Das schwierige britische Verhältnis zum Föderalismus
Großbritanniens Beharren auf die Abschaffung einer Klausel des Maastricht-Vertrags über den föderalen Charakter der EU ist symptomatisch für das komplizierte Verhältnis der Nation zum Föderalismus. Föderalismus wurde schon immer argwöhnisch von den Briten betrachtet: Vom Ringen darum, das “United” in “United Kingdom” beizubehalten, bis hin zur Frage, was in diesem Fall mit der Queen passieren würde.
Könnte diese Wahl nun einen Wendepunkt in der britischen Nationalpolitik einläuten? In den letzten Jahren sah sich Westminster mit einem Machtverlust zu Gunsten von Schottland, Wales und Nordirland konfrontiert, was den neu gegründeten Parlamenten mal mehr, mal weniger Autonomie einbrachte. Die regionalen Parlamente können jetzt in vielen Bereichen eigene Gesetze verabschieden, unabhängig davon, was in London beschlossen wird - das erinnert in der Tat sehr an Föderalismus.
Das Referendum um die Schottische Unabhängigkeit im letzten Jahr war ebenfalls ein weiterer Schritt in Richtung eines föderaleren Großbritanniens. Obwohl das Referendum keinen souvereränen schottischen Nationalstaat hervorbrachte, manifestierte sich in der Wahl doch ein lauter Ruf nach mehr Unabhängigkeit, der fortan auch aus Wales und Nordirland hallt.
Parlamentswahl 2015 als möglicher Wendepunkt
Die Ergebnisse der aktuellen Wahl scheinen zu bestätigen, dass diese Entwicklung noch verstärkt wurde: Ein kurzer Blick auf eine nach Wahlkreisen farblich aufgeschlüsselte Karte von Großbritannien bestätigt, dass föderalistische Tendenzen nach der Wahl offensichtlich sind. Schottland ist in ein einheitliches Gelb getaucht, das repräsentiert das Monopol der Scottish National Party (SNP), das sie hier neuerdings hält - 50 Sitze sind seit der letzten Wahl hinzugekommen. Ebenso stellt sich Wales dem englischen Diktat der Konservativen entgegen. Die Waliser haben nämlich überwiegend Kandidaten der der regionalen Partei Plaid Cymru gewählt.
Könnte das ein Abrücken vom Zweiparteiensystem der aktuellen britischen Politik hin zu einem System, indem regionale Parteien wichtiger sind, signalisieren? Nun ja, vielleicht.
Bewegung für Wahlrechtsreform
Einer der Reflexe, die nach Wahlen üblicherweise zu beobachten sind, ist die Forderung nach einer Reformierung des Wahlrechts. Dies würde den Föderalismus schon in unmittelbare Reichweite rücken. Seit der Wahl haben 227.000 Menschen eine Petition für die Reform des bestehenden Mehrheitswahlrechts unterschrieben, wobei besonders das Ungleichgewicht zwischen abgegebenen Stimmen und gewonnen Sitzen hervorgehoben wird. Das ist der geographischen Zuteilung von Wahlkreisen geschuldet und wird als Haupthemmnis für Demokratie in Großbritannien wahrgenommen. Um ein besseres Verhältnis zwischen Stimmen und Sitzen zu erzielen, werden Wahlrechte empfohlen, die das Verhältniswahlrecht zum Vorbild haben.
Der Schritt zum Verhältniswahlrecht könnte Großbritannien möglicherweise in Richtung eines weitaus weniger engstirnigen parlamentarischen Systems lenken. Weil Parlamentsmitglieder nicht mehr streng abgegrenzte geographische Gebiete repräsentieren würden, würde deren Verantwortung auf lokale Autoritäten übergehen, so wie man es zum Beispiel in Deutschland sieht. Hätten regionale Gebietskörperschaften mehr Macht und wäre Westminster nur noch für Regierungsgeschäfte auf nationalem Niveau zuständig, wäre Großbritannien dann auf dem Weg zu einem föderalen Staat?
Die West-Lothian-Frage
Die Aussicht auf ein föderales Vereinigtes Königreich ist vielversprechend, weil neben den Rufen nach einer Wahlreform aktuell auch eine Debatte um neue Zuständigkeitsverteilungen in der Beziehung der Parlamentarier zu Westminster geführt wird. Die sogenannte “West Lothian Question” bezieht sich auch die Diskussion, ob es Parlamentsmitgliedern aus Schottland, Wales und Nordirland erlaubt sein sollte, in Westminster an Abstimmungen, die nur England betreffen, teilzunehmen oder nicht. Neu ist diese Debatte nicht, und doch wird sie ob des überwältigenden Erfolgs der SNP neu aufgerollt.
Was also bedeutet all das für den Föderalismus? Wenn den Forderungen nach einem rein “englischen” Parlament stattgegeben wird, wird das Vereinigte Königreich komplett in regionale Parlamente aufgegliedert, die dann für ihre jeweiligen Gebiete verantwortlich sind. Westminster würde weiterhin auf einem übergeordneten Niveau regieren, und zwar wenn es um Belange geht, die ganz GB betreffen. Wieder einmal würde also der Föderalismus als Allheilmittel erscheinen, diesmal als Antwort auf das Problem, das sich aus den Ergebnissen dieser Wahl ergibt: die schlechte Übersetzung von Wahlstimmen in Parlamentsplätze.
Die Wahl hat schließlich auch unter Beweis gestellt, dass die Bedeutung von regionalen Parteien in der britischen Politik immer wichtiger wird. Selbst in jüngster Zeit hat die britische Politik am traditionellen Zweiparteiensystem festgehalten. Diese zwei Parteien wurden aber weder von bestimmten geografischen Gegenden unterstützt, noch haben sie ihre Politik auf bestimmte Regionen abgestimmt. Dieses Mal sind sich die Wähler der Vorteile bewusst geworden, die sich aus der Wahl von Repräsentanten ergeben, die sich um lokale Belange und nicht nur um nationale Themen kümmern. Wenn dieser Trend weiter anhält, wird sich auch die Unterstützung für ein föderales System weiter ausbauen.
Ausblick
Alles in allem war die unerwartete konservative Mehrheit also nicht die einzige Überraschung, die aus dieser Wahl hervorging. Die Ergebnisse der Wahl haben wichtige Fragen aufgeworfen, was Dezentralisierung (und damit die Aussicht auf zukünftige Machttransfers von Westminster hin zu regionalen Parlamenten) angeht, ebenso haben die Ergebnisse eine Massenbewegung befeuert, die sich für ein Wahlsystem einsetzt, das ein föderales Modell begünstigen würde. Die gestiegene Popularität von regionalen Parteien ist ein vielversprechendes Zeichen dafür, dass sich Großbritannien in Richtung eines föderalistischen Staates entwickelt. Zusammengenommen werfen diese Faktoren die Frage auf, in welcher Form die kommenden Wahlen in fünf Jahren stattfinden werden.
Kommentare verfolgen: |