Schon Digitalcharta.EU oder noch Digitalcharta.DE?

, von  Christian Weickhmann

Schon Digitalcharta.EU oder noch Digitalcharta.DE?
Eine europäische Digitalcharta? Die Präeuropäische Debatte - C. Weickhmann (CC-BY-SA-NC 3.0) mit Material: „Wheelmap App iPhone“ - Creative Commons — Attribution 2.0 Generic — CC BY 2.0 Sozialhelden via Flickr sowie „Pirater un livre papier“ - CC-BY-SA 3.0 ActuaLitté via Flickr

Mit der „Digital-Charta“ wollen Bürger die Diskussion um Grundrechte im digitalen Zeitalter anregen. Sie nennen sie „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“. Doch sie ist eine deutsche Charta, diskutiert von der deutschen Netzcommunity für ganz Europa. Ein Symptom der ungeborenen europäischen Zivilgesellschaft anno 2016.

Am 1. Dezember 2016 veröffentlichte die ZEIT-Stiftung die„Digital-Charta“: ein Versuch 27 interessierter Bürger, Grundrechte im digitalen Zeitalter für Europa zu formulieren und darüber eine Debatte in Gang zu bringen. Unter den Initiatoren finden sich bekannte Namen: Martin Schulz, Jan Philipp Albrecht, Sascha Lobo. Darüber hinaus gibt es eine Liste von Unterstützerinnen und Unterstützern: etwa Sibylle Berg und Jürgen Habermas, aber auch Politiker wie Sabine Leutheuser-Schnarrenberger. Ein unterstützenswerter Versuch also, ein wichtiges Zukunftsthema in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.

Doch der kritische europäische Internaut stellt schnell fest, was bis auf zwei Personen alle Initiatoren und Unterstützer eint: Sie kommen aus Deutschland. Die beiden Ausnahmen sind Fred Turner, Professor in Stanford, Kalifornien (nicht das Kalifornien in Schleswig-Holstein) und Jeroen van den Hoven, Professor an der TU Delft in den Niederlanden.

Dann gibt es die Bürgerinnen und Bürger, mit denen man über die Charta diskutieren möchte: die Unterzeichner. Doch beim Durchklicken der zur Zeit etwa 800 Unterzeichner (Stand 4. Dezember 2016) beschleicht einen dann der Verdacht, dass die Reichweite der Charta begrenzt ist. Gymnasiallehrer sind dabei, Apotheker oder Schülerinnen. Doch so breit gestreut die Selbstbezeichnungen auch sind, man sucht die „teachers“, den „boticario“ oder die „élèves“. Wo sind die ganzen Europäer, für die die Charta doch geschrieben wurde?

Manuel Müller hat dieses Phänomen in seinem Blogimmer wieder aufgegriffen: Die national geführten Debatten zur Rettung Griechenlands oder zum Lissabon-Urteil, um nur zwei zu nennen. Praktisch alle Diskussionen eint, dass sie in Deutschland angestoßen, in der deutschen Presse diskutiert und im besten Fall zu Initiativen im Europäischen Rat geführt werden; meist im Rat von einem Land vorgebracht und nur mit viel Glück z. B. von einer Gruppe im Europäischen Parlament.

Es gibt Ausnahmen dieser Regel: 2016 wurde die EU-Verordnung 2016/679 beschlossen, auch bekannt als Datenschutz-Grundverordnung. Vorangetrieben wurde sie über Jahre von Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Doch auch hier ist bemerkenswert, wie unterschiedlich schon die Wikipedia-Artikel auf deutsch, englisch und französisch zur Datenschutz-Grundverordnung sind.

Der französische Artikel ist kurz. Er beschreibt die Verordnung zusammenfassend. Der englische Artikel holt minimal weiter aus und erwähnt zum Beispiel die in Großbritannien und Irland zuständigen Behörden. Der deutschsprachige Artikel hingegen zitiert auf der Hälfte seiner Gesamtlänge Lobbyeinflüsse und Kritik an der Verordnung, vornehmlich von deutschen Akteuren.

