Welche Antwort haben Europäer*innen auf die Klimakrise?

, von  Sarah Bronsard, übersetzt von Filiz Yildirim

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Welche Antwort haben Europäer*innen auf die Klimakrise?

Angesichts der vom Klimawandel ausgehenden Gefahren haben sich unterschiedliche Umweltschutzbewegungen in Europa gegründet. Sie fordern von den Regierungen, schnellstmöglich aktiv zu werden. Fridays for Future, Extinction Rebellion- diese Bewegungen erhalten immer mehr Zulauf. Kann man allerdings von einer wirklichen europäischen ökologischen Bewusstseinswerdung sprechen?

Welchen Einfluss hat Extinction Rebellion?

Seit Anfang Oktober machen die Klimaaktivist*innen von Extinction Rebellion mit einer Reihe von Aktionen von sich Reden. Ihr Markenzeichen? Gewaltfreier ziviler Ungehorsam, um gegen den „ökologischen Kollaps und den Klimawandel“ zu kämpfen. Obwohl es sich um eine junge Bewegung handelt, die erst im Oktober 2018 im Vereinigten Königreich gegründet wurde, zieht sie viele Aktivist*innen an. Sie erregt international Aufsehen, ist aber besonders in den europäischen Hauptstädten aktiv. Ob in Berlin, Paris, Prag, Brüssel oder London: die Bewegung schafft es, dass jede Woche unzählige Europäer*innen auf die Straße gehen, um ein deutliches Zeichen zu setzen. Es gibt immer mehr soziale Bewegungen, aber haben sie auch einen Einfluss auf die aktuelle europäische Politik? Gibt es erste Vorschläge auf die Forderungen von Extinction Rebellion? Um auf diese Fragen Antworten zu bekommen, hat sich Sarah Bronsard mit Mathieu getroffen, einem 38-jährigen Aktivisten, der sich seit Mai 2019 bei Extinction Rebellion engagiert.

Mathieu, Sie haben sich der Bewegung kurz nach ihrer französischen Gründung im März 2019 angeschlossen. Was hat Sie dazu veranlasst?

Ich bin seit Mai bei Extinction Rebellion dabei. Wie viele in der Bewegung, bin ich ein „Erst-Aktivist“, ich habe mich zuvor nie für eine bestimmte Sache eingesetzt. Es war das erste Mal, dass ich Lust hatte, mich zu engagieren. Ich merkte, dass da irgendwas schieflief. Also begann ich, mich zu informieren und Artikel zu lesen, Videos zu schauen, insbesondere von Pablo Servigne, einem Experten in der Kollapsologie. Durch ihn bin ich auf Extinction Rebellion (XR) aufmerksam geworden. Ich habe auch begonnen, mich für die Berichte des Weltklimarats (offiziell: Intergovernmental Panel on Climate Change, IPPC) zu interessieren, die immer alarmierender werden.

Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Sie zur Tat schreiten lassen hat?

Es gab keinen bestimmten Vorfall, sondern es handelte sich eher um eine Anhäufung von Ereignissen, die mich für die Klimakrise und gesellschaftliche Zusammenbrüche sensibilisiert haben. Die Zerstörung der Wälder, Artensterben, Gletscherschmelze, Monokulturen, der massive Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden: alle Wissenschaftler*innen schlagen Alarm. Das ist nicht nur mein persönlicher Eindruck, es ist klar ersichtlich, dass es ein echtes Problem gibt. Vor einigen Jahren konnte man die Erderwärmung vielleicht noch leugnen. Heute macht sich diese Minderheit von Klimaskeptiker*innen lächerlich. Die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler*innen ist sich einig: der Klimawandel ist menschgemacht. Menschliche Aktivitäten sind dabei, den Planeten aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Ein Merkmal der Bewegung ist, dass sie keine Sprecher*innen hat. Wisst ihr, ob nationale oder europäische Vertreter*innen Kontakt zu euch aufnehmen?

