Verhofstadt: „Kommission sollte kleine, aber effektive europäische Regierung sein“

Der Vorsitzende der ALDE-Fraktion im Gespräch mit treffpunkteuropa.de

, von  Ivo Bantel

Verhofstadt: „Kommission sollte kleine, aber effektive europäische Regierung sein“
Guy Verhofstadt ist Brexit-Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments © Guy Verhofstadt / Facebook/ CC BY 2.0-Lizenz

Guy Verhofstadt ist der Fraktionsvorsitzende der liberalen ALDE-Fraktion im Europaparlament. Von 1998 bis 2008 war er Ministerpräsident Belgiens. Vor einigen Tagen wurde durch das Europäische Parlament zum Brexit-Verhandlungsführer ernannt. Heute äußert er sich im Interview mit treffpunkteuropa.de zu den drängenden Fragen in Europa.

Herr Verhofstadt, es ist heute nicht leicht, eine enthusiastische Europäerin zu sein. Was macht Sie persönlich optimistisch für die Zukunft Europas?

Die Krisen unserer Zeit können nicht von einem Staat alleine gelöst werden; Nationalismus kann nicht die Antwort sein. Die Wirtschaftskrise, die Flüchtlingskrise, der Kampf gegen den Terrorismus – all diese Aufgaben können nur auf europäischer Ebene angegangen werden. Und wenn wir es schaffen, diese Probleme anzugehen und zu lösen, dann würde dies das Vertrauen in das europäische Projekt fördern. Die Menschen sind nicht gegen Europa – sie sind gegen diese Form der Europäischen Union.

Nach dem Putsch wurden wir Zeugen von sehr besorgniserregenden Entwicklungen in der Türkei in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Demokratie. Gleichzeitig machte sich die EU abhängig von der Türkei, da sie unfähig war, eine angemessene Antwort auf die Flüchtlingsfrage zu finden und eine gemeinsame Asylpolitik zu beschließen. Wie sollte die EU mit der Situation umgehen? Welche Schritte brauchen wir in Bezug auf die Flüchtlingspolitik und die EU-Türkei-Beziehungen?

Wir sehen gerade in der Türkei einen weiteren Angriff der AKP auf die Pressefreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz und auf die Rechtsstaatlichkeit. Erdogans Reaktion auf den Putsch hat das Land weiter in die falsche Richtung getrieben. Die Türkei muss sich zurückbewegen auf den richtigen Pfad. Sie kann nicht unsere Partnerin in der Flüchtlings- und Migrationspolitik sein, solange die Regierung Gesetze missbraucht, um Menschen- und Bürgerrechte mit Füßen zu treten. Die EU kann ihre Asylpolitik nicht einem solch autoritären Regime anvertrauen. Statt Erdogan die Schlüssel zu den Türen Europas zu geben, sollten wir eine wirklich europäische Lösung suchen, mit einer europäischen Grenz- und Küstenwache, um unsere Außengrenzen zu schützen und zwischen wirklichen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten zu unterscheiden. Wir brauchen eine gemeinsame Asylpolitik in Europa mit einem Regelwerk für die gesamte Union.

Eines der Hauptprobleme, zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage, ist fehlende europäische Solidarität. Der Brexit hat zu den Zweifeln am europäischen Geist beigetragen (obwohl wir nach dem Referendum steigende Zustimmung für die EU verzeichneten). Wie können wir das Vertrauen in das europäische Projekt zurückgewinnen, um unberechtigte Kritik zu bekämpfen? Und welche Reformen braucht die EU, um der berechtigten Kritik Rechnung zu tragen?

Wir brauchen eine radikale Reform, damit die EU wieder funktioniert – wie eine europäische Grenz- und Küstenwache und eine europäische Asyl- und Migrationspolitik, um die Migrationskrise zu lösen, einen europäischen Ansatz in der Geheimdienstarbeit zur Terrorismusbekämpfung, eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zum Schutz der Grenzen… Wenn wir die uns umgebenden Krisen lösen, wir das Vertrauen wiederherstellen. Gleichzeitig müssen wir die EU auch effizienter und weniger bürokratisch machen: Zum Beispiel sollte die Kommission eine kleine, aber effektive europäische Regierung sein. Wir brauchen keine 28 verschiedenen Minister; wir könnten viel effizienter sein und uns auf die großen Themen konzentrieren, in denen die europäische Integration einen Mehrwert hat. Und wir brauchen einen gemeinsamen Sitz für alle unsere Institutionen. Wir sollten mit weniger mehr erreichen.

