2014 wurde das System der Spitzenkandidat*innen für die Europawahlen eingeführt. Damals lautete die gängige Erklärung, dass der*die Kandidat*in der stärksten Partei automatisch die Präsidentschaft der Europäischen Kommission erhalten würde. In der Zwischenzeit hat sich das Verfahren jedoch unter anderem durch die Einführung von Vorwahlen innerhalb der europäischen Parteien weiterentwickelt.
Außerdem legen Medien und Parteien dieses Jahr den Fokus auf die parlamentarische Mehrheit. Den europäischen Verträgen zufolge wird der*die Präsident*in der Kommission - auf Vorschlag der Mitgliedstaaten im Rat – durch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments gewählt. Und dieses Mal ist die Unterstützung der Parlamentarier*innen alles andere als sicher.
Dies sind schlechte Nachrichten für Manfred Weber, den Kandidaten aus dem Mitte-Rechts-Bündnis der Europäischen Volkspartei (EVP). Angesichts der Tatsache, dass die sozialdemokratischen Parteien seit 2014 in mehreren europäischen Ländern schwere Verluste verzeichnet haben, liegt die EVP laut aktuellen Hochrechnungen von Europe Elects mit einem Vorsprung von 42 Sitzen vorne. Es ist also wahrscheinlich, dass Manfred Weber Ende Mai Kandidat der stärksten Partei sein wird. Dieses Jahr wird ihm das allein aber nicht den Vorsitz der Kommission sichern: Er wird zusätzlich mit anderen Parteien in Verhandlung treten müssen, um deren Unterstützung zu gewinnen.
Anlässlich einer JEF-Veranstaltung an der Pariser Hochschule für Politikwissenschaften Sciences Po am 2. April hat der niederländische Spitzenkandidat der Grünen Bas Eickhout seinen Standpunkt deutlich gemacht: Sollte Manfred Weber seine Vorgehensweise nicht ändern, werden ihn die Grünen nicht unterstützen.
Als Anführer der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament lässt sich Manfred Weber dem konservativen Flügel seiner Partei zuordnen. Im Vordergrund seiner Kampagne steht das Thema Einwanderung, die für ihn offenbar eine „Sicherheitsbedrohung“ darstellt: Auf seiner Internetseite betont er, dass „10.000 zusätzliche Frontex-Beamte unsere Außengrenzen kontrollieren“ sollten, was ursprünglich ein Vorschlag der aktuellen Kommission war. Des Weiteren spricht er sich dafür aus, „illegale Migranten in ihre Heimatländer zurückzuführen“.
Auch wenn die Sprache der EVP immer schärfer wird, worüber sich die Parteien zu ihrer Linken zunehmend beunruhigt zeigen, hat die Debatte um die EVP-Mitgliedschaft von Fidesz, der Partei des ungarischen Premierministers Viktor Orbán, weitaus mehr spaltendes Potenzial. Trotz ihrer vorläufigen Suspendierung Ende März ist die Fidesz nicht komplett aus der Fraktion ausgeschlossen. Zwar erwägt Manfred Weber inzwischen selbst einen Ausschluss der autoritären Partei, lange Zeit zeigte er sich jedoch recht nachgiebig gegenüber Fidesz. Ginge es nach anderen europäischen Parteien wie den Grünen, müssten sich die Konservativen dieser Bedrohung europäischer Werte mit deutlich mehr Standfestigkeit annehmen.
Die EVP braucht die Linken
Rechts von der EVP finden sich vor allem konservative, euroskeptische und europhobe Parteien, mit denen eine proeuropäische Partei kaum konstruktiv zusammenarbeiten kann. Die Folge: Um eine Mehrheit zu erhalten, bleibt der EVP als einzige Möglichkeit, sich nach links zu wenden. In seinem Vortrag am 2. April äußerte Bas Eickhout bereits seine Vermutung, dass die Verhandlungen zwischen den europäischen Parteien dieses Mal länger dauern würden als bisher. Ähnlich wie nach einer nationalen Wahl müssen sich die Parteien dabei auf die Prioritäten der nächsten Kommissionspräsidentschaft einigen.
Wenn nach der Wahl am 26. Mai intensive Verhandlungen beginnen, kann das als ein Zeichen für eine Europäisierung der Politik gewertet werden – oder auch als Kennzeichen einer Politisierung von Europa. Diese Politisierung wiederum ist es, die Europa demokratischer macht. Die Festlegung der Ziele der nächsten Europäischen Kommission ist nicht mehr allein eine Entscheidung des Verwaltungsapparates. Im Mai zählt jede Stimme: Von Anfang an werden europäische Parteien Einfluss auf die Politik der Kommission nehmen und die Machtverhältnisse werden von den Wähler*innen bestimmt.
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