Vom 6. bis zum 9. Juni sind in der Europäischen Union (EU) ungefähr 350 Millionen Bürger*innen zur Wahl des Europäischen Parlaments aufgerufen. Aber wie genau funktioniert die Wahl zum Europäischen Parlament überhaupt? Wahlrecht kann – das weiß man in Deutschland nur zu gut – sehr komplex sein. Und ob dies beim Wahlrecht für die Wahl zum Europäischen Parlament anders ist, erscheint auf den ersten Blick mehr als fraglich. Aber vielleicht kann es nicht schaden, sich etwas intensiver mit dieser Materie zu befassen.
Gibt es überhaupt das eine Wahlrecht für das Europäische Parlament?
Zunächst kann man sich fragen, ob es überhaupt ein einheitliches Wahlrecht für das Europäische Parlament gibt. Die Antwort heißt hier wie immer: Jein. Der Blick in die rechtlichen Grundlagen der EU hilft: Die Wahl soll allgemein und unmittelbar und nach einem „einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedsstaaten“ stattfinden, so Art. 223 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Darüber hinaus hat die EU im Zuge der ersten richtigen – ergo allgemeinen und unmittelbaren – Wahl zum Europäisches Parlament den sogenannten Direktwahlakt (DWA) erlassen. Darin ist gleich in Art. 1 das Wichtigste geregelt: Das Europäische Parlament ist nach dem Verhältniswahlrecht zu wählen, also nach Listen. Somit führen die Wahlen regelmäßig zu einer großen Parteienvielfalt und es drohen keine britischen Verhältnisse, wo aufgrund des Mehrheitswahlsystems („the winner takes it all“) die Politik von zwei Parteien dominiert wird. Darüber hinaus regelt der DWA allerdings nicht allzu viel. Die zwangsläufige Folge: Das Wahlrecht ist ein großer Flickenteppich verschiedenster nationaler Regelungen.
Sperrklausel: das Aus für europäische Kleinstparteien?
Auch die Regeln über die Sperrklauseln gleichen einem solchen Flickenteppich. Unter einer Sperrklausel ist ein festgelegter Prozentsatz an Stimmen zu verstehen, die eine Partei erreichen muss, um ins Parlament einzuziehen. Grundsätzlich gilt laut dem DWA, dass Mitgliedsstaaten Sperrklauseln erlassen dürfen, diese jedoch nicht mehr als 5% betragen dürfen. Ob jedoch auch eine Mindestvorgabe gilt, wird seit Jahren in der EU rege diskutiert.
Seinen Ursprung hatte diese Diskussion unter anderem in der Hartnäckigkeit des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Nachdem das Karlsruher Gericht 2011 erst die in Deutschland lange geltende 5% Klausel gekippt hat und auch den zweiten Versuch einer 3% Hürde für verfassungswidrig erklärt hatte, versuchte es die Bundesregierung über den „Brüsseler Weg“. So wurde in Brüssel eine Vereinheitlichung des Wahlrechts vorangetrieben, um in diesem Zuge europaweit eine Sperrklausel einzuführen und damit dem BVerfG das „verfassungsgerichtliche Mitspracherecht“ größtenteils zu entziehen. Denn über die Verfassungsmäßigkeit eines europäischen Gesetzes kann das BVerfG im Regelfall nicht entscheiden. Zumindest im Kreis der Mitgliedsstaaten war diese Initiative zunächst von Erfolg gekrönt. 2018 beschloss der Ministerrat mit Zustimmung des Parlaments, dass die Mitgliedsstaaten eine Sperrklausel einführen müssen, die mindestens 2% betragen soll.
Zwei Haken gibt es jedoch bis heute: Erstens haben Spanien und Zypern die Reform noch nicht ratifiziert; Deutschland hatte dies auch erst im Juni 2023 gemacht. Zweitens würde die Reform sowieso erst zur Wahl im Jahr 2029 zur Geltung kommen. Das Europäische Parlament startete 2022 daher einen erneuten Versuch der Harmonisierung des Wahlrechts für das Europäische Parlament. Das neue Wahlrecht sollte schon für die kommende Wahl gelten und sah unter anderem eine europaweite 3,5% Klausel vor. In der EU darf das Parlament jedoch nicht allein über sein Wahlrecht bestimmen; der Rat muss den Vorschlag einstimmig annehmen, verweigerte in diesem Fall aber kurze Zeit später seine Zustimmung. Und somit ist man Jahre nach dem letzten BVerfG-Urteil immer noch auf demselben Stand.
Long story, short: auch in der kommenden Europawahl wird es in Deutschland – anders als bei den nationalen Wahlen – keine Sperrklausel geben. Freuen werden sich darüber Kleinstparteien wie Volt oder „Die Partei“; aber auch die Linke oder das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht könnte davon profitieren. Zu Bedenken ist aber auch: Nachdem für die Europawahl 2014 in Deutschland erstmals keine Sperrklausel galt, zog auch die rechtsextreme NPD mit einem Vertreter in das Europäische Parlament ein.
Transnationale Listen: Eine wirklich europäische Wahl?
Das Europäische Parlament diskutierte in seinen Reformbemühungen 2022 nicht nur die Sperrklausel, sondern auch die Einführung sogenannter transnationaler Listen. Nach der Vorstellung der Parlamentarier*innen solle eine zweite Stimme eingeführt werden, mit der transnationale Listen der europäischen Parteien (z.B. EVP oder S&D) gewählt werden können. Das Besondere ist, dass – im Gegensatz zur derzeit einzigen Stimme – die Listen in allen Mitgliedsstaaten mit dem gleichen Personal besetzt sein sollen. 28 Mandate sollen über diese zusätzliche Stimme vergeben werden. Auch die Teilnehmer*innen der Konferenz zur Zukunft Europas sprachen sich für solche unionsweite Wahllisten aus. Die Hoffnung ist, dass diese Zweitstimme die europäischen Parteien zusätzlich stärkt und ein Stück weit unabhängiger von den nationalen Parteien macht.
