Spätestens nachdem Nicolas Sarkozy das Städtchen Calais im Zuge seines Wahlkampfs besucht hatte und dort frenetisch gefeiert wurde, verstand wohl Francois Hollande, dass er nun handeln musste, wollte die Regierung nicht noch mehr an Popularität verlieren. Und so nahm der französische Präsident in seiner Rede Ende September die Worte „definitive und komplette Räumung“ in den Mund. Dass es von diesem Moment an noch gut vier Wochen dauern würde, bevor die ersten Migranten mit Bussen in andere Regionen Frankreichs gebracht würden, zeigt, dass die französischen Behörden im Eiltempo organisieren mussten, waren sie doch nicht auf so eine schnelle Auflösung des infrastrukturell auf die Größe einer Kleinstadt angewachsenen Lagers vorbereitet.
Die ehemalige Fischereistadt Calais liegt am französischen Ende des Eurotunnels nach Großbritannien. Und damit liegt sie genau neben jenem Ort, an dem Tausende Migranten ihr hoffnungsvolle Reise über oder unter den Ärmelkanal beginnen wollen. Im Lager in der Heidelandschaft, „Dschungel“ genannt, harrten seit dem Sommer 2015 bis zu 10 000 Menschen aus, gemäß Zählungen des UN-Flüchtlingswerks rund 1 200 unbegleitete Minderjährige unter ihnen.
War schon mit den Bauarbeiten an einer Mauer begonnen worden, die die Campbewohner daran hindern sollte, auf Lkws aufzuspringen, fordert die Bürgermeisterin der Stadt nun den Baustopp. Der „Schandfleck“ Frankreichs, das Symbol des Scheiterns der europäischen Migrationspolitik scheint beseitigt, die ungeliebten Nachbarn sind ausgezogen, der Einzelhandel in Calais jubiliert.
Die Art und Weise der Räumung, dies muss auch gesagt sein, hat viele positiv erstaunt. Hand in Hand mit den Hilfsorganisationen vor Ort wurden die Migranten darauf vorbereitet, sie konnten Mitreisende und Zielregionen wählen, während der Räumung kam es kaum zu Gewalt. Doch leider hat Frankreich sich seinen „Schandfleck“ nur zeitweise vom Hals geschafft. Nur wenige Tage später schoss die nächste Zeltstadt aus dem Boden. Diesmal nicht allzu weit weg von Ministerien und Präsidentenpalast, im Pariser Norden campten bis zu 3000 Migranten, unter ihnen auch die Neuankömmlinge aus Calais.
Wer sich in Calais entschieden hatte, in die von der Regierung gestellten Busse zu steigen, landete in sogenannten Orientierungszentren, gedacht als Übergangslösung für einige Tage und bereits jetzt heillos überfüllt. Doch auch nach dieser Etappe ist die Odyssee durch Frankreich noch nicht vorbei, es folgen momentan leer stehende Urlaubsanlagen und Häuser im Besitz von Gemeinden. Die Feriendörfer müssen, sobald die Urlaubssaison beginnt, wieder geräumt sein, und unter den Bürgermeistern der oftmals kleinen und ländlich gelegenen Gemeinden regt sich der Widerstand. Zu wenig waren sie über die Vorhaben der Regierung informiert worden, zu schnell kamen die Beschlüsse von oben. Oftmals ist die Integration der neuen Dorfbewohner ist auf die Weise kaum möglich. Solange es dem französischen Staat nicht gelingt, ausreichend langfristige Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen, gehen die Umzüge weiter – wie soll da eine Annäherung zwischen den dauerreisenden Migranten und der oftmals misstrauischen und von den Behörden enttäuschten Bevölkerung entstehen? Wie sollen sich Vereine zu einem Engagement entschließen, wenn die Aufenthaltszeit der Migranten in den Dörfern immer wieder variiert und die recht-liche Lage noch ungeklärt ist? Dies beginnt bereits bei Haftungsfragen, wenn beispielsweise einer der Neuankömmlinge beim Kicken mit der Dorfmannschaft einen Unfall hätte – ein entwickeltes Versicherungssystem für die Migranten hat Frankreich noch nicht. Das Lager in Calais galt lange Zeit als Beispiel dafür, wie mitten in der Europäischen Union menschenunwürdige Lebensbedingungen auf engstem Raum zugelassen werden konnten, die doch so gar nicht den europäischen Idealen entsprachen. Wenn in Frankreich nun vom wohl auffälligsten Symbol der Flüchtlingskrise nichts mehr zu sehen ist, sinnvoll untergebracht oder gar integriert sind diese vielen Tausend Menschen noch lange nicht. Die zügige Räumung fordert bereits jetzt ihren Tribut.
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