Aktivist*innen im Interview: Geflüchtete an der griechisch-türkischen Grenze

„Was haben wir getan, dass sie uns wie Tiere behandeln?“

, von  Nikolas Karanikolas

„Was haben wir getan, dass sie uns wie Tiere behandeln?“
„Pair of small sandals lost at the beach“. Foto: AdobeStock / KariDesign / Lizenz gekauft durch den Autor

Wie sich die Europäischen Union und die Türkei seit der Grenzöffnung durch letztere gegenüber Geflüchteten verhalten, ist eine Zensur: Menschenrechtsorganisationen sprechen von einer humanitären Katastrophe. Lorenz Böttcher und Eva Schade sind zwei deutsche Studierende, die in Eigeninitiative an die türkisch-griechische Grenze reisten, um dort Geflüchtete mit Hilfsgütern zu versorgen. Im Interview erzählen sie von ihren Erfahrungen und zeigen politischen Handlungsbedarf auf.

Am 29. Februar 2020 verkündete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dass die Grenze zu Griechenland geöffnet sei. Rund 13.000 Geflüchtete versuchten daraufhin größtenteils vergeblich, die Europäische Union über die griechische Außengrenze zu betreten. Was folgte stufen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) inzwischen als humanitäre Katastrophe ein: Griechische und europäische Behörden setzten Schlagstöcke, Tränengas und Blendgranaten ein, um Einreisen zu verhindern und Geflüchtete zu berauben.

Aufgrund des humanitären Notstands der Geflüchteten an der griechisch-türkischen Grenze haben eine Vielzahl von Türk*innen und Europäer*innen sich dazu entschlossen, in Eigeninitiative den dort gestrandeten Geflüchteten zu helfen.

Darunter: Lorenz Böttcher und Eva Schade, zwei deutsche Studierende. Eva Schade ist 23 Jahre und studiert in Osnabrück interkulturelle Psychologie im Master. Sie arbeitet ehrenamtlich in einem psychosozialen Zentrum für Geflüchtete. Auch sammelte sie bereits Erfahrungen in der Geflüchtetenarbeit in Jordanien, dem Libanon und Griechenland. Lorenz Böttcher ist 22 Jahre und studiert

Jura in Berlin. Seit 2016 ist er in der studentischen Initiative Refugee Law Clinic in Berlin aktiv, welche Geflüchtete juristisch berät. Momentan absolviert er ein Auslandssemester in Istanbul. Gemeinsam sind die beiden an die türkische Grenze gereist, um dort aus privaten Spenden Hilfsgüter an Geflüchtete zu verteilen, darunter rund 250 Planen, über 300 Decken und Medikamente im Wert von über 8.000 Euro.

treffpunkteuropa.de: Wann und weshalb habt ihr entschieden euch zu engagieren?

Eva Schade: Als ich sah, was an der türkischen Grenze passierte, habe ich gesagt, dass ich nicht einfach dasitzen, zuschauen und nichts machen kann. Irgendetwas musste ich tun. Und anderen Menschen ging es ähnlich: Deswegen habe ich die Facebookgruppe „What can we do now“ gegründet. In der Gruppe haben wir überlegt, ob es Sinn macht, an die Grenze zu fahren, oder ob es beispielsweise mehr Sinn machen würde, ein Protestcamp in Brüssel zu veranstalten. Doch stand für uns schnell fest, dass wir an die Grenze müssen. Lorenz war zu diesem Zeitpunkt bereits in Istanbul. So konnten wir anfangs bei ihm übernachten. Es hat einfach super gut gepasst.

Aus der Berichterstattung ergibt sich ein Bild von extremer Not. Hat sich das vor Ort bewahrheitet?

Lorenz Böttcher: Ich wusste recht wenig über die Situation und wurde deswegen von den anderen gewarnt, dass es mich schockieren könnte. Mit einem großen Auto sind wir am ersten Tag von Istanbul nach Edirne gefahren. Es gab an verschiedenen Flüssen Grenzkontrollen und als Ausländer mit Istanbuler Nummernschild wurden wir immer kontrolliert. So wurde uns auch schlussendlich der Zugang zum Grenzgebiet von Polizisten verweigert. Unser Auto war bereits beladen und wir waren so frustriert, dass es anfangs schien, als könnten wir nicht in den Grenzbereich gelangen. Abends sind wir dann über Feldwege und mit viel Glück an den Kontrollen vorbei in die unmittelbare Nähe des Grenzgebiets gekommen. Dort haben wir im Auto geschlafen. Am nächsten Tag war schon alles anders: Da war zum Beispiel ein mit Geflüchteten gefüllter, kleiner Marktplatz. Die Leute haben teils kaum Kleidung getragen, haben gefroren, gehustet und waren mitunter auch nass und dreckig.

