Was passiert gerade an der türkisch-griechischen Grenze?
Am 29. Februar erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland für geöffnet. Griechenland und die EU sehen das anders: Sie verteidigen die Grenze weiterhin und stärken die dort eingesetzten Sicherheitskräfte. Zahlreiche Geflüchtete, die sich in der Türkei befanden, machten sich auf Erdogans verkündete Öffnung hin aber auf den Weg und hoffen, nun endlich weiter nach Europa zu reisen. Weil sie die Grenze jedoch nicht überwinden können, harren sie dort aus. Die Internationale Organisation für Migration schätzt ihre Zahl auf mindestens 13.000. Einige ziehen sich inzwischen wieder ins Landesinnere zurück, um zum Beispiel ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. In der Türkei sind sie jedoch ebenso mit Diskriminierung und Fremdenhass konfrontiert.
Längst kommt es an der Grenze auch zu extremen Ausschreitungen: Die griechischen Grenzschützer*innen setzen beispielsweise Blendgranaten und Schlagstöcke ein. Mit großen Ventilatoren wurden zudem Tränengas und Rauchschwaden verteilt. Auf der anderen Seite wird von Steinen, Brandsätzen und anderen Gegenständen berichtet, mit denen Menschen bei dem Versuch, die Grenze zu überwinden, auf Sicherheitskräfte werfen. Dem griechischen Fernsehsender Skai wurde zudem ein Video zugespielt, auf dem zu sehen ist, wie ein türkischer Panzer versucht, die Grenze mit Gewalt einzureißen, um den Weg nach Griechenland zu öffnen.
Im Internet toben währenddessen Anschuldigung und Meldungen, die nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft werden können: Von türkischer Seite wird Griechenland vorgeworfen, auf Geflüchtete geschossen zu haben. Griechenland weist dies zurück. Die US-amerikanische New York Times berichtet zudem von geheimen Gefängnissen in militärischen Sperrgebieten, in denen Griechenland Migrant*innen festhalte, foltere und ausraube. Die Zeitung bezieht sich dabei auf Berichte von Augenzeug*innen. Griechenland zufolge handelt es sich um Desinformation, also sogenannte „Fake News“, in Form von türkischer Propaganda.
Warum hat die Türkei die Grenze geöffnet?
Mit einer Grenzöffnung hatte Erdogan zuvor bereits mehrfach gedroht. Einer der Gründe sind vermutlich die vergangenen EU-Haushaltsverhandlungen, in denen keine Gelder zur weiteren Unterstützung der Türkei vereinbart worden waren. Eine Grenzöffnung könnte dabei die EU unter Druck setzen.
2016 vereinbarten die EU und die Türkei ein Abkommen, welches vorsah, dass die EU die Türkei mit bis zu sechs Milliarden Euro unterstützen würde, da die Türkei rund 3,6 Millionen Geflüchtete, zum Großteil aus Syrien, aufgenommen hatte. Die Türkei sollte sich um die Geflüchteten kümmern und damit auch verhindern, dass diese nach Europa weiterreisen. Das Geld ging allerdings nicht direkt an die türkische Regierung, sondern wurde unter anderem zum Teil an Hilfsorganisationen vor Ort gezahlt. Erdogan sagt, das Geld nie bekommen zu haben, auch reiche es nicht. Das Abkommen beinhaltet außerdem, dass es türkischen Staatsbürger*innen vereinfacht werden sollte, Schengen-Visa zu beantragen, mit denen sie in EU-Länder reisen können, und dass die Zollunion zwischen der Türkei und der EU überarbeitet werden sollte. Bislang ist das nicht geschehen.
Weiter kommt die Türkei wegen der militärischen Auseinandersetzungen in Idlib zunehmend in Bedrängnis. Idlib ist eine Provinz in Nordsyrien und grenzt direkt an die Türkei. Dort finden zurzeit heftige Kämpfe zwischen den von der Türkei unterstützten Rebellen und den von Russland unterstützten, syrischen Regierungstruppen statt. Die militärische Eskalation trieb zuletzt wieder viele Menschen in die Flucht. Eigentlich wurde eine Waffenruhe zwischen Türkei und Russland vereinbart. Diese wurde zuerst nicht eingehalten, jetzt zeigten sich Erdogan und der russische Präsident Wladimir Putin einiger als zuvor. Die türkischen Truppen bleiben dennoch vor Ort und sind Erdogan zufolge bereit, auf etwaige Verstöße gegen die Waffenruhe zu reagieren. Die Türkei steht daher unter enormem Druck, forderte die NATO bereits mehrfach zu bislang ausbleibender Unterstützung auf und ist auf der Suche nach Rückendeckung aus Europa.
Wie reagierte Griechenland?
Griechenland will keine Geflüchteten über seine Grenzen lassen und verstärkt zunehmend die an der Grenze eingesetzten Polizeikräfte. Medienberichte zeigen, dass bislang Tränengas und Blendgranaten eingesetzt wurden, um die Menschen daran zu hindern die Grenze zu überqueren. Gelang es ihnen doch, wurden sie festgenommen, einige von ihnen zu Haftstrafen verurteilt. Anspruch auf Verteidiger*innen hatten sie nicht.