Es stimmt, dass wir keine Wortführer*innen haben. Die Bewegung funktioniert autonom, ist dezentral organisiert und besteht aus lokalen Ablegern. In Frankreich gibt es knapp sechzig solcher Regionalgruppen. Jede Gruppe, ob XR Nizza, XR Oslo oder XR London diskutiert unabhängig mit lokalen Vertreter*innen der Politik. Ich weiß nicht, was in jeder einzelnen Regionalgruppe passiert, aber in London beispielsweise, haben Mitglieder der Bewegung Londoner Ansprechpartner*innen kontaktiert. Das hat dann zur Ausrufung des Klimanotstands in London geführt. Hierbei handelt es sich nicht um eine verbindliche Maßnahme, sondern um eine einfache Erklärung, die vielleicht Bewusstsein schafft, aber auf die keine konkreten Schritte folgen. Im Allgemeinen versuchen wir, den Kontakt zur Politik zu meiden. Warum? Wir sind nicht hier, um zu verhandeln, um mit Politiker*innen zu diskutieren. Klar, alles ist politisch. Unsere Aktionen sind es auch, aber wir betreiben keine Politik. Daher haben wir uns auch nicht an die Europäische Kommission gewandt, um ihr unsere Forderungen direkt mitzuteilen. Wir wollen nur eines: Sie sollen endlich auf die Forschung hören und dementsprechend handeln. Das kann man auf unseren Plakaten lesen: „Say the truth, act now!“

Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Aktionen Ihnen Gehör verschaffen? Ich habe die stellvertretende Bürgermeisterin getroffen, die sich mit Umweltfragen befasst. Sie hat sich unsere Belange angehört und war sehr freundlich. Aber wir bekommen oft zu hören, dass Entscheidungsprozesse langwierig und die Konsultationen mit den Regionen notwendig sind. Das kann bis zu zwei, drei Jahren dauern. Aber wir haben jetzt keine Zeit mehr! Also, ja, wir diskutieren aber die Rückmeldungen passen uns nicht. Sie sind nicht im Einklang mit der Wirklichkeit. Zugegeben, im Rathaus wird etwas unternommen. Aber das entspricht nicht mal einem Zehntel dessen, was getan werden müsste, um die Katastrophe abzuwenden. Die Maßnahmen gehen in die richtige Richtung, das ist besser als nichts. Aber es ist so wenig, dass wir uns damit nicht zufriedengeben können.

Auch wenn diese Antworten euch unzureichend erscheinen, wurden einige eurer Forderungen, eurer Prinzipien von Europa zur Kenntnis genommen? Meiner Meinung nach wurden unsere Anliegen bisher noch nicht ausreichend berücksichtigt. Wir wollen, dass die Politiker*innen die Wahrheit sagen, das ist unsere Hauptforderung. Diesbezüglich wurden Fortschritte gemacht, die Medien sprechen häufiger darüber. Unsere zweite Forderung bezieht sich auf das Ende der Zerstörung der Ökosysteme. Die Regierung scheint genau das Gegenteil zu tun: Sie baut weiterhin Einkaufszentren auf landwirtschaftlich nutzbarem Boden, um nur ein Beispiel zu nennen. Insgesamt kann man sagen, dass Europa die Forderungen von XR nicht wirklich beachtet.

Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bei ihrer Bewerbung die Klimakrise zur obersten Priorität in ihrem Programm gemacht. Unter den Vorschlägen befindet sich auch der Punkt, dass die Europäische Union bis 2050 klimaneutral wird. Dieses Ziel steht doch für ein ambitioniertes Vorhaben in Sachen Umweltschutz für die kommenden Jahre.

Das ist zwar ein positives Signal, aber idealerweise sollten wir dieses Ziel vor 2025 erreichen. Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass ein derartiger Wandel in so kurzer Zeit fast unmöglich scheint, selbst bis 2050 wäre das Ziel nur schwer erreichbar.

Denken Sie, politische Maßnahmen allein reichen aus, um diese Vorgabe umzusetzen? Bräuchte man nicht auch einen tiefgreifenden Wandel in den Köpfen der Bürger*innen? Jede*r möchte ein besseres Klima, aber nicht jede*r ist bereit, einen Teil dazu beizutragen. Es ist bequem, das Haus auf 25 Grad hoch zu heizen, einen SUV zu fahren oder das Flugzeug zu nehmen. Der Mensch möchte ungern auf Komfort verzichten. Daher benötigen wir rechtlich bindende Maßnahmen, eine Kohlenstoffsteuer zum Beispiel. Leider sind solche Schritte sehr unpopulär. Hier muss sich die Politik einmischen.