Ein weiteres akutes Problem, das wir momentan haben, sind Attacken auf das demokratische, offene und tolerante Leben in Europa. Terrorattacken zielen auf die Zerstörung der diversen, toleranten und offenen Gesellschaften ab, die wir in Europa anstreben. Gleichzeitig werden Rechtspopulismus und Rechtsextremismus seit Längerem auf beängstigende Weise stärker und Fremdenfeindlichkeit sowie besonders Islamfeindlichkeit nehmen zu, womit die Idee der Konfrontation und des ‚Kampfes der Kulturen‘ bedient wird. Wie können wir an liberalen europäischen Gesellschaften arbeiten – gegen die Angriffe durch Terrorismus und von fremdenfeindlichen und rechten Bewegungen?

Obwohl die extreme Rechte ihr Bestes gibt, Menschen gegeneinander aufzubringen, haben wir glücklicherweise das Gegenteil erlebt: die Angriffe in Brüssel haben Menschen mit verschiedensten religiösen und kulturellen Hintergründen zusammengebracht. Wir haben Trauermärsche für Frieden und Gedenkveranstaltungen überall in der Stadt erlebt. Die Botschaft war immer die gleiche: Dieser brutale Terrorismus wird niemals erfolgreich darin sein, unsere offene und tolerante Gesellschaft zu spalten.

Die Antwort auf die Angst vor Terrorismus und Massenmigration sollten klare, europäische Lösungen für die gegenwärtigen Probleme sein. Wir müssen Europol die Mittel und die Berechtigung geben, gegen transnationale Verbrechen wie Terrorismus vorzugehen. Die extreme Rechte ist gut darin, das Problem aufzuzeigen, aber sie bieten kaum Lösungen an. Es ist schlichtweg unmöglich, dass wir uns von unseren europäischen Partnerländern abschotten. Wir müssen zusammenarbeiten, um standhafter zu sein und Europäische Kapazitäten aufbauen, um die Probleme zu lösen, anstatt uns abzuschotten und zu hoffen, dass die Probleme verschwinden.

Eine andere langfristige Herausforderung ist der Klimawandel. Der in Paris erreichte Vertrag wird von manchen als historische Errungenschaft bezeichnet; andere meinen, er könne die Erderwärmung nicht auf 2°C beschränken. Wie bewerten Sie die Ergebnisse der Konferenz in Paris und welche Rolle sollte die EU im Kampf gegen den Klimawandel spielen?

Dies ist ein historisches Abkommen, das wir umfassend begrüßt haben. Unser Fokus muss jetzt auf der Umsetzung liegen; die Uhr tickt, wenn wir die Erderwärmung auf unter 2°C begrenzen wollen. Dieses Klimaabkommen sendet ein klares Signal, dass die Welt einen unumkehrbaren Schritt in Richtung einer kohlenstoffarmen Wirtschaft gegangen ist. Individuen, Regierungen und Unternehmen müssen jetzt damit beginnen, das Abkommen umzusetzen.

Herr Verhofstadt, die EU wird mitunter als normative Macht bezeichnet. Artikel 3.5 des EUV besagt: “In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und […] leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, […] zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte […] sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts“. Erfüllt die EU diese Erwartung – oder was müsste sich dafür ändern?

Wir sind sehr weit davon entfernt, diese Erwartung zu erfüllen. Wir schaffen es nicht einmal, diese Werte innerhalb der EU hochzuhalten. Wir müssen uns nur einmal anschauen, was derzeit in Polen und Ungarn passiert. Wenn die EU in der Lage sein will, diese „weichen“ Werte zu verteidigen, muss sie das tun, indem sie „hard power“ aufbaut: eine gemeinsame Außenpolitik, ein gemeinsames Verteidigungssystem und eine Kommission, die in der Lage und willens ist, Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Es ist Zeit, in Europa eine Wahl zu treffen: entweder beginnen wir, unsere Versprechen zu erfüllen oder wir sollten aufhören, diese zu geben. Denn jetzt gerade sind das nicht mehr als Worte.

https://www.youtube.com/watch?v=iqQtDABFfao

Wir haben eine letzte Frage, um unseren Leser*innen eine konkrete Idee für mögliche Verbesserungen als auch einen positiven Ausblick zu geben. Sie arbeiten gerade an einem Bericht zur „möglichen Entwicklungen und Anpassungen des gegenwärtigen institutionellen Aufbaus der Europäischen Union” und sie der perfekte Ansprechpartner: was sollte in der EU (oder an ihrem institutionellen Aufbau) verändert werden, um die EU weiterzuentwickeln und sie für die Zukunft vorzubereiten – was ist Ihre Vision für die EU? Und was ist gerade Europas größtes Hindernis und wie können wir es überwinden?