Zudem würde dadurch auch eine Besonderheit des Europawahlrechts abgemildert werden. Damit die Parteienvielfalt auch in kleineren Mitgliedsstaaten abgebildet werden kann, ist das Wahlrecht degressiv. Das bedeutet, dass diese Staaten im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl mehr Abgeordnete haben als größere Mitgliedsstaaten. Wäre dies nicht der Fall, hätte zum Beispiel Malta kaum Abgeordnete im Parlament; die maltesische Parteienvielfalt könnte unmöglich abgebildet werden. Demokratietheoretisch ist dies jedoch trotzdem höchst problematisch; die Stimmen der Wähler*innen aus Deutschland haben weniger Einfluss auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments als die Stimmen aus Malta. Würde das Europäische Parlament nur noch über transnationale Listen gewählt werden, würden die Abgeordneten in einem europaweiten Wahlkreis gewählt werden und somit nicht mehr über das „nationale“ Ticket. Daher wäre eine solche degressive Verteilung nicht mehr notwendig.
Aber auch diesen Vorschlag ereilte dasselbe Schicksal wie der Vorschlag zur Einführung einer 3,5% Hürde; die Mitgliedsstaaten lehnten ihn ab. Somit wird die Wahl auch in der Hinsicht wie immer stattfinden: die Bürger*innen der Mitgliedsstaaten wählen ausschließlich nationale Listen – vergleichbar mit der Zweitstimme bei der Bundestagswahl.
Wo sind eigentlich die Spitzenkandidat*innen?
Einen Rückschlag erlitt auch ein weiteres Konzept, das dazu beitragen sollte, der Wahl zum Europäischen Parlament mehr Bedeutung zu verschaffen. Das Prinzip der Spitzenkandidat*innen. Für Menschen, die sich viel mit den Wahlen zum Europäischen Parlament auseinandergesetzt haben, ist es so etwas wie ein evergreen. Das Europäische Parlament und dessen Wahl soll – ähnlich wie die Bundestagswahl – mehr Einfluss auf den Posten der EU-Kommissionspräsident*in haben. Das Prinzip ist simpel: die europäische Partei, die die meisten Stimmen holt, soll auch das Recht haben, die EU-Kommissionspräsident*in vorzuschlagen.
Das erste Mal zur Anwendung kam das Prinzip 2014, als Jean-Claude Juncker von der EVP gegen den S&D Kandidaten Martin Schulz gewann. Seine EVP-Fraktion konnte die meisten Sitze im Parlament holen, wodurch Juncker Kommissionspräsident wurde. Doch bereits fünf Jahre später scheiterte das Spitzenkandidat*innenprinzip krachend. Erneut wurde die EVP stärkste Kraft, dennoch durfte der Spitzenkandidat der EVP, CSU-Politiker Manfred Weber, nicht den Thron der Kommission besteigen. Stattdessen zauberten die Mitgliedsstaaten mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron an der Spitze – das formelle Vorschlagsrecht hat immer noch der Europäische Rat inne – die damalige deutsche Verteidigungsministerin aus dem Hut: Ursula von der Leyen von der CDU; der eigentlich vorgesehene Manfred Weber musste zurückstecken.
In Helsinki durfte sich Manfred Weber noch freuen. Die EVP hatte ihn soeben zum Spitzenkandidaten für die Wahl zum EU-Parlament gewählt. Kommissionspräsident durfte er trotzdem nicht werden. Foto: European People’s Party / Wikimedia / Lizenz
Der nächste gescheiterte Reformversuch: das Spitzenkandidat*innenprinzip rechtlich festschreiben
Das Europäische Parlament startete 2022 noch einen Versuch, um das Spitzenkandidat*innenprinzip wieder hochleben zu lassen und verband es mit dem Vorschlag für die transnationalen Listen. Auf den ersten Platz der Liste sollten die europäischen Parteien ihre*n Spitzenkandidat*in setzen. Aber auch dies lehnten die Mitgliedsstaaten ab.
Und wenn man sich nun die diesjährigen Spitzenkandidat*innen anschaut, wird schnell klar: das (gesetzlich nicht geregelte) Spitzenkandidat*innenprinzip wird zumindest für diese Wahl keine Rolle spielen. Von den großen Parteien haben bisher nur die S&D und die Europäische Grüne Partei Spitzenkandidat*innen nominiert – und dies knappe vier Monate vor der Wahl.
Für die Europäischen Grünen werden Terry Reintke und Bas Eickhout antreten und die S&D nominierte den luxemburgischen EU-Kommissar Nicolas Schmit. Deutsche Medien griffen das Thema kaum auf und auch das Magazin Politico berichtete, dass es bei den Sozialdemokraten kaum Kandidierende für das Amt gab. So wird die Wahl Schmits auch dahingehend interpretiert, dass nach der Ernüchterung bei der letzten Wahl kaum Hoffnung in die Spitzenkandidat*innen gesetzt wird. Dies mag aber auch daran liegen, dass die Chancen für eine Wiederwahl der derzeitigen Kommissionspräsidentin von der Leyen sehr gut stehen. Denn am Ende – dies hat man vor fünf Jahren gesehen – ist schließlich vor allem die Unterstützung in den Reihen der Mitgliedsstaaten wichtig und nicht die der Wähler*innen.
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