Doch die Bilder des ganz krassen Elends – also des des abgesperrten Grenzgebiets, in dem Menschen im Schlamm unter spärlichen Plastikplanen lagen – sind für mich Bilder aus den Medien geblieben, da uns bis zum Ende hin der Zugang verwehrt blieb.

Welche Rolle nehmen zivilgesellschaftliche Initiativen wie eure im Vergleich zu der Arbeit von NGOs ein?

Eva Schade: Unsere Arbeit war auf jeden Fall notwendig. Die großen NGOs, die vor Ort waren, mussten auch im Interesse der türkischen Politik handeln. Das heißt, dass sie sich nicht zu stark gegen die Regierung stellen konnten oder nicht so viele Materialien ausgeben durften, wie sie konnten, wollten und vor allem wie es notwendig gewesen wäre – so auch zum Beispiel der Rote Halbmond, welcher die größte türkische Hilfsorganisation ist. Wenn so etwas passiert, werden Initiativen wie unsere wichtig, die sich auch gegen die Politik widersetzen können. Es gab auch viele einheimische Leute, die geholfen haben. Ohne sie wäre es auf jeden Fall noch schlimmer gewesen.

Wie haben die Geflüchteten an der Grenze selbst über ihre Lage, ihre Erfahrungen und die Grenzüberquerung gesprochen?

Eva Schade: Da ich arabisch spreche, konnte ich mit ihnen ins Gespräch kommen. Diejenigen, die es nach Griechenland geschafft hatten, haben mir ausnahmslos erzählt, dass sie misshandelt und ihnen Dokumente, Geld und Handys, aber auch Kleidung und Schuhe genommen wurden. Oft wurden sie auch geschlagen, teils mit Schlagstöcken, auf den Rücken oder die Fußsohlen. Anschließend brachte man sie zurück in die Türkei und setzte sie teils gar in Feldern aus.

Lorenz Böttcher: Grundsätzlich haben die Menschen keine Angst, ihre Geschichte zu erzählen. Als ich wieder in Istanbul war, sagten mir viele, dass sie wollen, dass jemand ihre Geschichte hört. Sie beklagen sich und fragen nach unserer Einschätzung und nach Menschenrechten in Europa.

Eva Schade: Viele sagen, dass sie fassungslos sind und dachten, dass es in Europa Menschenrechte gebe. Sie fragen, wo sie jetzt hingehen sollen und was sie getan hätten - sie seien doch nur Menschen, die ein besseres Leben oder Schutz wollen. Eine häufige Frage war, „Was haben wir getan, dass sie uns so wie Tiere behandeln?“


Eindrücke von der Grenze. Foto: Lorenz Böttcher

Wie bewertet ihr das Verhalten der Türkei? Und wie steht ihr zum Umgang der EU mit den Geflüchteten an der griechischen Grenze?

Lorenz Böttcher: Die Türkei hat aus meiner Sicht versucht, die Menschen zum Spielball, zur Verhandlungsmasse zu machen und die EU hat bereitwillig mitgemacht. Statt zu reagieren und die Menschen in den Vordergrund zu stellen, hat die EU mit der Verstärkung der Grenze das Spiel der Türkei mitgespielt und so auf ihrer Seite neue Realitäten geschaffen. Aus meiner Sicht ist eine Politik, die die Menschen und ihr Leiden nicht in den Vordergrund stellt, ein absolutes Versagen.

Eva Schade: Ich glaube auch, dass es es ein absolutes Versagen ist, wenn Europa als Friedensnobelpreisträgerin auf Menschen mit Tränengas schießt. Sogar mit abgelaufenem Tränengas, das giftig ist und tödlich sein kann. Es verstößt gegen die Menschenrechte, wenn Menschen von europäischen Beamt*innen verletzt und geschlagen werden und das Asylrecht ausgesetzt wird. Und wenn politisches Kalkül und die „angebliche“ Angst vor Rechtspopulist*innen dazu führt, dass Menschenrechte nicht mehr zählen oder für einige Menschen ausgesetzt werden. Das ist ein Versagen Europas und eine Schande. Es ist unfassbar, dass so etwas passiert.