In Großbritannien zum Beispiel würde sich trotz Brexit gerade jetzt eine erweiterte Diskussion über digitale Grundrechte anbieten. Am 29. November trat der „Investigatory Powers Act“ in Kraft, der von der Presse als„Snooper’s Charter“ bezeichnet wird. Er verlangt unter anderem, dass Provider eine Verlaufsliste aller vom Kunden besuchten Webseiten anfertigen und zwölf Monate für die Ermittlungsbehörden aufbewahren. Es bleibt abzuwarten, ob demnächst pikante Browserverläufe führender Politiker „geleakt“ werden und das Thema noch einmal Fahrt aufnimmt. Oder eher ob, wie Aktivisten warnen, demnächst auch eine französische, ungarische oder deutsche „Snooper’s Charter“ folgen wird. Doch die Diskussion wird vor allem national geführt.

Für Aktivisten im europäischen Umfeld ist dies nicht neu. Oft hört man das Seufzen über die Kleinteiligkeit der öffentlichen Debatte in Europa. Selbst EU-Gesetzentwürfe werden in der Regel national diskutiert, vor allem dann, wenn sich Widerstand regt. Doch gerade in Fragen wie Datenschutz und Meinungsfreiheit im Internet des 21. Jahrhunderts greift jedwede nationale Debatte zu kurz.

Die „Digital-Charta“ ist nur eines vieler Beispiele. Sie müsste, um wirklich eine „Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ (sic!) zu sein, im Dialog mit Europäerinnen und Europäern entstehen, nicht mit 27 deutschen Initiatoren, 45 deutschsprachigen Unterstützern, einem Niederländer, einem US-Amerikaner und vielen deutschsprachigen Diskutanten. Diesen Prozess europäisch zu gestalten ist viel anstrengender! Was ist die Kommunikationssprache? Wen spricht man an? Welche Verbände und Vereine in der EU beschäftigen sich überhaupt mit digitalen Rechten?

Die „Digital-Charta“ könnte den Anfang bilden für ein Netzwerk europäischer Verbände zu Grundrechten im digitalen Zeitalter. Unter ihren Unterstützern sind ein paar europaweit bekannte Namen mit großen europäischen Netzwerken. Doch der Löwenanteil der Arbeit ist nicht, weitere Unterzeichner aus allen EU-Staaten zu finden. Die Aufgabe ist viel größer. Sie lautet: Gestalten Sie Meinungsbildung in mehr als zwei Dutzend Sprachen!

Menschen müssten im besten Fall Auge in Auge diskutieren können, müssten die unterschiedlichen Perspektiven auf die jeweiligen Rechtslagen beleuchten. Einige Teilnehmer würden wohl einen regelrechten Kulturschock durchmachen: Der Datenschutz hat in den EU-Staaten jeweils einen ganz unterschiedlichen Resonanzraum. So war die Kampagne gegen TTIP vor allem in Deutschland extrem erfolgreich, jedoch mit oft ganz anderen Themen als zum Beispiel in Spanien oder Großbritannien.

Gründe dafür gibt es viele: eine andere Verortung von Themen im Parteienspektrum, andere Gepflogenheiten, ein anders ausgebildeter Rechtsrahmen und nicht zuletzt die Frage, wie viel Raum andere Themen gerade in der öffentlichen Debatte einnehmen. Diese Liste ist bei Weitem nicht vollständig. Doch die Frage ist berechtigt: Wieso ist der Brexit in Großbritannien allgegenwärtig, in allen anderen EU-Staaten jedoch im Vergleich eher außen vor? Für Großbritannien macht der Handel mit der EU über 40% der Exportleistung und über 50% der Importleistung aus. Doch ein Austritt verkleinert die EU um mehr als ein Neuntel ihrer Bevölkerung und verringert ihr Bruttoinlandsprodukt immerhin um mehr als 15 Prozent. Der Brexit mag formal Außenpolitik sein, hat aber für die EU in vielen Feldern geradezu innenpolitischen Charakter.

