Ukraine: Europa ist Gefragt

, von  Christoph Sebald

Ukraine: Europa ist Gefragt

In der Ukraine kollidieren nicht nur verschiedene Interessen. Historische Reflexe, eine völlig unübersichtliche politische Lage und eine manipulative Berichterstattung verbreiten vor allem eines: Unsicherheit. Es wird Zeit, einen neuen Ausweg aus der ukrainischen Krise zu denken.

Die Ukraine als sicherheitspolitisches Risiko

Spätestens mit der de facto Annexion der Krim durch russische Truppen sieht sich die EU an ihrer Grenze einem sicherheitspolitischen Risiko ausgesetzt. Es ist unklar, in welchem Maß radikale Kräfte, schlicht unbedachtes Handeln oder Sanktionsspiralen den Konflikt auf eine neue Eskalationsstufe heben können. Europa befindet sich in einem Zustand virulenter Unsicherheit. Was es braucht ist eine europäische Lösung.

Was treibt „den Westen“ an?

Alle beteiligten Staaten, die EU, aber auch die NATO mögen jeder für sich seine ganz eigenen Gründe haben, sich in der Ukraine zu „engagieren“.

Vorrangiges Ziel der NATO dürfte sein, die Ukraine dem direkten Einfluss Russlands zu entziehen. Damit folgt sie einem Muster, ehemalige Staaten des Ostblocks – oft durchaus mit breiter Zustimmung der dortigen Bevölkerung und unter Protest Russlands – aus dessen Einflussbereich herauszulösen.

Die EU verhielt sich inkonsistent. An der Ukraine war man lange nur mäßig interessiert. Etwa 2008, als die Staats- und Regierungschefs klarstellten, dass sie eine Annäherung an die Ukraine befürworten, dies aber nicht mit einer Beitrittsperspektive verbinden. Aus verschiedenen Gründen verschob die EU die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommen wiederholt. Erst nachdem Janukowytsch unter massivem Druck Moskaus 2013 die Verabschiedung seinerseits verweigerte, trieb die EU die Unterzeichnung aktiv voran. Angebote Moskaus, den Interessenkonflikt trilateral zu lösen, schlugen die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten aus.

Durch die zügige Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Übergangsregierung hat die EU, wie Russland auf der Krim, Fakten geschaffen. Russland bleibt hier außen vor. Insofern ist die EU mitverantwortlich für die Zuspitzung der Konfrontation.

Was treibt „Russland“ an?

Ein wenig Empathie ist schon nötig, will man verstehen, was in Putins Kopf vor sich gehen könnte. Zum einen spielen handfeste wirtschaftliche und geopolitische Interessen eine zentrale Rolle. Zu nennen wäre da etwa die strategische Bedeutung der Marinebasis auf der Krim, aber auch die Angst vor der Einkreisung durch die NATO. Außerdem laufen die Erweiterungsabsichten der EU Putins Projekt einer Eurasischen Freihandelszone direkt zuwider. Verschärft wurde dies aus russischer Sicht durch den Unwillen der EU, die russischen Wirtschaftsinteressen in ihrem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu berücksichtigen.

Wichtiger noch dürfte aber der innenpolitische Faktor sein. Wenn Putin sagt, die Krim sei ein untrennbarer Teil Russlands und ein Symbol russisch-militärischer Größe, dann trifft das einen Nerv im Bewusstsein vieler Russen. Tatsächlich betrachten dort viele Menschen die Krim als russisches Kernland, das 1954 illegitimerweise von Chruschtschow an die Ukraine übereignet wurde.

Den Zerfall der Sowjetunion, die wirtschaftliche und soziale Krise in den 1990ern, aber auch die alkoholisierten Auftritte Jelzins empfinden breite Teile der Bevölkerung als nationale Schmach. Diese ist umso schmerzhafter, da man sich vom „Westen“ zurückgewiesen fühlt, und man feststellen musste, dass im „gemeinsamen Haus Europa“ für Russland kein Platz ist. Dabei begreift sich das Land seit Jahrhunderten, mit einigem Recht, als europäische Macht.

Das erklärt auch, weshalb Putin nach der Annexion der Krim in Russland so beliebt ist wie seit drei Jahren nicht mehr. Laut dem unabhängigen Levada-Institut genießt der Staatschef derzeit eine Zustimmungsrate von 72 Prozent. Viele Russinnen und Russen goutieren die „Wiederherstellung des nationalen Ansehens in der Welt“, auch wenn die Rolle der russischen Staatsmedien bei deren Meinungsbildung nicht unterschätzt werden darf. . Putin reitet auch deshalb auf der national-revisionistischen Welle, weil diese archaische Rhetorik auf fruchtbaren Boden fällt.