Innerhalb von XR führen Sie Debatten über Themen wie beispielsweise einen Wandel des Gesellschaftssystems. Gehen Sie davon aus, dass der Planet nur noch zu retten ist, wenn die Europäische Union und die Politik auf ein alternatives Wachstumsmodel setzen, bzw. gar den Schritt des negativen Wachstums gehen? Raum für Diskussionen zu schaffen, stimmt mit unserer vierten Forderung überein: Hier fordern wir die Gründung einer Bürger*innenversammlung für das Klima. In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron bereits eine ähnliche Versammlung ins Leben gerufen. Sie besteht aus 150 Personen, deren sozio-professionelle Situation und Wohnorte repräsentativ für die Gesamtbevölkerung Frankreichs sind. Über vier Monate hinweg wurden die Mitglieder von Wissenschaftler*innen begleitet, die ihnen dabei halfen, Vorschläge in unterschiedlichen Bereichen zu erarbeiten. Das ist eine schöne Idee, die wir auch gerne im Bereich Klima umgesetzt sehen möchten. Ich persönlich denke, dass ein Systemwandel unumgänglich ist. Wachstum und Kapitalismus haben eine Weile gut funktioniert, insbesondere während des vorigen Jahrhunderts. Aber mittlerweile sind wir fast am Ende eines Kreislaufs angelangt. Wir erleben, wie sich eine Minderheit Ressourcen aneignet und das zum Nachteil der Mehrheit, was letztendlich zur Zerstörung des Planeten führt. Die gesamte Gesellschaft stützt sich auf Wachstum, wir wollen immer mehr: Glücklicher sein, mehr Arbeitsplätze, mehr Ressourcennutzung. Ressourcen, die, und das dürfen wir nicht vergessen, nicht unendlich zur Verfügung stehen.

Wirtschaftswachstum und Klimaschutz sind also nicht miteinander vereinbar? Doch, viele Expert*innen gehen davon aus, dass es Wachstumsformen gibt, die den Planeten nicht zerstören. Die einzige Möglichkeit den Verbrauch von Rohstoffen herunterzufahren, ist eine Wachstumsrücknahme: weniger konsumieren, weniger produzieren. Ich habe keine Allheilmittel, aber ich mache mir meine Gedanken.

Haben Sie konkrete Beispiele für alternatives Wachstum? Ich glaube, wir müssen auf Aktionen auf lokaler Ebene setzen. Die Selbstversorgung ist hierfür ein Beispiel. Heutzutage sind Städte darauf angewiesen, ihre Lebensmittel zu importieren, obwohl es bereits Initiativen gibt, im Rahmen derer die Zivilbevölkerung ihre Lebensmittel selbst anbaut. Das trägt nebenher noch zum sozialen Zusammenhalt bei. Statt unsere Felder mit Pestiziden zu besprühen und auf Monokultur zu setzen, die die Böden und die Artenvielfalt zerstört, sollten wir landwirtschaftlichen und handwerklichen Berufen wieder zu mehr Bedeutung auf lokaler Ebene verhelfen. Wir sind Europäer*innen, trotzdem können wir sagen, dass es vorteilhaft ist, einige Produkte in Frankreich herzustellen, ohne damit den Binnenmarkt in Frage zu stellen.

Gehen Sie davon aus, dass Bewegungen wie Extinction Rebellion in Zukunft zusehends mehr Anhänger*innen finden und es schaffen, wirklich Druck auf politische Entscheidungen auszuüben? Seit Anfang Oktober wurden wir in Europa Zeug*innen von etwas noch nie Dagewesenem: unzählige von Bürger*innen getragene Rebellionen, die sich nicht nur auf die Hauptstädte und Städte Europas beschränken, sondern auch außerhalb der Europäischen Union um sich greifen. Die Gelbwesten in Frankreich, die Anti-Regierungsproteste in Hong Kong, die katalanischen Unabhängigkeitsproteste in Spanien, die Proteste im Sudan und im Libanon… und nicht zu vergessen die Welle der Entrüstung in Chile. Ganz egal aus welchem Kulturkreis sie stammen, Menschen begehren auf angesichts immer größer werdender sozialer Ungleichheiten oder auch aus Klimaschutzgründen. Meines Erachtens nach, weist diese Vielfalt an Protesten auf einen ganz wichtigen Umstand hin: Alles hängt zusammen. Und im Herzen des Systems verbindet sich die soziale mit der ökologischen Komponente. Die Europäische Union sollte vermehrt daraufsetzen, ihre Politik zu harmonisieren, indem sie diesen beiden Elementen einen hohen Stellenwert zukommen lässt.

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