Gibt es Auswege aus dem Dilemma? Zivile Gruppen und Vereine müssten sich mehr und mehr europäisch vernetzen. Wo ist der Europäische Gewerkschaftsbund? Man muss nur beobachten wie zum Beispiel Amazon auf Streiks reagiert: man beliefert seine Kunden einfach aus dem EU-Nachbarland und die deutsche ver.di schaut dumm aus der Wäsche.

In fast jedem Land verfügen die politischen Lager über Stiftungen. Doch wo ist das konservative Wilfried Martens Centre for European Studies in der öffentlichen Debatte? Noch schlimmer sieht es auf der sozialdemokratischen Seite aus: Zwar arbeiten beispielsweise die Fondation Jean Jaurès und dieFriedrich-Ebert-Stiftung oft zusammen. Eine europäische sozialdemokratische Stiftung gibt es jedoch nicht.

Die Liste der Beispiele ließe sich schier unendlich fortsetzen: Zeitungen, Portale, Vereine, zivilgesellschaftliche Lobbygruppen, Stiftungen, Parteien. Allen fehlt es an mehr als einem „Dachverband“ oder einer „Confederation“. Alle verlieren sich im verbandsalltäglichen Kleinklein. Dabei haben sie den großen Wurf vor sich: die europäische Debatte

Ihr Kommentar
  • Am 3. Januar 2017 um 16:12, von  Manuel Müller Als Antwort Schon Digitalcharta.EU oder noch Digitalcharta.DE?

    Danke für den Artikel, der ein wichtiges Thema anspricht - und danke auch für den Link ;-)

    Mir scheint die Situation allerdings nicht ganz so fatal, wie du das in den letzten Absätzen andeutest. Tatsächlich existieren inzwischen doch schon sehr viele europäische Dachverbände: Es gibt die europäischen Parteien und ihre Stiftungen (für einen Überblick siehe hier, die der Sozialdemokraten heißt FEPS), es gibt europäische Sozialpartner, europäische Verbände für Umwelt und Verbraucherschutz und Zeitungskooperationen wie das „Europa-Team“ oder LENA.

    Das entscheidende Problem ist also nicht, dass es die europäischen Strukturen nicht gäbe, sondern dass sie zu wenig genutzt werden. Die Digitalcharta ist dafür sicher ein gutes Beispiel. Am Ende gibt es dafür in meinen Augen vor allem zwei Gründe. Da ist zum einen die Trägheit der Akteure, die oft vor allem nationale Netzwerke haben, die nationalen Strukturen ihres jeweiligen Landes besser kennen und im Zweifelsfall auch lieber in ihrer nationalen Sprache sprechen als in der englischen Lingua Franca; kurz: das „verbandsalltägliche Kleinklein“, das du ansprichst. Allerdings habe ich die Hoffnung, dass dieses Problem zu einem guten Teil eine Generationenfrage ist, die sich im Lauf der Zeit auswachsen wird.

    Gravierender scheint mir deshalb der zweite Faktor: dass es zur Beeinflussung europäischer Politik oft immer noch der einfachste Weg ist, über die nationale Regierung zu gehen. Ursprünglich lag den Verträgen der Gedanke zugrunde, dass die Europäische Kommission der europäische Agendasetter sein sollte, von dem die wichtigsten Politikinitiativen ausgehen. De facto hat aber zunehmend der Europäische Rat diese Rolle übernommen, während die Kommission oft nur die formalen Gesetzgebungsvorschläge ausarbeitet. Wenn ein Deutscher sich für eine europäische Digitalcharta einsetzen möchte, ist es also durchaus plausibel, vor allem die nationale deutsche Öffentlichkeit zu mobilisieren, um so die nationale deutsche Bundesregierung dazu zu bringen, dass sie das Thema im Europäischen Rat einbringt. Zivilgesellschaftliche Unterstützung aus anderen Ländern ist dafür natürlich nur zuträglich, aber oft nicht entscheidend - und den Akteuren deshalb oft nicht die Mühe wert.