Wir brauchen eine europäische Strategie

Sanktionen, so viel steht fest, sind eine denkbar schlechte Strategie, denn sie spielen Putins Kurs in die Hände. Wenn der Westen nach diesem Coup des Kreml-Chefs in den Drohmodus schaltet, könnte es Putin erst recht gelingen, die russische Bevölkerung unter dem auf die nationale Sache einzuschwören. Das wäre ein gefährlicher und schwer kontrollierbarer Faktor, der die zukünftige russische Außenpolitik dann mit beeinflussen würde. Damit wird jenes Sicherheitsproblem an den Grenzen Europas erst recht geschaffen, das man eigentlich beheben will.

Klüger wäre jedenfalls eine gesamteuropäische Strategie. Was wir brauchen, ist eine enge wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung zwischen der EU und Russland. Denken wir nur an die Anfänge der europäischen Integration zurück. Massive Bedenken Frankreichs und tiefes Misstrauen gegenüber dem Nachbarn konnten durch eine wirtschaftliche, kulturelle und schließlich politische Integration überwunden werden. Die Folge ist ein stabiles und sicheres Westeuropa.

Nehmen wir Putin beim Wort. Eine Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok? Gerne! Und wir sollten noch weiter gehen. Öffnen wir unsere Universitäten für russische Studierende, schließen wir Städtepartnerschaften und setzen wir auf kulturellen Austausch. Diese Strategie ist schon einmal aufgegangen. Eine westlich ausgebildete Mittelschicht, eine enge wirtschaftliche Verflechtung und die politische Annäherung an die EU sind am ehesten geeignet, einem russischen Nationalismus den Nährboden zu entziehen. In einem solchen Szenario könnte die Ukraine die Rolle eines aktiven, aber neutralen Brückenstaates spielen.

Langfristig bedeutet dies nichts weniger als die dauerhafte Stabilisierung Osteuropas. Das sollte uns die Aufgabe alter Feindbilder wert sein. Auch Putins Tage wären gezählt, weil ihn ein Europa ohne Feindbilder endlich auch seiner Bevölkerung als jenen Anachronisten entlarven würde, der er im Grunde ist.

Ihr Kommentar
  • Am 30. März 2014 um 04:12, von  Alexander Peters Als Antwort Ukraine: Europa ist Gefragt

    KANINCHEN UND FUCHS - DIE PERFEKTE WG

    Dieser Artikel unterliegt derselben Verblendung, wie die von Frank-Walter - oder war es Neville? - Steinmeier seit Schröders Tagen verantwortete deutsche Rußlandpolitik.

    Ja, im Falle De-Gaulle-Frankreichs war Versöhnungspolitik sinnvoll, denn sie fand zwischen zwei demokratischen Rechtsstaaten mit gemeinsamen Werten statt. Nein, im Fall des heutigen Rußlands ist sie NICHT sinnvoll, denn spätestens mit Putins Machtantritt hat der kurze Flirt der Gorbatschow-/ Jelzinjahre mit Meinungsfreit, Demokratie und Rechtstaat ein Ende gefunden.

    Wir sprechen über einen Polizeistaat, der Kritiker wie Litwinenko oder Politkowskaya liquidiert, in Tschetschenien Hunderttausende abgeschlachtet hat und auf Wiedereroberungsgelegenheiten in seiner Nachbarschaft lauert. Eine engere Verflechtung - „Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok“ - ist unter diesen Bedingungen schierer Irssinn. Die „Verflechtung“ - etwa bei der Abhängigkeit von russischem Gas - ist vielmehr jetzt schon größer als mit der Erhaltung europäischer Freiheit vereinbar ist. Aufgabe europäischer Politik kann nur sein, das eigene Gebiet gegenüber Einflüssen aus der Unrechtsstaatssphäre im Osten abzudichten, damit nicht irgendwann die ganze EU so unter den Schatten Putins gerät, wie jetzt die Ukraine.

    In den Fünzigern hatte man für diesen Unterschied übrigens noch einen klaren Sinn: Derselbe Adenauer, der sich mit Frankreich zusammentat, verweigerte sich Stalins Vorschlag („Wiedervereinigungs“-Note, 1952),Bonner Demokratie und Ostberliner Diktatur in einem Gemeinschaftsstaat zusammenzuspannen.

    Die Antwort auf den russischen Anspruch, fremde Völker zu bevormunden, kann nicht in Appeasement sondern nur in kompromißlosem, entschiedenem Widerstand bestehen. Dank der „dialogisch“ versäuselten, verflechtungsgläubigen - und schön gasbesoffenen - Außenpolitik Steinmeiers ist Europa heute zu solchem Widerstand nicht fähig. - Was nur zeigt, wie vollkommen kurzsichtig, prinzipenlos und verfehlt diese Außenpolitik war.

    Europas Freiheit wird nicht am Hindukusch, sondern am Njemen, Djenester und Djenepr verteidigt - und allmählich sollte das auch jemand den militärischen Planern verraten.

