länder - die sogenannten „big five” - war die Teilnahme am Finale jedoch bereits vorgesehen, denn sie mussten sich dem Halbfinale aufgrund einer Ausnahme nicht stellen.
Eurovision auf den Punkt gebracht
Eine riesige Veranstaltungshalle, aufwändiges Bühnenprogramm, rund um Livemusik von Künstlerinnen und Künstlern aus Europa und darüber hinweg - sowie nicht zu vergessen rund 100 bis 600 Millionen Zuschauer vor den heimischen Bildschirmen - der ESC ist unangefochten das größte internationale Musikfest der Welt und dazu für die Ausrichter auch finanziell Jahr für Jahr ein Erfolg. Und so spielt die Veranstaltung bereits seit 1956 ihr Motto der „Einheit in Vielfalt” voll aus. Der ESC steht für Internationalität, Gleichberechtigung und Integration.
Der ESC basiert auf dem renommierten Sanremo-Musikfestival aus Italien. Der erste Wettbewerb fand im Schweizer Ferienort Lugano statt und war eine Radiosendung, auch wenn einige Kameras die Sendung für diejenigen übertrugen, die bereits über einen Fernseher verfügten. Teilgenommen haben damals Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Schweiz.
Der Sprung in das große Finale
Seit der Einführung der „Big five”-Regelung im Jahr 2000 qualifizieren sich Spanien, Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich (sowie Italien, das erst seit 2011 wieder teilnimmt) automatisch für das Finale des Eurovision Song Contest - und zwar unabhängig von ihrem Vorjahresergebnis. Für diese Länder bestehen für keinerlei Sorgen, schon in einem Halbfinale auszuscheiden - denn als größte Beitragszahler erhalten sie eine Wildcard für die Finalrunde.
Doch warum wurde die Regel überhaupt eingeführt? Dafür gab es zahlreiche kleinere Gründe. So erfuhr Italien 1974 einen herben Dämpfer, als sein Beitrag mit dem Titel „Sì" (Ja) von der staatlichen Rundfunkanstalt RAI nicht gesendet werden durfte. Grund für diesen Schritt war die Befürchtung, dass der Songtitel die italienische Öffentlichkeit im Vorfeld eines Referendums über die Scheidungsgesetzgebung beeinflussen könnte. Folglich übertrug Italien den Wettbewerb in jenem Jahr nicht live, sondern erst nach Abschluss der Volksabstimmung, um eine mögliche Beeinflussung zu vermeiden. Der deutsche Beitrag „Planet of Blue” aus dem Jahre 1996 schied vorzeitig aus dem Wettbewerb aus, was Deutschland dazu veranlasste, die Übertragung auf einen kleineren Sender zu verlagern. Die Regelung hat also unweigerlich mit dem Faktor Geld zu tun. Ohne die Qualifikation Deutschlands für das Finale säßen Millionen von Zuschauern in der Finalnacht nicht vor dem Fernseher. Wie Ben Robertson, Journalist bei ESC Insights, schrieb: „Die Sponsoren des Eurovision Song Contest wollten zur Hauptsendezeit in den größten Absatzmärkten Westeuropas zu sehen sein“.
Ist es Zeit für eine Änderung?
Die „Big five”-Regelung stößt in aller Regelmäßigkeit auf Kritik. Sie ist der offizielle Grund für das Fernbleiben der Türkei vom ESC seit 2018. Auch die Niederlande und Russland (bis zum Ausschluss 2022) haben sich darüber beschwert, dass sie zwar scheinbar weniger zahlen, aber im Verhältnis zu ihrer Anzahl der Einwohner*innen deutlich mehr.
Im September des letzten Jahres forderte die schwedische Radiokommentatorin für den Eurovision Song Contest, Carolina Norén, einen fairen Wettbewerb beim ESC: „Ich denke, man sollte die „Big five” abschaffen. Nur der*die Gewinner*in sollte sich direkt für das Finale qualifizieren, und alle sollten sich auf die gleiche Weise durch das Halbfinale bis zum Finale kämpfen„. Ben Robertson fügte hinzu: „Wenn wir jemals einen so gewagten Schritt machen wollten, gäbe es wohl keinen besseren Zeitpunkt als jetzt“. Für die künftige Debatte über dieses Thema könnte dieses Jahr von Bedeutung sein, weil es das erste Mal war, dass die „Big five” ihre Darbietungen während des Halbfinales präsentierten (obwohl sie nicht am Halbfinale teilnahmen!).
