Pressefreiheit in der Europäischen Union

Vom Brexit zu Covid19 – Wie die Presse Großbritannien im Stich ließ

, von  Madelaine Pitt, übersetzt von Marlene Willimek

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Vom Brexit zu Covid19 – Wie die Presse Großbritannien im Stich ließ
Die Reaktion der Medien auf die Corona-Krise weist eine Vielzahl an Ähnlichkeiten mit der Berichterstattung über das britische Referendum zur Mitgliedschaft in der EU auf. Foto: Unsplash / Annie Spratt / Unsplash Lizenz

2004 gerieten zwei der bekanntesten britischen Zeitungen in die Schlagzeilen, als sie sich von einem berühmt-berüchtigten Zwillingspaar aufkaufen ließen, in dessen Besitz sich neben den Londoner Ritz Hotels auch die Île de Brecqhou im südwestlichen Ärmelkanal befinden. Ich zweifle nicht daran, dass Brecqhou ein fantastischer Ort ist, um Sonnenuntergänge zu beobachten, aber vor allem hat er andere Vorteile - vornehmlich steuerlicher Natur.

Der Telegraph und der Sunday Telegraph, die beiden durch das Milliardärs-Duo erworbenen Blätter, waren überschwängliche Befürworter des Brexits. Froh darüber, die Fremdenfeindlichkeit Nigel Farage’s durch ihre zahlreichen Kolumnen an die Öffentlichkeit bringen zu können, gehörten sie bald schon zur großen Gruppe der Berichterstatter, die zur Beunruhigung vieler gewöhnlicher Bürger angesichts des Einwanderungsthemas beitrugen.

Für die britischen Eliten geht es beim Brexit allerdings keinesfalls um Immigration.

Es geht um Steuern.

Und die britische Presse hat ihr Möglichstes getan, um uns dies vergessen zu lassen.

Das Paradoxon der Globalisierung

Von unzähligen Expert*innen und Politikwissenschaftler*innen wurde der Brexit oft als Gegenreaktion auf die Folgen der Globalisierung dargestellt. Sie verwiesen auf eine an den Rand gedrängte Wählerschaft, die sich vor allem durch die immer weiter ansteigende internationale Mobilität von Waren und Menschen wirtschaftlich und kulturell bedroht fühlt. Welchen undurchsichtigen Kräften gelang es also, den Ausstieg aus der Europäischen Union auf die Agenda zu setzen in einer Zeit, in der nur 11% der Brit*innen ihre Mitgliedschaft als drängendes Thema betrachteten? Wie konnte diese noch 2014 vorhandene verhältnismäßige Gleichgültigkeit in der bittersten Spaltung enden, die das moderne Großbritannien je gesehen hat?

Es zeigt sich eine gigantische Differenz zwischen den Bedenken der sogenannten „Zurückgelassenen“ und den Interessen derjenigen, die ihnen den Brexit als Lösung verkauft haben. In Wirklichkeit werden die Sorgen der Wähler*innen angesichts der Globalisierung von den Meinungsmachern des Brexits weder aufgenommen noch repräsentiert. Auch sind diese in keiner Weise daran interessiert, den Prozess abzuschwächen und zu verlangsamen. Eher streben sie nach dem genauen Gegenteil: eine beschleunigte und ungehinderte Globalisierung.

Großbritanniens Geschenk an Großunternehmer

Für die britische Elite der extremen Rechten und der Konzernchefs ist der Brexit letztlich nicht mehr als ein Sprungbrett zu einem Großbritannien, in dem sie sich ein für alle Mal von Arbeitnehmerrechten und Produktregelungen befreien können. Von der Europäischen Union eingeführt, um den Binnenhandel zu regulieren und um ein bestimmtes Lebensniveau und generelles Wohlergehen aufrechtzuerhalten, werden diese Gesetze von den Ultrarechten lediglich als Bremse ihrer Gewinne betrachtet.