Was ich auch krass finde, ist, dass 2015 die Alternative für Deutschland (AfD) gesagt hat, dass wir uns notfalls mit Waffen verteidigen müssen, um die Grenzen zu sichern - und das wurde jetzt einfach gemacht. Dahinter steht die Argumentation, dass das als Schutz gemacht werden müsse, da sonst die Rechtspopulist*innen gewinnen würden. Ein Geflüchteter aus dem Irak hat zu mir sehr treffend gesagt: „Was bringt es, wenn ihr aus Angst vor rechten Menschen und rechten Parteien genau das macht, was sie auch machen würden?“ – und so sehe ich das auch.

Weltweit breitet sich die Corona-Pandemie aus. Wie wird in der Türkei im Hinblick auf Geflüchtete gehandelt?

Eva Schade: Am 26. März wurde die Situation an der Grenze aufgelöst - teils gewaltsam. Den Menschen wurde gesagt, dass sie wegen der Pandemie gehen müssen. Viele wollten nicht, weil sie alles verloren hatten und immer noch die Hoffnung hatten, nach Europa zu gelangen und dort Schutz zu erhalten. Einige wurden mit Bussen weggebracht, andere sind geblieben und mussten zuschauen, wie Sicherheitskräfte die Zelte und ihren gesamten Besitz niederbrannten - bis sie sich auch schlussendlich von Bussen wegbringen ließen.

Wir wissen momentan von neun Lagern, in welche die Geflüchteten gebracht wurden. Die sind teils in der Grenzregion zu Griechenland, teils 15 Fahrstunden weit entfernt in Malatya, das in der Nähe zur syrischen Grenze liegt. Dort sind sie nun in einer angeblichen „Quarantäne“. Wir erhalten wenige Informationen, wissen aber, dass es anfangs kaum Nahrung gab und jetzt noch immer nicht genug gibt. Den Menschen wurden die Handys abgenommen und sie sind zu mehreren in Zelten oder Turnhallen untergebracht. Das ist keine Quarantäne, sondern eher ein Verdrängen aus der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Was bedeuten die Erfahrungen, die ihr in der Türkei gemacht habt, für euer zukünftiges Engagement?

Lorenz Böttcher: Es bleibt unser Hauptanliegen an die Menschen heranzukommen, die von dem taktischen Hin und Her zwischen der Türkei und der EU motiviert und teils gezwungen wurden, an die Grenze zu gehen. Das ist gerade unglaublich schwer, obwohl der Notstand immer noch anhält. Andererseits versuche ich hier in Istanbul, ältere Geflüchtete, denen es schon unter normalen Umständen nicht so gut gehen würde, mit Essen und anderen Hilfsmitteln zu versorgen.

Eva Schade: Vor allem müssen wir schauen, was passiert, wenn die angebliche „Zwei-Wochen-Quarantäne“ vorbei ist. Man weiß nicht, wo die Menschen danach hinkommen oder ob es eine neue Katastrophe an der Grenze geben wird. Außerdem versuchen wir über Medienarbeit und unseren Blog publik zu machen, was gerade in der Türkei im Umgang mit Geflüchteten passiert.

Würdet ihr sagen, ihr besitzt eine europäische Identität? Und wenn ja, wie hat das Handeln der EU an der Grenze diese verändert?

Lorenz Böttcher: Es hat sich auf jeden Fall verändert. Ich würde sagen, dass ich mich als Europäer fühle. Jedoch habe ich mich sehr oft im Zwiegespräch mit Geflüchteten dafür entschuldigt, was für eine kranke Politik von der EU gemacht wird. Die Geflüchteten sehen, dass ich gute Kleidung trage und dass ich zum Studieren hier bin – und nicht etwa, weil ich vertrieben worden bin. Deshalb kann ich Unterstützung anbieten - und gleichzeitig schießen die Länder, aus denen ich und andere Helfer kommen, auf Geflüchtete und schließen die Grenzen. Ich habe mich so oft entschuldigt und gesagt, dass ich mich dafür schäme.

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