    Damit sich das ändert, genügt es nicht, nur an die Zivilgesellschaft zu appellieren. Vielmehr müsste man die institutionellen Strukturen reformieren: den Einfluss der nationalen Regierungen und Parlamente auf die europäische Politik reduzieren und stattdessen die supranationalen Organe - Kommission und Europäisches Parlament - aufwerten. Gut also, dass es einen Verband gibt, der sich für diese Reformen stark macht: die Europa-Union Deutschland! (Ups.)

  • Am 3. Januar 2017 um 16:17, von  Manuel Müller Als Antwort Schon Digitalcharta.EU oder noch Digitalcharta.DE?

    Danke für den Artikel, der ein wichtiges Thema anspricht - und danke auch für den Link ;-)

    Mir scheint die Situation allerdings nicht ganz so fatal, wie du das in den letzten Absätzen andeutest. Tatsächlich existieren inzwischen doch schon sehr viele europäische Dachverbände: Es gibt die europäischen Parteien und ihre Stiftungen (für einen Überblick siehe hier, die der Sozialdemokraten heißt FEPS), es gibt europäische Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände, europäische Interessenverbände für alles Mögliche und sogar Zeitungskooperationen wie das „Europa-Team“ oder LENA.

    Das entscheidende Problem ist also nicht, dass es die europäischen Strukturen nicht existieren würden, sondern dass man sie zu wenig nutzt. Die Digitalcharta ist dafür sicher ein gutes Beispiel. Am Ende gibt es dafür in meinen Augen vor allem zwei Gründe. Da ist zum einen die Trägheit der Akteure, die oft vor allem nationale Netzwerke haben, die nationalen Strukturen besser kennen und im Zweifelsfall auch lieber in ihrer nationalen Sprache sprechen als in der englischen Lingua Franca; kurz: das „verbandsalltägliche Kleinklein“, das du ansprichst. Allerdings habe ich die Hoffnung, dass dieses Problem zu einem guten Teil eine Generationenfrage ist, die sich im Lauf der Zeit auswachsen wird.

    Gravierender scheint mir deshalb der zweite Faktor: dass es zur Beeinflussung europäischer Politik oft immer noch der einfachste Weg ist, über die nationale Regierung zu gehen. Ursprünglich lag den Verträgen der Gedanke zugrunde, dass die Europäische Kommission der europäische Agendasetter sein sollte, von dem die wichtigsten Politikinitiativen ausgehen. De facto hat aber zunehmend der Europäische Rat diese Rolle übernommen, während die Kommission oft nur die formalen Gesetzgebungsvorschläge ausarbeitet. Wenn ein Deutscher sich für eine europäische Digitalcharta einsetzen möchte, ist es also durchaus plausibel, vor allem die nationale deutsche Öffentlichkeit zu mobilisieren, um so die nationale deutsche Bundesregierung dazu zu bringen, dass sie das Thema im Europäischen Rat einbringt. Zivilgesellschaftliche Unterstützung aus anderen Ländern ist dafür natürlich nur zuträglich, aber oft nicht entscheidend, und den Akteuren deshalb oft nicht die Mühe wert.

    Damit sich das ändert, genügt es nicht, nur an die Zivilgesellschaft zu appellieren. Vielmehr müsste man die institutionellen Strukturen reformieren: den Einfluss der nationalen Regierungen und Parlamente auf die europäische Politik reduzieren und stattdessen die supranationalen Organe - Kommission und Europäisches Parlament - aufwerten. Gut also, dass es einen Verband gibt, der sich für diese Reformen stark macht: die Europa-Union Deutschland! (Ups.)

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