Slowakei: Auf der Suche nach Identität

Serie: 10 Jahre EU-Osterweiterung

, von  Marcel Wollscheid

Slowakei: Auf der Suche nach Identität
Verschlungene Treppenpfade führen auf die Burg von Bratislava. Foto: © ehpien / Flickr (Link) / CC-BY-NC-ND 2.0-Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/)

Kein anderes Land hatte bei der Europawahl 2014 eine niedrigere Wahlbeteiligung vorzuweisen als die Slowakei: Nur dreizehn Prozent der stimmberechtigten Slowaken gaben ihren Wahlzettel ab. Hat die europäische Idee die Slowakei zehn Jahre nach dem EU-Beitritt des Landes nicht erreicht?

Die Politikwissenschaftlerin Oľga Gyárfášová bezeichnet den EU-Beitritt der Slowakei als einen „Luftzug“ durch das Land. Das Tor zur Europäischen Union wurde 2004 geöffnet. Vor allem junge Slowaken freuten sich über die offenen Grenzen und die Möglichkeit, im europäischen Ausland studieren und arbeiten zu können. Zudem erbrachte der Beitritt einen Modernisierungsschub für die Slowakei, vor allem in wirtschaftlicher Perspektive: ausländische Investitionen (speziell von Seiten der Automobilhersteller) strömten in das Land, stetiges Wachstum beflügelte die Volkswirtschaft, der Wandel von einer sozialistischen Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft mit exportorientierter Industrie gelang. Die Slowakei gilt aufgrund ihres einzigartigen Einheitssteuertarif von 19 Prozent gar als „neoliberales Musterland“.

Ambivalente Folgen des EU-Beitritts

Doch um im Bild des Luftzugs zu bleiben, kann eine offene Tür kühlen Wind in das Haus tragen – und damit für Unbehagen unter den Bewohnern sorgen. Einerseits zeigte die Finanz- und Wirtschaftskrise der Slowakei die Kehrseite der Abhängigkeit von internationalen Märkten. Die Arbeitslosigkeit steigt seitdem an und strukturschwachen Regionen in der Mittelslowakei droht die Perspektivlosigkeit. Andererseits erweckte das europäische Leitbild der liberalen Demokratie Spannungen in Teilen der slowakischen Bevölkerung. Manche Menschen würden die Tür nach Europa gerne wieder schließen.

Historisch niedrige Wahlbeteiligung bei Europawahlen

Für Negativschlagzeilen sorgt die Slowakei regelmäßig bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. Bei den diesjährigen Wahlen gaben nur dreizehn Prozent der Stimmberechtigten in der Slowakei ihre Stimme ab. Eine niedrigere Beteiligung in einem Mitgliedsland gab es noch nie. Schon im Jahr 2004 stellte die Slowakei mit einer Wahlbeteiligung von 17 Prozent einen historischen Negativrekord auf. Ist dies ein Ausdruck der Ablehnung, Wahlmüdigkeit oder blanker Gleichgültigkeit der Slowaken gegenüber der Europäischen Union? Paradox: Umfragen zeigen, dass die Slowaken die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in der Eurozone überwiegend positiv bewerten. „Der durchschnittliche Slowake erinnert sich, dass unsere 13 von 751 Mitglieder des Europäischen Parlaments nicht wirklich ins Gewicht fallen“, sagt der Vorsitzende des slowakischen Parlamentsausschusses für europäische Angelegenheiten Ľuboš Blaha und zieht ein ernüchtertes Fazit über das Verhältnis seiner Landsleute zur Europäischen Union: „Wir haben einfach keinen Sinn für das ‚Europäische‘. Wir mögen die EU, weil sie uns Geld gibt, aber wir fühlen uns nicht zugehörig.“

Europa hat die Herzen (noch) nicht erobert

Tatsächlich muss sich die Slowakei nicht nur mit einer mangelnden europäischen Identität auseinandersetzen. Der junge unabhängige Staat sucht bis heute nach der eigenen Identität. „Dass das Schicksal des Landes woanders entschieden wird, hat sich tief in das historische Gedächtnis eingebrannt“, schreibt Oľga Gyárfášová über das politische Bewusstsein der Slowakei. Der 1939 gegründete erste slowakische Nationalstaat unter Führung des katholischen Priesters Jozef Tiso war faktisch ein Vasallenstaat des Dritten Reichs. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Slowakei Teil der Tschechoslowakei unter kommunistischer Fremdbestimmung. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sollten die Slowaken ihre Unabhängigkeit erlangen: Nach einer einvernehmlichen Teilung der Tschechoslowakei 1993 entstand die Slowakische Republik. Die wechselvolle Geschichte des Landes und ihre Deutung spiegelt sich bis heute in kulturellen und gesellschaftlichen Konfliktlinien wider. Klerikal-nationalistische Strömungen treffen auf Befürworter der europäischen Integration mit liberalen Wertorientierungen. Die Westorientierung des Landes wird durch die Forderung einer Hinwendung zu Putins Russland, nicht nur aus wirtschaftlichen Zwängen, in Frage gestellt.

Diese spaltenden Kräfte stellen die zweifellos bemerkenswerte Entwicklung, die die Slowakei in den vergangenen 21 Jahren ihrer Unabhängigkeit genommen hat, vor die Probe. Ihren eigenen Weg in der Mitte Europas hat die „kleine, große Slowakei“ – so lautet ihr touristischer Vermarktungsslogan – noch nicht gefunden. Das kleine Land steht vor großen Entscheidungen.

2004 nahm die Europäische Union zehn Länder als neue Mitglieder auf. Die EU wurde größer, bevölkerungsreicher und östlicher. treffpunkteuropa.de stellt in einer Serie die jungen Mitgliedsstaaten zehn Jahre nach der Erweiterung vor.

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