Ungarn und die Achillesferse der Union

, von  Guillermo Íñiguez, übersetzt von Simone Bresser

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Ungarn und die Achillesferse der Union
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat sich angesichts der Coronakrise mit weitreichenden Sondervollmachten ausstatten lassen. Foto: Flickr / Europeans People’s Party / CC BY 2.0

Seit Jahren führen die Regierungen Polens und Ungarns - und in geringerem Maße auch Rumäniens - einen Kreuzzug gegen die liberale Demokratie und die europäischen Institutionen. Covid-19 war der von Premierminister Viktor Orbán sehnlichst erwartete „Reichstagsbrand“, der es ihm ermöglichte, sein ganz eigenes „Ermächtigungsgesetz“ zu verabschieden und damit einer bereits geschwächten ungarischen Demokratie einen vernichtenden Schlag zu versetzen.

Orbáns Notstandgesetze

Unter dem Deckmantel der Bekämpfung des Coronavirus gewährt Orbáns Notstandsgesetz der Regierung außerordentliche Befugnisse. Bis zum Ende des „Notstands“ (ein unbestimmtes Datum) erlaubt es der Regierung, per Dekret auf Kosten jedes bestehenden Gesetzes (einschließlich der Verfassung) zu regieren, das Parlament aufzulösen, und jegliche Kommunalwahlen und Referenden zu verbieten. Nicht weniger wichtig ist die Änderung des Strafgesetzbuches, um die Pressefreiheit weiter einzuschränken: Die Verbreitung von „Fake News“ (ein weiterer nicht näher definierter Begriff) wird mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft, und für die „Behinderung“ von „Maßnahmen“ zur Bekämpfung des Coronavirus sind drei Jahre Gefängnisstrafe vorgesehen.

Das Notstandsgesetz tritt in einem Kontext in Kraft, in dem die Leistungsfähigkeit einer gerichtlichen, gesetzgeberischen, akademischen oder medialen Überprüfung fast unmöglich gemacht wurde: Das Parlament und die Gerichte haben infolge des Coronavirus geschlossen und die Presse ist seit Jahren aggressiven, von der Regierung geführten Angriffen ausgesetzt. Während Orbáns Anhänger*innen, darunter der regierungsfreundliche Jurist Miklós Szánthó, die Versuche der „globalistischen“ und „staatsfeindlichen“ Opposition, eine noch größere Panik zu erzeugen, um die Regierung zu stürzen, anprangern, schreibt Kim Lane Scheppelle Orbán habe die ungarische Demokratie „ausgesetzt“.

Eine machtlose EU?

Orbáns Notstandsgesetz greift nicht nur die Werte an, auf die sich die EU nach Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) gründet – Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder die Rechte (politischer) Minderheiten. Es zeigt auch einmal mehr die Grenzen einer Union auf, die, von nicht enden wollenden Krisen überwältigt, nicht über die Kompetenzen verfügt, die Einhaltung ihrer eigenen Verträge zu gewährleisten.

Artikel 7 des Vertrags von Maastricht, das Instrument, das es ermöglicht, einen Mitgliedstaat bei Verstößen gegen die Grundwerte der Union zu sanktionieren, hat sich wiederholt als ineffizient erwiesen: Sein Einstimmigkeitserfordernis hat es einem klaren Bündnis zwischen der national-katholischen polnischen Regierung und ihrem „illiberalen“ ungarischen Gegenstück ermöglicht, es von jeglicher Rechtskraft zu befreien. Die Bemühungen der Kommission sind dagegen auf heftige Vergeltungsmaßnahmen gestoßen: Frans Timmermans, der den Kampf der Juncker-Kommission gegen die polnische Justizreform leitete, verlor 2019 die Kommissionspräsidentschaft - und zwar genau durch die Vetos von Polen und Ungarn.

Die Fälle Polen und Ungarn verdeutlichen das Paradoxon im Herzen der EU: Zwei Regierungen, welche die Kopenhagener Kriterien – die Beitrittsbedingungen der EU – nicht erfüllen würden, hindern die Union daran, ihre Werte aufrechtzuerhalten. Insgesamt 50 Millionen EU-Bürger*innen (10 Millionen in Ungarn und 38 Millionen in Polen) bleiben dadurch ungeschützt, wie das Europäische Parlament wiederholt anprangerte.

Joseph Goebbels, Hitlers Propagandaminister, schrieb 1928, dass seine Partei, „eine antiparlamentarische Partei, [die] aus guten Gründen die Weimarer Verfassung und die von ihr eingeführten republikanischen Institutionen ab[lehne], dennoch versuche, in den Reichstag einzutreten, ‚um [sich] mit [] Waffen [der Demokratie] zu versorgen.“ „Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben“, fügte er hinzu, „so ist das ihre eigene Sache.“ Viktor Orbáns Notstandsgesetz ist ein unerträglicher Affront gegen das europäische Projekt als Ganzes – ein Affront, der Ursula von der Leyen, die bisher versucht hat, eine direkte Auseinandersetzung mit Warschau oder Budapest zu vermeiden, zwingt, endgültig ihre Karten offenzulegen.

Werte sichern

Die Achillesferse der Union ist wieder einmal sichtbar geworden. Wie das Verfahren nach Artikel 7 zeigt, ist es weitgehend das Ergebnis der Rigidität der Verträge, die ihrerseits das Ergebnis einer historischen Skepsis gegenüber dem Supranationalismus ist, dessen berühmtester Vertreter Charles de Gaulle ist. Doch diese Grenzen müssen überwunden werden. Ungeachtet der Zurückhaltung einiger Mitgliedstaaten muss die Konferenz zur Zukunft Europas dafür sorgen, dass sich die Union an einen zunehmend isolationistischen geopolitischen Kontext anpasst – auch innerhalb des Europäischen Rates selbst.

Die Einführung flexibler Entscheidungsprozesse und die Verringerung der Vetofähigkeit einzelner Mitgliedstaaten werden die Union nicht schwächen, wie bereits argumentiert wurde. Stattdessen wird sie sicherstellen, dass ihre Arbeitsweise am effektivsten ist, indem ihre Werte aufrechterhalten und die wiederholten Grundrechtsverletzungen von Viktor Orbán oder Jarosław Kaczyński bestraft werden. Schließlich muss die Rechtsstaatlichkeit nicht nur geschützt werden: Sie muss als gesichert angesehen werden.

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