Gleich fünfmal verwendet Scholz den Begriff in seiner Erklärung vom 27. Februar 2022. Die Frage nach der Zeitenwende wird auch bei dem Online-Bürgerdialog “Krieg in der Ukraine: Zeitenwende für die EU?” der Europa-Union Deutschland am 12. Juli 2022 gestellt und mit *- David McAllister, MdEP und Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, *- Ljudmyla Melnyk, Senior Projektleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik; *- Prof. Dr. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, ehemalige Inhaberin der Professur für Politikwissenschaft an der Universität Würzburg, diskutiert.
Gibt es eine Zeitenwende in Europa?
So selbstverständlich wie der Begriff der Zeitenwende in den letzten Monaten verwendet wird, so spannender ist es, wenn sich Zeit und Raum genommen wird, um diese historische Einschätzung zu diskutieren.
“Zeitenwende: das Ende einer Epoche oder Ära und der Beginn einer neuen Zeit” (Duden)
Beim Online-Bürgerdialog wurden auch die Zuschauer*innen per Abstimmungstool um ihre Meinung gebeten. 90% sagten an dem Abend ganz klar: Ja, der russische Angriffskrieg in der Ukraine stellt für die EU eine Zeitenwende dar. Eine Meinung, die auch die drei Redner*innen teilen, aus unterschiedlichen Gründen. Bei Ljudmyla Melnyk löste die Zustimmung zum Begriff Erleichterung aus, da er für sie für eine Unterstützung aus der Gesellschaft stehe. Auch wenn sie wiederum einwirft, dass dies in einem Jahr auch wieder ganz anders aussehen könnte. In einem Jahr könne viel passieren, vor allem weil Russland aktuell vieles dafür tun würde, gegen einen gesellschaftlichen Zusammenhalt in der EU zu arbeiten. Eine Zeitenwende kommt eben mit großen Herausforderungen und Umstellungen, weswegen Gisela Müller-Brandeck-Bocquet auch unbedingt von einer Wende sprechen würde: Immerhin habe der Kriege “immense Auswirkungen auf sehr viele Politikfelder der EU (...): Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Klimapolitik, Erweiterungspolitik.”
Auswirkungen auf Sicherheits- und Außenpolitik
In diesem Punkt stimmt vor allem David McAllister zu, er spricht hier von “fundamentale(n) Veränderungen”, allein, wenn man sich die Entwicklung der NATO ansehe. Seit dem Krieg laufen Beitrittsgespräche mit Finnland und Schweden, welches in den vergangenen Jahren eher negative Schlagzeilen gemacht hatte. Sei es durch die Drohung eines möglichen US-Austritts durch den damaligen Präsidenten Trump oder in einer Rede des französischen Premierministers Macron, der das Bündnis als “hirntot” bezeichnete. Nun habe die NATO wieder enorm an Bedeutung gewonnen und seit dem Krieg seine Strategie für die Zukunft angepasst, was auch Auswirkungen auf die deutsche Bundeswehr bedeute:
“New Force Model” – so heißt die neue Strategie der NATO, mit der schneller und effizienter auf Angriffe reagiert werden soll. Ende Juni wurde auf dem NATO-Gipfel in Madrid beschlossen, dass es 2025 soll es zusätzlich die Allied Reaction Force (ARF) geben. So schreibt die Bundeswehr auf ihrer Website: “Sie wird aus Kräften und Fähigkeiten gebildet, um schnelle Effekte zu generieren wie eine Anfangsoperation zum Halten von bedeutenden Geländeabschnitten oder Einrichtungen oder aber zur Unterstützung bei Katastrophen und sonstigen Krisen.” Das bedeutet es für die Bundeswehr:
McAllister weist an dieser Stelle auch darauf hin, dass es nochmal ein gemeinsames Papier von NATO und der EU geben werde, um die Aufgabenverteilung zu sichern, aber für ihn steht ganz klar fest: “NATO ist das Fundament der Sicherheit”. Und nicht nur das NATO-Bündnis erhält neue Mitgliedstaaten – auch der Europäischen Union steht Zuwachs bevor. Ein weiterer Teil der Zeitenwende ist die Erweiterungspolitik der EU.
Auswirkungen auf die Erweiterungspolitik
Aus einem Krieg etwas positives zu ziehen ist schwer, scheint eher makaber und ganz grob gesagt einfach unpassend. Der Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik Olivér Várhelyi hat es trotzdem versucht: „Vielleicht ist dies die einzige positive Auswirkung des russischen Krieges in der Ukraine, denn dadurch wurde die Diskussion über die Erweiterung und die Aufnahmefähigkeit der EU wieder in Gang gebracht.” Ein weiterer Punkt, der beim Online-Bürgerdialog für den Begriff der Zeitenwende herangeführt wird.
Schon kurz nach dem Beginn des Angriffskrieges wurden die Stimmen laut, die einen möglichst schnellen EU-Beitritt der Ukraine fordern. Ganz so einfach funktioniert es, auch mit einem Krieg im Nacken, natürlich nicht, die Kopenhagener Kriterien müssen auch in diesen Zeiten erfüllt werden. Aber seitdem hat sich viel bewegt und das nicht nur für die Ukraine. Die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien werden nach langer Wartezeit eröffnet. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen kommentiert das so: „Welch ein historischer Moment.” Ob es diesen ohne den russischen Krieg gegeben hätte, ist wohl reine Spekulation, wobei Nordmazedonien bereits seit 2005 offizieller EU-Beitrittskandidat ist, Albanien seit 2014 und die Europäische Kommission bereits 2018 empfohlen hat, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.
Kippt die Stimmung?
Die Liste der Auswirkungen des Krieges lässt sich noch weiterführen - allein, wenn man sich das Feld der Energie und Klimapolitik anschaut – der Online-Bürgerdialog hätte daher auch noch einige Stunden weitergehen können. So viele offene Fragen und auch Unsicherheiten, die es zu klären gibt. Gerade der Herbst wird eine Herausforderung auch für die ukrainische Bevölkerung, sagt Melnyk. Das Land stehe vor einer wirtschaftlich “verheerenden” Situation, die die Ukrainer*innen, aber auch ganz Europa vor eine große Herausforderung stellt. Wird das die Stimmung kippen lassen? Wir werden abwarten müssen, welche Veränderung diese Zeitenwende noch mit sich bringen wird.
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