Auch „Medienmogule“ gehören zu dieser Kategorie. Genauso wie die Zwillingsbrüder aus Brecqhou, ist auch der amerikanische Milliardär Rupert Murdoch, dessen Firma die Rechte am Boulevardblatt The Sun und der Zeitung The Times hält, ein anderes Paradebeispiel dafür. Mit geschmacklosen und nationalistisch geprägten Schlagzeilen, wie zum Beispiel „Independence Day“, setzte sich The Sun stark für den Brexit ein, während sich New Corp hinter den Kulissen dank einer einfallsreichen internationalen Buchführung durch etliche juristische Schlupflöcher bewegen konnte.

Diese Machtinhaber können nur von einer Partei profitieren, die hart gegenüber Zuwanderern und milde bei Steuern ist. Steinreiche Medieneliten haben somit alle Beweggründe, die Konservativen an der Macht zu halten, uns mit aufgeblähten Einwanderungsstatistiken abzulenken und Politiker*innen bei ihren katastrophalen Fehlentscheidungen zu decken. Auch wenn diese Fehler Tausenden das Leben kostet.

Ein roter Faden:

Die Reaktion der Medien auf die Corona-Krise weist eine erschreckende Ähnlichkeit mit der Berichterstattung über das britische Referendum zur Mitgliedschaft in der EU auf.

  Eine grenzenlose Bewunderung, fast schon Glorifizierung, der extrem-rechten, konservativen Politiker*innen. Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Dezember 2019 feierten die Zeitungen Boris Johnson als Retter des Brexits und Bewahrer Großbritanniens. Kurz vor Ostern behaupteten die Zeitungen, dass er seine Erkrankung infolge der Infektion mit dem Corona-Virus dank seines „Kämpfergeistes“ besiegen könne – als ob der Virus sich für seine Persönlichkeit interessieren würde. Ungeachtet der Tatsache, dass das Vereinigte Königreich an dem Tag, an dem Johnson das Krankenhaus verließ, seine höchste tägliche Todesrate zu verzeichnen hatte, bei der nahezu tausend Menschen ihr Leben ließen, plakatierte The Sun ein sonnenüberflutetes Bild von Johnson auf ihre Titelseite, untermalt mit den Worten: „That really is a Good Friday!“ („Das ist wirklich ein guter Freitag!“).

  Eine erschreckende Verschlechterung etablierter, seriöser Quellen. Die britischen Boulevardblätter drängten mit verzerrten und deformierten Geschichten zum Brexit. Aber noch alarmierender ist die Missachtung der grundlegendsten Prinzipien des Journalismus, einschließlich der Unterscheidung des objektiv Wahren und Falschen, welche inzwischen auch die Populärpresse infiziert hat.

Sowohl beim Coronavirus als auch beim Brexit versagte die BBC kläglich, die eigentlich als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt als Bastion des Qualitätsjournalismus gilt. Vordergründig eine ausgleichende Strategie verfolgend, legitimierte die BBC in letzter Zeit wiederholt extreme Sichtweisen, indem sie polarisierenden Personen eine öffentliche Plattform in Diskussionsrunden und Nachrichtenmagazinen gab. Wenn Nigel Farage eingeladen wird, um über die Pandemie zu diskutieren, ohne wissenschaftliche Kenntnisse zu diesem Thema zu haben oder auch nur ein einziges politisches Mandat innezuhaben und er deshalb eigentlich nicht als seriöser Sprecher auftreten kann, ist dies ein gewaltiges Problem. Ebenso beginnt The Telegraph, bisher als hochwertiges, eher rechtsorientiertes und unternehmerfreundliches Blatt verortet, zunehmend nationalistische Standpunkte einzunehmen.

  Die Bereitschaft, nicht nur über gravierende Fehler hinwegzusehen, sondern auch über gigantische Lügen und Kehrtwenden. Während der Kampagnen rund um das Referendum 2016, versagten die Massenmedien spektakulär. Sie prangerten weder die skandalösen Behauptungen der „Leave Campaign“ an, etwa bei dem Versprechen der 350 Millionen Pfund für das britische Gesundheitssystem (NHS), noch bezogen sie eindeutig Gegenposition bei zahlreichen untergründigen, stark rassistisch geprägten Äußerungen.

