Zwischen Mauerfall und Revolution

Warum die deutsche Perspektive auf 1989 problematisch ist

, von  Jan Sztanka-Tóth, übersetzt von Daniel Michel

Warum die deutsche Perspektive auf 1989 problematisch ist
Im Zentrum der deutschen Erinnerungskultur: die Berliner Mauer. Foto: Unsplash / Luis Diego Hernández / Unsplash License

Das Ende des Kalten Krieges und die Auflösung des Ostblocks wird heute von Menschen in Zentral- und Osteuropa anders wahrgenommen als von Menschen in Westeuropa. Für Menschen in Westeuropa symbolisiert der Fall der Berliner Mauer die Wiedervereinigung von Deutschland und das Ende der kommunistischen Systeme in der Region. In den Köpfen der Menschen in Zentral- und Osteuropa ist das Jahr 1989 eher mit inländischen Ereignissen in den jeweiligen Ländern verknüpft. Das bedeutet nicht, dass die Ereignisse in Berlin weniger wichtig sind. Doch diese Ereignisse sollten nicht die Geschehnisse in anderen Teile Europas überschatten, die ebenso eine interessante Geschichte zu erzählen haben.

Die Spaltung ist in gewisser Weise natürlich, denn wir alle wissen mehr über unsere eigene Geschichte als über die anderer Nationen. Schwierig wird es jedoch, wenn man die Ereignisse in Berlin mit dem Fall des Kommunismus in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang stellt oder den Wandel in Europa auf dieses einzelne Ereignis verkürzt. Beides könnte nicht nur Zentral- und Ost-Europäer*innen vor den Kopf stoßen, sondern wird auch der Geschichte nicht gerecht. Warum sollte uns das interessieren? Wenn wir den Aufstieg „illiberaler Demokratien“, Nationalismus und generell die aktuellen politischen Probleme der Region verstehen wollen, müssen wir wissen, wie der Prozess der Demokratisierung in diesen Ländern ablief.

Zunächst ist es hilfreich, ein paar Beispiele wichtiger Ereignisse im Jahr 1989 in den einzelnen Ländern vorzustellen. Für Tschechien ist dies der zwei Stunden Generalstreik am 27. November, der Teil der berühmten Samtenen Revolution war. Er zwang die kommunistische Regierung unmittelbar dazu, nur zwei Tage später das Ende der Ein-Parteien-Herrschaft zu verkünden. Für die baltischen Staaten könnte es der Baltische Weg sein, eine 675.5 km lange Menschenkette, an der rund zwei Millionen Menschen teilnahmen, um Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu fordern. Für Rumänien könnte die Exekution des Diktators Ceausescu und die darauffolgende blutige Revolution das beste Symbol darstellen. Das sind nur wenige Beispiele. Die Botschaft: Das Jahr 1989 ist voller Symbole und Geschichten, deren Diversität oft nicht beachtet wurde.

Selbstverständlich sagen diese idealistischen Erzählungen nicht alles über den Wandel in den jeweiligen Ländern, aber sie liefern einen guten Anfang. Sie helfen uns, eine andere Seite der Gesellschaften zu erkunden, die durch einen solchen Prozess der Demokratisierung gingen, der sie dazu zwang, schwere moralische Fragen zu beantworten. Die meisten drehten sich um eine Versöhnung mit der Vergangenheit und der Art, in der der Wandel von statten gehen sollte. Die Antworten sind das, was bis zum heutigen Tag die zwei Hauptführer der „Illiberalen Demokratie“ voran bringt.

In Polen wird beispielsweise der andauernde Kampf um die Reform der Justizorgane durch die regierende „Recht und Gerechtigkeit“-Partei damit gerechtfertigt, dass diese notwendig seien, um „kommunistische Richter*innen“ aus ihren Ämtern zu entheben. In Ungarn wurde die neue Verfassung, die 2011 verabschiedet wurde und die Grundlage der Herrschaft des Premierministers Viktor Orban ist, als „wahrer“ Wandel präsentiert. Dies spielt auf die Tatsache an, dass die ungarische Verfassung 1989 nicht geändert, sondern nur ergänzt wurde. In beiden Fällen liegt Wahrheit in den Argumenten der jeweiligen Regierungen. Ob diese Argumente ihrer tatsächlichen Motivation entsprechen, ist fraglich.

Alles in allem kann ein Verständnis der Vergangenheit einen wichtigen Einblick in die Philosophie „illiberaler Regime“ bringen. Das ist ein notweniges Mittel, um ihre Agenda zu bekämpfen, insbesondere weil nationalistische Regime besonders anfällig dafür sind, historische Rechtfertigungen für ihre Handlungen zu suchen. Daher können wir, wenn wir vereinfachende Assoziationen überwinden, unser Verständnis der Geschichte bereichern und die Kämpfe und Opfer in Zentral- und Ost-Europa in dieser Periode besser greifen. Das wird wertvoll sein auf dem Weg zu einem föderaleren Europa, das zusammenhält und in dem Ost- und Mittel-Europäer*innen sich gegenseitig verstehen und für das Projekt gewinnen wollen.

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