European HerStory: Weibliche historische Figuren im Portrait

Ursula Hirschmann: eine Frau für die Vereinigten Staaten von Europa

, von  Giulio Saputo, übersetzt von Clara Föller

Alle Fassungen dieses Artikels: [Deutsch] [italiano]

Ursula Hirschmann: eine Frau für die Vereinigten Staaten von Europa
Zusammen mit anderen Gefangenen, beteiligte Ursula Hirschmann sich an der Diskussion über das „Manifest für ein freies und geeintes Europa“. Graphik zur Verfügung gestellt von Giulia Del Vecchio. Bearbeitung von Anja Meunier für treffpunkteuropa.de

Anlässlich des Internationalen Weltfrauentags am 8. März porträtieren wir in unserer European HerStory Reihe weibliche Akteurinnen und Persönlichkeiten, die für das heutige Europa von herausragender Bedeutung waren. Heute: Ursula Hirschmann.

Heute möchten wir uns an eine der bedeutendsten Frauen der europäischen Geschichte und an eine überzeugte Verfechterin des europäischen Föderalismus erinnern: Ursula Hirschmann. Eine Frau, die lebende Zeugin der europäischen Widerstandsbewegung war, die immer für die Rechte der Schwächsten gekämpft, und die sich unermüdlich für die Verwirklichung der Vision von Ventotene [Anm. d. Red.: eine Schrift von drei italienischen Antifaschisten aus unterschiedlichen politischen Lagern, in der ein Ideal des europäischen Föderalismus entworfen wurde] eingesetzt hat. Eine Vision, die sie unter Einsatz ihres Lebens während der faschistischen Diktatur in Italien und Europa verbreitete und verteidigte und durch die sie letztendlich auch versuchte, Frauen im Kampf für gemeinsame individuelle wie kollektive Ziele zu vereinen und so letztlich deren Emanzipation voranzutreiben.

Auszug aus „Wir Heimatlosen“

„Ich bin keine Italienerin, auch wenn ich italienische Kinder habe, ich bin keine Deutsche, auch wenn Deutschland einst meine Heimat gewesen ist. Ich bin nicht einmal Jüdin, auch wenn es reiner Zufall war, dass ich nicht gefangen genommen und in einem dieser Öfen in einem der Vernichtungslager verbrannt wurde. Wir „déraciné”, die “Entwurzelten” Europas, die wir öfter die Grenze als unserer Schuhe wechselten, wie Brecht schreibt, dieses Königreich der Entwurzelten, auch wir haben nichts anderes mehr zu verlieren, als unserer Ketten in einem Vereinigten Europa, deswegen sind wir Föderalisten.“

Die Anfänge ihres antifaschistischen Engagements

Ursula Hirschmann wurde am 2. September 1913 in Berlin in eine bürgerliche jüdische Familie geboren. Sie besuchte mit ihrem jüngeren Bruder Albert Otto (der später ein Kandidat für den Nobelpreis war) die Universität Berlin, wo sie Wirtschaftswissenschaften studierte. In dieser Zeit traf sie auch zum ersten Mal auf Eugenio Colorni – den Mitverfasser des Manifests von Ventotene und ihren späteren Ehemann. Sie war Mitglied der sozialdemokratischen Partei, jedoch auch der Meinung, dass diese nicht entschieden genug der wachsenden nationalsozialistischen Ideologie entgegen trat, weshalb sie zusammen mit anderen Jungsozialist*innen und Kommunist*innen in diesen Jahren eine Reihe geheimer antifaschistischer Aktionen organisierte und durchführte.

Nachdem sie Deutschland verlassen und bei ihrem Bruder in Paris Zuflucht gefunden hatte, begann sie schließlich vermehrt Kreise des europäischen Antifaschismus zu frequentieren und sich auch kommunistischen Gruppen anzunähern. Dennoch entschied sie sich, nicht der kommunistischen Partei beizutreten und zugunsten der Politik der „Einheitsfront“ bei der sozialistischen Partei zu bleiben. Angesichts sich mehrender Angriffe auf Bekannte aus ihrem Umfeld, die von den Verfechter*innen der sowjetischen Doktrin des „Abweichlertums“ bezichtigt wurden, distanzierte sie sich immer weiter von ihren ehemaligen Mitstreiter*innen.