Zunächst einmal verdient der Status des „größten finanziellen Beitragszahlers"eine genauere Betrachtung. Die EBU arbeitet mit einem System, bei dem jedem Vollmitglied ein Punktwert zugewiesen wird, der auf bestimmten Parametern wie Reichweite und Nutzung von für die Eurovision relevanten Inhalten beruht, also etwa Nachrichten und Sportübertragungen. Dieses Punktesystem beeinflusst höchstwahrscheinlich die Unterschiede bei den Teilnahmebeiträgen der Mitgliedsländer. Im vergangenen Jahr zahlte Deutschland rund 473 000 Euro an die Europäische Rundfunkunion (EBU), während Spanien rund 347 700 Euro beisteuerte. Griechenland zahlte rund 150 000 Euro, Rumänien 180 000 Euro und Irland 105 000 Euro. Mit der Berücksichtigung der Tatsache, dass die Bevölkerung Deutschlands etwa 8,5 Mal größer ist als die Griechenlands im Hinterkopf, zahlte Deutschland dabei „nur” 3 Mal mehr als Griechenland. Der „größte Beitrag" ist folglich nicht so hoch, wie es zunächst den Anschein erweckt.
Zweitens wird durch die „Big five”-Regelung offensichtlich das Vorurteil aufrechterhalten, dass „Europa nur im Westen stattfinde", oder, dass die jüngeren Mitglieder nicht so wichtig seien wie die älteren. Drittens gibt es heutzutage ohne Frage mehr Möglichkeiten, neue Zuschauer*innen und Sponsoren zu gewinnen, zum Beispiel über die sozialen Medien.
Was sagt die Jugend dazu?
„Die deutsche Rundfunkanstalt ist die reichste auf der Welt, weil die Deutschen per Gesetz gezwungen sind, fast 20 € pro Monat (!!!) pro Haushalt dafür zu zahlen. Mehr als für ihr Netflix! Vielleicht würden sich die Verantwortlichen mehr Mühe geben, einen besseren Titel auszuwählen, wenn sie im Halbfinale antreten müssten“ - sagt Katherina aus Deutschland.
„Ich finde es komisch und auch etwas unfair. Aber es ist vielleicht auch gar nicht so wichtig. Vor allem, wenn sie die größten Geldgeber sind. Und wenn ihr Lied schlecht ist, gewinnen sie sowieso nicht“ - sagt Anna aus Österreich.
„Es ist schon richtig so, jedes Jahr aufs Neue Memes über die großen Länder zu machen“ - fügt Pavel aus der Slowakei hinzu.
„Auch wenn es anderen Ländern gegenüber unfair ist, ist das doch die einzige Möglichkeit, den ESC zu finanzieren. Wenn es eine Alternative gibt, um Geld für die Eurovision zu bekommen, dann sollte man ihnen dieses Vorrecht nicht einräumen. Aber bis diese Alternative besteht, sollten sie das Privileg haben, da sie der Hauptgrund dafür sind, dass der ESC stattfinden kann“, betont Žygimantas aus Litauen.
„Es scheint mir ein wenig willkürlich zu sein, und ich glaube, dass der Einzug in die Endrunde auf Leistung basieren sollte und nicht auf der Größe des Landes oder seinem finanziellen Beitrag. Das gibt auch kleineren und unterrepräsentierten Ländern weniger Möglichkeiten“ - sagt Valentin aus Frankreich.
Die Frage der Fairness
Die „Big five”-Regelung ist nur eines der zahlreichen Diskussionen im Hinblick auf die „Unfairness„des Wettbewerbs. Es gibt eine anhaltende Debatte über die Gerechtigkeit des Abstimmungsprozesses, der vielen politisiert scheint. Studien, die zu diesem Thema durchgeführt wurden, legen nahe, dass Länder aus denselben „Clustern“ häufiger füreinander stimmen. Das andere Argument für eine „unverfälschte „Abstimmung besteht in der Vergabe von Punkten an diejenigen Länder, die sich kulturell nahe stehen, die sogenannte „patriotische Abstimmung“.
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