Zugleich spitzt sich die Lage auf der griechischen Insel Lesbos und den dortigen Flüchtlingslagern Moria und Karatepe zu: Moria war für einige tausend Menschen errichtet worden. Heute leben dort 22.000 bis 25.000 Geflüchtete, davon ca. 8.000 Kinder. Es gibt zu wenige sanitäre Anlagen und die Unterkünfte sind nicht geeignet für die niedrigen Temperaturen. Dort patrouillieren zudem selbsternannte, meist rechte Bürgerwehren. Umfragen zufolge unterstützt eine Mehrheit der Griech*innen die harte Linie der Regierung.
Wie reagierte die EU?
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekräftigte, dass griechische Grenzen auch europäische Grenzen seien. Zunächst schickte die Grenzschutzorganisation Frontex Hilfe, deren eingesetzte Mitarbeiter*innen nun weiter aufgestockt wurden. Unter ihnen sind sowohl österreichische und zyprische, als auch polnische und tschechische Beamt*innen, die die Grenze abriegeln sollen. Von der Leyen sagte zur schnellen Unterstützung außerdem 700 Millionen Euro Soforthilfe zu. Griechenland fühlt sich aber allein gelassen, da die EU keinen Konsens in der Frage, wie Asylbewerber*innen in der EU verteilt werden sollen, erreichen kann und Griechenland und dessen überfüllte Lager damit allein lässt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dankte währenddessen Griechenland dafür, ein Schutzschild an der EU-Außengrenze zu sein.
Am 17.3.2020 trifft sich Erdogan mit Angela Merkel und Emmanuel Macron. Auch der britische Premier Boris Johnson ist eingeladen. Was genau besprochen werden soll, ist noch unbekannt: Vermutlich soll es um das Abkommen zwischen der Türkei und der EU sowie um die Situation im Bürgerkriegsland Syrien gehen. Dass sich Merkel und der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis außerdem in Brüssel trafen, wird von vielen als deutsche Solidarität mit Griechenland interpretiert. Zuvor traf sich Erdogan bereits mit von der Leyen und Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, um über das EU-Türkei-Abkommen zu sprechen. Ergebnisse des Gespräches sind bisher nicht ersichtlich.
Sieben EU-Länder, darunter auch Deutschland, haben sich inzwischen bereit erklärt, insgesamt 1600 unbegleitete Minderjährige und andere besonders gefährdete Geflüchtete aus griechischen Lagern aufzunehmen. Dabei handelt es sich jedoch nur um einen Bruchteil der dort gestrandeten Menschen. Zudem will die EU Geflüchteten, die freiwillig zurückkehren, Geld zahlen. Weitere Unterstützung ist geplant, soll aber erst auf einer im Mai stattfindenden Konferenz endgültig beschlossen werden.
Was fordern Menschenrechtsorganisationen?
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren die Vorkommnisse aufs Schärfste. Sie kritisieren Erdogan dafür, Menschenleben als Druckmittel in einem politischen Konflikt zu nutzen. Zugleich weisen Stimmen wie die dänische Sozialdemokratin Kati Piri darauf hin, dass Erdogans Verhalten nur eine Reaktion auf das Scheitern der EU sei, die ihren Anteil an dem getroffenen Abkommen nicht einlöse. Piri geht davon aus, dass die EU dieses Scheitern vorhergesehen und damit Erdogans Verhalten und derartige Eskalationen in Kauf genommen habe, um 2016 kurzfristig Geflüchtete in der Türkei und damit außerhalb der EU zu halten.
Weiter wird Griechenland für den Einsatz von unter anderem Tränengas, Blendgranaten und Schlagstöcken kritisiert. Die Organisation Human Rights Watch bezeichnet es zudem als „inhumane and illegal“, dass Griechenland Schutzsuchenden die Möglichkeit verwehrt, Asylanträge zu stellen: Das Land hat beschlossen, für einen Monat keine neuen Anträge zu bearbeiten. Laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR bedeutet das Verhaften von Geflüchteten, die es bis nach Griechenland schafften, auch, dass Familien auseinandergerissen werden, wenn beispielsweise ausschließlich ein Familienvater verhaftet, weitere Familienmitglieder aber in ein Flüchtlingslager gebracht werden. Auch die menschenunwürdigen Umstände, unter denen Geflüchtete untergebracht sind, werden angeprangert. Zu einem Schiff, auf dem sich über 450 Migrant*innen befinden, wurde Human Rights Watch beispielsweise der Zutritt verwehrt. Die Organisation sieht dies als Versuch Griechenlands, Verbrechen gegen internationales Gesetz und gegen Menschenrechte zu verschleiern.
Nicht zuletzt steht die EU in scharfer Kritik, zum einen weil sie keinen Konsens in der Frage nach der europaweiten Verteilung von Geflüchteten und damit auch keine Unterstützung für Griechenland stellen kann. Zum anderen hat sie die Geschehnisse an der türkisch-griechischen Grenze bislang nicht verurteilt. Während die EU sich gerne als Friedensbringerin beschreibt, bietet sie den notleidenden Menschen an der türkisch-griechischen Grenze bislang keinen Schutz. Stattdessen hat sie den Grenzschutz weiter gestärkt. Von der Leyen bekräftigte zudem, dass es nicht zu einer Grenzöffnung kommen werde.
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