Als sie erneut auf Colorni traf, wandte sie sich schließlich endgültig vom Kommunismus ab und beschloss nach Triest zu gehen, wo sie ihn 1935 heiratete. Nachdem sie ihr Sprachstudium an der Universität Venedig abgeschlossen hatte, widmete sie sich gemeinsam mit ihrem Mann erneut dem antifaschistischen Widerstand. Als Colorni 1938 verhaftet und nach Ventotene befohlen wurde, beschloss sie, ihm dorthin zu folgen.

Der Kampf für ein föderales Europa

Zusammen mit den anderen Gefangenen, beteiligte sie sich an der Diskussion über das „Manifest für ein freies und geeintes Europa“ und plante gemeinsam mit Ada Rossi und den Schwestern von Altiero Spinelli dessen Verbreitung auf dem europäischen Kontinent. Später zog sie mit Colorni, der aus der Haft geflohen war, um sich dem römischen Widerstand anzuschließen, nach Melfi.

Als die Ehe von Hirschmann und Colorni jedoch kurz darauf in die Brüche ging, beschloss sie mit ihren Töchtern nach Mailand zu gehen, um hier die Aktivitäten des Widerstands und die Verbreitung der föderalistischen Vision fortzusetzen: fortan arbeitete sie mit Guglielmo Usellini, Cerilo, Fiorella und Gigliola Spinelli an der Herausgabe der Untergrundzeitschrift „L’Unità Europea“. Nach der Gründung des Movimento Federalista Europeo (MFE) emigriert sie mit Spinelli und Rossi in die Schweiz. Der europäische Widerstand verdankt viel der Koordinationsarbeit Hirschmanns aus Genf, die mit ihrer Unterstützung der Organisation für eine ersten Konferenz zu den Vereinigten Staaten von Europa im gerade befreiten Paris ihren Höhepunkt fand (auch Orwell, Camus, Mumford und viele andere waren hier anwesend).

Zwischen Föderalismus und Feminismus

Wenig später heiratete sie Altiero Spinelli und beschließt sich ihm in seinem lebenslangen Kampf für die Überzeugung, dass sich die Demokratie nur entwickeln könne, wenn sie auf einer historisch neuen Ebene ruhte: der der föderierten Völker (Brief an Rossi, 4. Januar 1948), anzuschließen. In der Tat sollte Ursula auch weiterhin in der Organisation föderalistischer Aktivitäten eine führende Rolle spielen, und so erfüllt sie sich schließlich ihren Traum und gründet 1975 die Femmes pour l’Europe in Brüssel. Diese Vereinigung wollte die vorderste Front der europäischen Frauen, die sich in Politik und Kultur engagieren, zusammenbringen und sich auf konkrete Themen konzentrieren, die von der Förderung des Zugangs zur Ausbildung und der Verteidigung der Lohngleichheit bis hin zum Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Immigrantinnen und Frauen in Entwicklungsländern reichten.

Hirschmann strebte stets nach einer Überwindung des gegenseitigen Misstrauens zwischen politisch engagierten Frauen und Feministinnen. Ihrer Ansicht nach war es von entscheidender Bedeutung, alle Anstrengungen darauf zu lenken, gleichberechtigt an politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entscheidungen teilzuhaben, um gemeinsame Ziele zu erreichen:

Um dorthin zu gelangen, müssen sie ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu ihrem Kampf überwinden. Um ihrer selbst willen, müssen [...] die Frauen nämlich damit beginnen, sich von ihren individuellen Fesseln zu befreien [...] und sich ‚in der Folge‘ mit der Politik beschäftigen [...]. Stattdessen müssen Frauen an allen Fronten kämpfen [...]. Der Kampf um die politische Einigung Europas kann eine wichtige und beispielhafte Bühne für Frauen sein [...]. Die Frauen werden anfangen müssen, Europa als eine Stadt zu sehen, die im Entstehen begriffen ist und die in der Lage ist, den Stempel, den ein jede ihr aufdrückt, anzunehmen.

Kurz nachdem sie diese Zeilen schrieb, erkrankte Ursula und konnte nicht länger selbst den Weg ihres Engagements fortsetzen, das heute angesichts der vielschichtigen Kämpfe, die unsere heutige Zivilgesellschaft ausfechtet wohl aktueller denn je ist.

Silvana Boccanfuso, eine Autorin, sagte über sie: „Ursula ist die kraftvolle Figur einer politischen Kämpferin, die gleichzeitig auch daran arbeitet, ein komplexes Familienleben zu organisieren (...). Ihre Frische, ihre Entschlossenheit, ihre Hingabe aber waren immer die der jungen Berlinerin, die im Juli 1933 beschloss, dass Europa ihre Heimat sei, und von Europa ernährte sie sich fortan“.

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