Das osmanische Erbe
Von Anatolien und der Region rund um das Marmarameer aus eroberten die Osmanen bis zum 17. Jahrhundert weite Teile Südosteuropas, des Nahen Ostens, Nordafrikas und des Südkaukasus. Dann aber begann der Niedergang, und das Osmanische Reich wurde zunehmend zum Objekt der Großmächtekonkurrenz: Für Großbritannien verliefen die kürzesten See- und Landverbindungen nach Indien durch osmanisch kontrollierte Gebiete. Russland versuchte, an Bosporus und Dardanellen einen ganzjährig eisfreien Zugang zu den Weltmeeren zu gewinnen. Hinzu kamen konkurrierende Interessen weiterer Großmächte wie Frankreich, Deutschland und Italien. Im Zuge des – auch von außen befeuerten – Schrumpfungsprozesses verlor das Haus Osman schließlich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 den Balkan fast zur Gänze, dazu Südkaukasien und Nordafrika.
Eine Karte der Türkei aus dem Jahre 1927
Zwischen den Weltkriegen: Eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West
Im Zuge des Ersten Weltkriegs brach der osmanische Staat schließlich zusammen. Die Westmächte nahmen ihm nicht nur die verbliebenen arabischen Gebiete im Nahen Osten, sondern wollten auch das anatolische Kernland unter sich aufteilen. Dies löste 1920 den Türkischen Unabhängigkeitskrieg unter Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, aus. Ihm gelang es, die Aufteilung Kleinasiens unter Briten, Franzosen, Italienern und Griechen zu verhindern. Um ein Gegengewicht gegen diese zu gewinnen, näherte sich Atatürks Staat der jungen Sowjetunion an. Zwischen ihr und den Westmächten stehend, konnte die Türkei eine sogenannte Schaukelpolitik führen und dadurch ihre Unabhängigkeit sichern. Die staatliche Souveränität wiederum erlaubte es den Kemalisten, wie die Anhänger Atatürks genannt wurden, die Modernisierung der Türkei voranzutreiben.
Die Anlehnung an den Westen im Kalten Krieg
Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges führte zur grundlegenden Revision der kemalistischen Außenpolitik. So war die Sowjetunion durch das Zurückdrängen Nazi-Deutschlands tief nach Südosteuropa vorgestoßen. Jetzt erhob Moskau Ansprüche auf einen freien Zugang in das östliche Mittelmeerbecken, also die Dardanellen und den Bosporus. Die Türkei sah dadurch aber ihre Unabhängigkeit bedroht und wandte sich hilfesuchend an die neue führende westliche Macht, die USA. Washington wollte die Sowjetunion seinerseits von den türkischen Meerengen fernhalten, um die durch das östliche Mittelmeer führenden Schifffahrts- und Kommunikationslinien zwischen Westeuropa und dem erdölreichen Nahen Osten einem sowjetischen Zugriff zu entziehen. 1952 wurde die Türkei schließlich in die nordatlantische Verteidigungsallianz, die NATO, aufgenommen.

Quelle: CC BY-NC-ND 2.0, North Atlantica Treaty Organization NATO, „North Atlantic Council visits Turkey“, 6. Mai 2019.
Die einseitige Orientierung am Westen wurde in den 1960er Jahren brüchig: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, eine Vorläuferin der EU, und die USA stellten sich im für die Türkei wichtigen Zypern-Konflikt auf die Seite Griechenlands. Folglich leitete Ankara eine vorsichtige Abkehr von den Westmächten ein und nahm wirtschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion und zur arabischen Welt auf. Eine militärische Zusammenarbeit mit Moskau blieb aber aus. Zur erneuten Annäherung an die USA kam es dann Ende der 1970er Jahre, als der Iran (seit Beginn der Dekade der pro-westliche Gendarm am Persischen Golf) infolge der Islamischen Revolution für Washington verloren ging. Des Weiteren war die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert und bedrohte nach Ansicht der Strategen in Washington die westlichen Handelslinien am Golf. So nahm die Türkei nun eine Rolle als unverzichtbarer westlicher Außenposten gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten ein.
Mehr Handlungsspielraum nach dem Ende der Sowjetunion
Anfang der 1990er Jahre brach die Sowjetunion zusammen. Damit entfiel der auf die Türkei lastende Druck aus dem Norden. Und noch vorteilhafter für Ankara: Der Kreml zog sich aus Südosteuropa, dem Südkaukasus und Zentralasien zurück. Damit konnte die Türkei ihrerseits wirtschaftlichen Einfluss und politische Macht in die genannten Regionen projizieren. Hinzu kam die arabische Welt, die seit Atatürks Tagen zu großen Teilen vernachlässigt worden war. Tatsächlich visierte der damalige türkische Ministerpräsident Turgut Özal eine türkische Führungsrolle im Balkan, im Südkaukasus, in Zentralasien und im Nahen Osten an. Die Türkei sollte dadurch in den internationalen Beziehungen zu einem unverzichtbaren Akteur aufsteigen. Nach Özals Tod 1993 wurde seine Strategie von den Nachfolgeregierungen teilweise weiterverfolgt. Priorität behielt aber die Westbindung samt dem erhofften EU-Beitritt.
Davutoglus „Strategische Tiefe“
Anfang der 2000er Jahre verfasste Ahmet Davutoglu, außenpolitischer Experte von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), seine Schrift Strategische Tiefe. Er nahm Turgut Özals Auffassung der türkischen Führungsrolle an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Nordafrika wieder auf: Die Türkei sollte den Balkan, den Nahen Osten, den Südkaukasus und Zentralasien wirtschaftlich zusammenführen. Als politische Anführerin dieses Verbundes, so die Theorie, würde die Türkei zu einer globalen Schlüsselmacht aufsteigen. Dies war nicht ohne Plausibilität, da die von der Türkei anvisierte Einflusssphäre auch Teile des Kaspischen Meeres und des Persischen Golfs miteinbezog. Diese beherbergen zusammen rund 70 % der weltweit bekannten Erdöl- und Erdgasvorräte.
Nach der Regierungsübernahme durch die AKP im Jahr 2002 und der faktischen Ablehnung des türkischen EU-Beitritts durch Brüssel wurde Davutoglus Vision zur Leitlinie der türkischen Außenpolitik. Nicht nur Anhänger der neuen Regierungspartei, sondern auch die Kemalisten sowie weite Teile der türkischen Öffentlichkeit begrüßten sie. Gleichzeitig setzte ab 2003 ein starkes Wirtschaftswachstum ein, das die Türkei zu einem neuen ökonomischen Machtzentrum machte. Die Verwirklichung der Strategischen Tiefe wurde dadurch begünstigt. Freilich musste sich erst noch zeigen, ob Erdogans Türkei die selbst gesteckten Ziele auch erreichen konnte.
Kommentare verfolgen:
|