  • Am 21. April 2014 um 10:26, von  Christoph Sebald Als Antwort Ukraine: Europa ist Gefragt

    Lieber Alexander,

    vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Einerseits gebe ich dir Recht was die innenpolitische Situation in Russland angeht. Im Falle des gegenwärtigen Russlands kann man nicht von einer funktionierenden, liberalen Demokratie sprechen. Wie du völlig richtig anmerkst, ist der Umgang mit Kremlkritikern einer der schlagenden Beweise dafür. Alleine im Umgang mit Russland scheinen wir doch unterschiedlicher Meinung zu sein.

    Warum denke ich nun aber dennoch, dass uns ein Konfrontationskurs mit Russland in die falsche Richtung führt? Es scheint mir in den letzten Jahren so zu sein, als spiegle der Kreml die Außenpolitik zu einem gewissen Grade wider. Staaten, die sich in den letzten Jahren Russland stark annäherten – darunter auch Deutschland – haben nicht nur im Kreml, sondern auch unter der russischen Bevölkerung ein viel positiveres Image als Staaten wie Großbritannien, die das in der Vergangenheit weniger gemacht haben.

    Die enge wirtschaftliche Verflechtung führt natürlich dazu, dass wir in Konfliktfällen nicht mehr die konfrontative Breitseite fahren können. Es erschwert aber auch eine Aktivierung von Feindbildern in Russland. Dabei ist der russische Nationalismus, von eben jenen Feindbildern geschürt, eine Kraft die nicht unterschätzt werden sollte und das Potenzial hat: 1) Putin für immer an der Macht zu halten, 2) somit auch die innenpolitische Situation zu zementieren, 3) die Bevölkerung für expansionistische Abenteuer empfänglich zu machen, 4) Osteuropa langfristig zu destabilisieren. Wer glaubt Russland durch Isolation zum Einlenken zwingen zu können, ist in meinen Augen völlig auf dem Holzweg, weil er die innenpolitischen Wirkmechanismen unterschätzt und wer denkt, die Europäer hätten Lust die Demokratie am Dnjepr zu verteidigen, der liegt dann schon zum zweiten Mal falsch.

    Mir scheint doch viel überzeugender Russland einzubinden. Denken wir nur an die Osterweiterung. Der Einfluss Europas auf seine Nachbarn ist beträchtlich, aber nur, wenn es sie in seinen außenpolitischen (oder besser: nachbarschaftspolitischen) Interaktionsmodus bringen kann. Ich bin davon überzeugt, dass Russland ein dickes Brett ist. Dennoch wird sich Russland – schon mangels echter Alternativen – irgendwann am Modell der EU ausrichten müssen, wenn es nicht weiter an Bedeutung verlieren will. Das einzige was solch einen faktischen Anpassungszwang erfolgreich verhindern kann, ist eine beiderseitige Konfrontationspolitik, welche den Modus internationaler Interaktion ändert.

    So viel von mir. Frohe Ostern!

  • Am 21. April 2014 um 17:37, von  Alexander Peters Als Antwort Ukraine: Europa ist Gefragt

    Sehr geehrter Herr Sebald,

    ich kann Ihnen nicht folgen.

     Engere wirtschaftliche Verflechtung „erwschwert“ die „Aktivierung von Feindbildern in Rußland“? - Wahrscheinlich ist kein Land wirtschaftlich so eng mit Rußland verflochten wie die Ukraine; die Aktivierung von Feinbildern hat das nicht im geringsten behindert. Aus den Massenprotesten des Maidan wurde unter den Händen der russischen Propaganda ein „Nazi-Putsch“ mit Russenjagd und russischen Flüchtlingsströmen. Dank dieser Volksempfänger-Greuelmärchen hält heute die russische Bevölkerung die Aggression Rußlands auf der Krim und in der Ostukraine für gerechtfertigt. Verflechtung erschwert dem russischen Imperialismus gar nichts, sondern gibt ihm die Prügel in die Hand, mit der er seine Opfer traktiert.

     „Einbindung“ Rußlands nach dem Muster der „Osterweiterung“? Das historische Beispiel hat denselben Fehler, wie schon das der deutsch-französischen Zusammenarbeit nach 1945 im ursprünglichen Artikel. Die osteuropäischen Staaten waren bereits - genau wie De-Gaulle-Frankreich - vertrauenswürdige demokratische Partner, als man begann mit ihnen zusammenzuarbeiten. Rußland ist kein solcher Partner. Schlagen Sie im Ernst vor, daß Europa sich einer unberechenbaren, militaristischen Diktatur öffnen soll? Damit wir endlich auch einmal eine solche Unterwanderung unseres politischen Systems und unsere Sicherheitskräfte bekommen, wie sie sich in der Ukraine gerade zeigt?!

    Wenn Sie den Fuchs in den Kaninchenstall lassen, dann kommt das Kaninchen unter den „Interaktionsmodus“ des Fuchses und nicht umgekehrt. Russisch-Europäische Verflechtung erzeugt „Anpassungsdruck“ - aber nicht auf Rußland, sondern auf Europa.

    Auch Ihnen noch frohe Ostern!

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