Europaweiter Schwerbehindertenausweis: eine Union ohne einheitliches Schwerbehindertenrecht

Wenn EU-Landesgrenzen zu Barrieren werden

, von  Alina te Vrugt

Wenn EU-Landesgrenzen zu Barrieren werden
Auf dem Weg zu einem europaweiten Schwerbehindertenausweis. Foto: Pixabay / gregroose / Pixabay Lizenz

Reisen ohne Grenzkontrollen – der Schengenraum macht’s möglich. Für Menschen mit Behinderungen können EU-Grenzen allerdings trotz eines national anerkannten Schwerbehindertenausweises zu Barrieren werden – nämlich dann, wenn ihre Behinderungen in anderen EU-Ländern nicht anerkannt und ihnen dort keine Nachteilsausgleiche gewährt werden. Eine gegenseitige Anerkennung des Behindertenstatus besteht derzeitig nicht.

Ein Fünftel der EU-Bevölkerung hat irgendeine Form von Behinderung. Allein in Deutschland lebten laut dem Statistischen Bundesamt zum Jahresende 2017 rund 7,8 Millionen Menschen mit Schwerbehinderungen - ganze 9,4% der gesamten Bevölkerung. Als schwerbehindert gelten Personen, denen die zuständigen Versorgungsämter einen Grad der Behinderung von mindestens 50 zuerkannt sowie einen gültigen Ausweis ausgehändigt haben. Ein Großteil der Behinderungen wird im Laufe des Lebens durch eine Krankheit verursacht: Sie können also jeden Menschen betreffen. Eine Schwerbehinderung schließt aber ein aktives Leben und auch Reisen auf keinen Fall aus. Allerdings sind Nachteilsausgleiche im Ausland keine Selbstverständlichkeit, weil in den Mitgliedstaaten der EU kein einheitliches Schwerbehindertenrecht besteht. Nicht kognitive oder körperliche Einschränkungen behindern dabei einen Menschen in seiner*ihrer Entfaltung: Er*sie wird von gesellschaftlichen Anforderungen behindert - beispielsweise davon, wie wir Reisemöglichkeiten organisieren.

Nationale Gesetze und Richtlinien

Sowohl die Anerkennung einer Behinderung als auch die Gewährung von Nachteilsausgleichen beruhen auf unterschiedlichen nationalen Gesetzen und Richtlinien. Wer als schwerbehindert gilt, wird in den EU-Ländern sehr unterschiedlich definiert. Auch ein Rechtsanspruch auf Nachteilsausgleiche, die Menschen mit Schwerbehinderung zustehen, besteht in anderen Ländern nicht. Zu diesen Nachteilsausgleichen gehören in Deutschland je nach Art und Grad der Behinderungen unter anderem die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr, eine kostenfreie Sitzplatzreservierung in Fernzügen, die Nutzung der Bahnabteile der ersten Klasse sowie kostenfreier oder vergünstigter Eintritt in Kultur- und Freizeiteinrichtungen, gegebenenfalls auch die Mitnahme einer Begleitperson.

Wer über einen deutschen Schwerbehindertenausverweis verfügt, hat aber keinen Anspruch auf die Anerkennung in anderen EU-Ländern. Die genannten Nachteilsausgleiche könnten dort also verwehrt bleiben. Um Reisen dennoch zu erleichtern, stellen die Ämter für Versorgung und Familienförderung in der Regel eine Bescheinigung in englischer, französischer, spanischer und italienischer Sprache aus, die eine anerkannte Schwerbehinderung nach deutschem Recht bescheinigt. So werden zwar sprachliche Barrieren überwunden, das Zugeständnis von Vergünstigungen beruht aber nach wie vor auf Freiwilligkeit. Das könnte sich allerdings in Zukunft ändern.

Laut der Europäischen Kommission setzen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten „dafür ein, die soziale und wirtschaftliche Situation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern und stützen sich dabei auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.“ Eine der Initiativen zugunsten von Menschen mit Behinderungen stellt der EU-Behindertenausweis dar: Er ist Teil der Europäischen Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010-2020, die sich seit dem vergangenen Jahr im Evaluierungsprozess befindet. Die Ziele der Strategie bestehen im Allgemeinen darin, eine uneingeschränkte Anerkennung der Rechte von Menschen mit Behinderungen in allen Mitgliedstaaten zu schaffen und ihnen so gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe insgesamt zu erleichtern. Grundlage der Strategie bildet das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Pilotprojekt: Einheitlicher EU-Behindertenausweis

Beruhend auf der Grundlage eines EU-Behindertenausweises entwickelte die EU ein System der gegenseitigen Anerkennung des Behindertenstatus, um Menschen mit Behinderungen die damit verbundenen Vorteile garantieren zu können. Der EU-Behindertenausweise würde grenzübergreifend den gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinderungen zu Vergünstigungen garantieren. Diese gelten vor allem im Verkehrs-, Sport-, Kultur- und Freizeitbereich. Als Vorbild fungierte der einheitliche Parkausweis für Menschen mit Behinderungen, den es seit dem 1. Januar 2001 gibt. Dieser hat ein festgeschriebenes Format und wird in allen EU-Mitgliedstaaten anerkannt. Menschen mit Behinderungen können so die jeweils gewährten Parkerleichterungen in Anspruch nehmen. Darüber hinaus gelten aber in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Reglungen, die in einem Informationsheft aufgelistet sind, das zusammen mit dem Parkausweis ausgehändigt wird.

Das Pilotprojekt zum einheitlichen EU-Behindertenausweis wurde im Februar 2016 in einer Gruppe von acht EU-Ländern gestartet: Belgien, Zypern, Estland, Finnland, Italien, Malta, Rumänien und Slowenien. Dieses Projekt wurde von einer eigens eingesetzten Arbeitsgruppe ausgearbeitet, die sich aus Vertreter*innen von 17 Mitgliedstaaten und verschiedenen Organisationen der Zivilgesellschaft zusammensetzt. Die Auswahl der Länder beruhte auf einer 2015 veröffentlichten Aufforderung zur Einreichungen von Vorschlägen für nationale Projekte zur Einführung eines EU-Behindertenausweises und damit verbundener Vergünstigungen.

Das Zugeständnis eines solchen EU-weiten Ausweises beruht weiterhin auf den nationalen Bestimmungen, Berechtigungskriterien und Definitionen von Behinderungen. Diese bleiben vom Projekt unberührt. Darüber hinaus gelten auch die jeweiligen nationalen Modalitäten zur Ausstellung des Ausweises. Nach drei Jahren hat die Europäische Kommission im Jahr 2019 das Bewertungsverfahren für diese Initiative eingeleitet. In Form einer Studie, die auf einer umfassenden Übersicht und Analysen beruht, soll die Umsetzung des Pilotprojektes bewertet werden. An der Auswertung wird derzeit gearbeitet.

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