Die EU erscheint oft wie ein bürokratischer Gigant – Europa ist Experte darin geworden, Gesetze bezüglich der exakten Abmessungen und Farben von Zigarettenpackungen oder die Menge an Wasser pro Toilettenspülung zu verabschieden. Die Kritiker haben recht, wenn sie sagen, dass die Europäische Union nicht funktioniert, wenn es um die großen Dinge geht: Wirtschaftliche und geldpolitische Zusammenarbeit wird immer schwieriger, deswegen haben wir die niedrigsten Wachstumsraten von allen Kontinenten. Bezüglich europäischer Außenpolitik können wir nicht einmal die Faust ballen, deswegen haben wir kaum oder keinen Einfluss auf die Feuer, die um uns herum brennen. Und das Referendum im Vereinigten Königreich hat wieder gezeigt, dass die EU sich reformieren muss, um die Unterstützung der europäischen Bürger aufrechtzuerhalten.

Damit es wieder funktioniert, müssen wir das institutionelle Chaos beseitigen, das nach Jahrzehnten der Kompromisse entstanden ist und zu einem „Europa à la carte“ geführt hat, das auf Opt-ins und Opt-outs [der Möglichkeit, bestimmte Regelungen anzuwenden oder nicht anzuwenden, d. Red.] und Abweichungen besteht. Wir brauchen zwei Arten der Kooperation: volle Mitgliedschaft, um denjenigen die weitere Integration zu erlauben, die dies wollen und eine sekundäre Form der assoziierten Mitgliedschaft oder „Spezialstatus“, der Mitgliedschaft im Kern auf Zugang zum Binnenmarkt beschränkt.

Um die Europäische Kommission effektiver und weniger bürokratisch zu machen, sollten wir sie zu einer effizienten Regierung mit 12 bis maximal 15 europäischen Ministern machen. Diese europäische Regierung sollte von einem Zweikammersystem kontrolliert werden: dem Europäischen Parlament und einem Europäischen Rat, in welchem die Länder vertreten sind. Diese europäische Regierung sollte sich auf die großen Themenfelder konzentrieren, in denen die europäische Integration einen realen Vorteil bringt und Regelungen von Detailfragen den Mitgliedsstaaten überlassen.

Der neue institutionelle Aufbau sollte die Union effektiver in den Themenbereichen machen, in denen die europäischen Bürger einen Mehrwehrt durch die europäische Integration sehen, wie Außenpolitik, europäische Verteidigung, die Terrorismusbekämpfung und die europäische Wirtschaft. Das letzte Jahrzehnt hat gezeigt, dass in Europa Stillstand herrscht. Wir müssen vorankommen.

Herr Verhofstadt, vielen Dank für das Interview, es war ein Vergnügen.

Das Interview führte Ivo Bantel für treffpunkteuropa.de.

Ihr Kommentar
  • Am 16. September 2016 um 07:39, von  mister-ede Als Antwort Verhofstadt: „Kommission sollte kleine, aber effektive europäische Regierung sein“

    You want to save the EU? So why do you ask Verhofstadt? For years he is in different positions responsible for the EU and its collapse. In Belgium, the prime minister he was, we see unsafe nuclear power plants, terroristic attacks and excessive indebtedness. I just wouldn’t ask Schettino how to handle a cruise ship.

    Ihr wollt die EU retten? Warum fragt ihr Verhofstadt? Seit Jahren ist er in verschiedenen Positionen für die EU und ihren Kollaps verantwortlich. In Belgien, dessen Premier er war, gibt es kaputte Atomkraftwerke, Terrorattacken und Überschuldung. Ich würde auch nicht Schettino fragen, wie man ein Kreuzfahrtschiff lenkt.

  • Am 19. September 2016 um 17:02, von  Uwe Berger Als Antwort Verhofstadt: „Kommission sollte kleine, aber effektive europäische Regierung sein“

    Herr Verhofstadt ist einer der wenigen, die als Abgeordnete des EU-Parlaments das tun, was ein Parlament zu tun hat, nämlich den Finger in die offenen Wunden der Exekutive zu legen. Dafür wurde er gewählt und ich freue mich über sein Engagement und seine Stellungnahme in unsicheren Zeiten.

  • Am 19. September 2016 um 23:50, von  mister-ede Als Antwort Verhofstadt: „Kommission sollte kleine, aber effektive europäische Regierung sein“

    @Uwe Berger,

    „Herr Verhofstadt ist einer der wenigen, die als Abgeordnete des EU-Parlaments das tun, was ein Parlament zu tun hat, nämlich den Finger in die offenen Wunden der Exekutive zu legen“

    Nun ja, ich hoffe unser Bundestag und die Abgeordneten dort machen Gesetze und gestalten die Politik und legen nicht nur in populistischen Reden die Finger in die Wunde.

    Im Übrigen: Bei einem Schwerkranken wie der EU braucht es keine Leute, die auch noch die Finger in die offenen Wunden legen, sondern die mit Sachverstand und der richtigen Medizin eine Therapie beginnen. Und diese Medizin muss mehr Demokratie heißen. Verhofstadts Giftzeug der neoliberalen Ideologie sollten wir hingegen im Schrank lassen.

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