Ähnlich nichtssagend war auch die Schlagzeile der BBC angesichts der platten Rechtfertigung des Ministers Michael Gove, dass Großbritannien durch die fehlende Beteiligung an der europäischen Zusammenarbeit zur Persönlichen Schutzausrüstung (PSA) keinen Nachteil hätte. Aufgrund des chronischen Mangels an Schutzkleidung riskieren Ärzt*innen und Pflegepersonalpermanent ihr Leben in britischen Krankenhäusern und Pflegeheimen. In bislang mindestens 300 Fällen verloren sie es durch eigene Infizierung. Obwohl Leben auf dem Spiel standen und die Knappheit der Schutzkleidung durch die Teilnahme am europäischen Kaufmaßmechanismus hätte vermieden werden können, schaffte es die BBC nicht, öffentlich die politischen Machenschaften anzuprangern, die offensichtlich hinter dem britischen Ausstieg standen.Davon abgesehen zeigte die BBC bei manchen Gelegenheiten tatsächlich investigativen Geist, z.B. als sie die kreative Rechnungsschreibung der Regierung enthüllte-, die Artikel wie Papierhandtücher in ihre PSA-Bilanzen miteinschloss.

Fast schon Kreml würdig sind hingegen die Warnungen an das medizinische Personal, ihre sozialen Netzwerke zu überwachen,, die sich trauen, Missstände laut zu äußern.

  Die Verachtung der Presse. Dass sich Boris Johnson vor einer Wahl im Kühlschrank versteckte, mag zur Belustigung beitragen, aber sein Versuch, Reporter*innen bestimmter Zeitungen aus der Downing Street zu verbannen oder aus Pressekonferenzen zum Coronavirus durch die Ablehnung von Nachfragen eine reine Scheinveranstaltung zu machen – das ist wesentlich ernster.

Von der Voreingenommenheit zum Scheitern

Natürlich, in Großbritannien ist die Pressefreiheit nicht so offensichtlich und direkt bedroht wie in vielen anderen Teilen der Welt. Und dennoch wird die etablierte Medienlandschaft stark dominiert von den privaten Interessen eines kleinen Kerns von Milliardären, denen es ein großes Anliegen ist, neoliberale Politiker*innen zu unterstützen, die nicht allzu viel Eifer zeigen, private Finanzströme zu kontrollieren.

Gleichzeitig werden jene, die die britische Vision eines deregulierten, halben Steuerparadieses ablehnen, unverhältnismäßig scharf kritisiert. Der ehemalige Chef der Labour Partei, Jeremy Corbyn, hatte versucht, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, in der auch die Reichen ihre Steuern bezahlen. Trotz der berechtigten Kritik an seiner dürftigen Führung, zeigen die ungeheuerlichen Attacken der Medien ihm gegenüber, welch große Bedrohung er für diejenigen darstellte, die am meisten vom aktuellen System profitieren. Großbritannien ist mittlerweile das Land mit den meisten Corona-Toten in Europa. Aber anstatt über diese Tragik zu schreiben oder die desaströs langsamen Lockdownentscheidungen der Regierung zu kritisieren sowie ihr Scheitern, die eigenen mageren Testvorgaben zu erreichen, anzuprangern, berichteten die britischen Zeitungen lieber über Sexskandale und spekulierten über eine baldige Aufhebung des Lockdowns. Stellt euch vor, wie kritisch hingegen die Titelseiten ausgesehen hätten, wenn eine Labour-Regierung im Amt gewesen wäre.

Es mag Ausnahmen geben, wie zum Beispiel The Guardian, die Financial Times oder kleinere unabhängige Organe, aber insgesamt haben sowohl der Brexit als auch die Covid19-Pandemie gezeigt, dass der britische Journalismus in einer ernsten Notlage steckt. Die britische Presse ist somit im Grunde genommen ein perfekter Spiegel britischer Politik, in Geiselhaft genommen durch eine kleine Gruppe mächtiger Akteure, mit zunehmend extrem rechter Ausrichtung und bereit, die harte Realität zu verzerren.

Der Brexit hat zahlreiche Existenzen zerstört, Covid-19 viele Menschenleben. In den beiden Fällen hat die britische Presse Großbritannien im Stich gelassen. Was die nächste Krise auch bereithalten wird, ich bin sicher, dass die britische Presse darauf nicht angemessen reagieren wird.

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