Festnahme von „Sea Watch 3“-Kapitänin Carola Rackete

Scheitern an der eigenen Grenze

, von  Gesine Weber

Scheitern an der eigenen Grenze
Foto: Till Westermayer (links, Flickr, CC BY-SA 2.0), geralt (rechts, Pixabay, Pixabay License), Bearbeitung: Anja Meunier

In Italien ist die Kapitänin der „Sea Watch 3“ festgenommen worden, nachdem das Schiff am Samstag im Hafen der italienischen Insel Lampedusa angelegt hat. Damit lässt Europa zu, dass die Rettung von Flüchtenden in Seenot unter Strafe steht, das Zusehen bei ihrem Sterben dagegen geräuschlos hingenommen wird. Das ist das eigentliche Verbrechen, das sich vor Lampedusa abspielt.

Wenn man sich an Straftatbeständen und ihrer Erfüllung festbeißen möchte, um die Festnahme der „Sea Watch 3“ Kapitänin Carola Rackete zu beurteilen, stellt man fest: Italien hat Recht. Die Regierung hat vor etwa zwei Wochen ein umstrittenes Sicherheitsdekret erlassen, das zivile Seenotrettung und das Anlegen der Boote in Italien mit Geflüchteten praktisch unmöglich macht. Wenn Kapitän*innen, Betreiber*innen oder Eigentümer*innen von Schiffen zur Rettung von Flüchtenden keine Genehmigung für die Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer haben und dennoch in diese einfahren, müssen sie mit bis zu 50.000 Euro Strafe, strafrechtlicher Verfolgung und der Beschlagnahmung ihrer Schiffe rechnen, weil das Anlegen mit Geflüchteten an Bord laut Sicherheitsdekret als Beihilfe zur illegalen Einwanderung gilt. Das Durchgreifen der italienischen Behörden zeigt: Carola Rackete steht nicht über dem italienischen Recht. Sie hat als Kapitänin der „Sea Watch 3“ ohne entsprechende Genehmigung den Hafen der Insel Lampedusa angefahren, an Bord des Schiffes waren 40 Migrant*innen, die zuvor aus Seenot gerettet worden waren. Damit hat sie den im Sicherheitsdekret definierten Straftatbestand erfüllt; wer das tut, muss auch damit rechnen, dass auf ihn oder sie die Folgen zukommen, die dafür festgelegt sind. Carola Rackete tat das.

Im Fall von Carola Rackete geht es nicht um eine formaljuristische Prüfung. Die Frage, die die Festnahme von Carola Rackete aufwirft, ist nicht in erster Linie eine Frage des Rechts - angesichts der politischen Linie von Innenminister Matteo Salvini und des neuen geltenden Rechts wird sich die Kapitänin der „Sea Watch 3“ einem Verfahren stellen und mit einer Verurteilung rechnen müssen. Es ist eine Frage der globalen Gerechtigkeit, von Werten und Menschlichkeit. Es geht darum, wie Europa mit Geflüchteten an seiner Grenze umgeht, und ob die EU eine Lösung findet, die das Gesicht der Menschlichkeit oder die hässliche Fratze des Rechtspopulismus offenbart. Aktuell sieht es so aus, als würde letzterer in der Frage der EU-Migrationspolitik auf dem Mittelmeer die Oberhand gewinnen.

Die tödlichste Seeroute der Welt und kaum Rettung in Sicht

Die Mittelmeerroute ist laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die tödlichste Seeroute der Welt. Auch wenn die Zahlen von Menschen, die über das Mittelmeer den Weg nach Europa suchen, seit 2016 stark zurückgegangen ist, gehen Expert*innen des UNHCR gehen davon aus, dass pro Tag sechs Menschen bei dem Versuch sterben, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren. Wer mit dieser Zahl rechnet und sie in Relation zu anderen europäischen Größenordnungen setzt, dem wird schnell klar, wie absurd die europäische Untätigkeit im Bereich der Migrationspolitik ist: 6 Tote pro Tag bedeuten 180 Tote im Monat - allein für das erste Halbjahr 2019 kommt die Zahl damit an die Bevölkerung eines mittelgroßen Dorfes heran.

Und während sich täglich wieder Menschen auf den tödlichen Weg nach Europa machen, schauen die Mitgliedstaaten der EU und die Europäischen Institutionen nicht weg, sie schauen zu. Bis 2014 hatte die italienische Marine mit ihrer Mission „Mare Nostrum“ Seenotrettung im Mittelmeer übernommen, dann wurde sie von der Frontex-Mission „Triton“ abgelöst, deren Fokus jedoch auf der Sicherung der Grenzwege und nicht auf der Rettung von Migrant*innen liegt. Grundsätzlich gilt laut dem internationalen Völkergewohnheitsrecht auf See die Pflicht zur Rettung von Menschen in Seenot - davon sind auch Schiffe, die in den Frontex-Missionen unterwegs sind, nicht ausgeschlossen. Allerdings gehörte die Seenotrettung jedoch weder zu den Aufgaben der Frontex-Mission „Triton“ noch ihrer Nachfolgemission „Themis“, und auch die EU-Mission Sophia im Mittelmeer im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits-und Verteidigungspolitik (EUNAVFOR MED Sophia) hat vorrangig die Bekämpfung von Schleppernetzwerken zum Ziel. Wenn Schlauchboote mit Migrant*innen in Seenot geraten, ist Rettung durch die EU nur dann möglich, wenn das Boot früh genug gesichtet wird - oder die zivile Seenotrettung früh genug vor Ort ist.

Die Zahlen von Geflüchteten, die sich auf den Weg über das Mittelmeer machen, sind in Brüssel und den Hauptstädten der Mitgliedstaaten bekannt. Trotzdem beschränkt sich die Politik der EU auf vorrangig sicherheitspolitische Aspekte. Was vor dem Hintergrund des wachsenden innenpolitischen Drucks durch rechtspopulistische Kräfte und auch aus sicherheitspolitischer Perspektive rational erscheinen mag, hat die Seenotrettung faktisch zur Aufgabe der Zivilgesellschaft gemacht.

Wenn Rettung unter Strafe steht

Für zivile Seenotrettung wird es allerdings zunehmend schwieriger, Menschen aus Seenot zu retten und an Land zu bringen: Bereits im vergangenen Jahr sperrten sich Italien und Malta zunehmend dagegen, Rettungsschiffen die Einfahrt in ihre Hoheitsgewässer zu gewähren - sie stimmten einer Aufnahme erst zu, nachdem sich mehrere EU-Mitgliedstaaten dazu bereiterklärt hatten, die Menschen an Bord aufzunehmen. Gerade in Italien hat sich dieses Verfahren als gängige Praxis etabliert: Innenminister Salvini lässt Schiffe grundsätzlich erst dann in italienischen Häfen anlegen, wenn er von seinen Kolleg*innen Zusagen erhalten hat, dass die Geflüchteten nicht in Italien bleiben werden. Die anderen EU-Mitgliedstaaten standen damit in Zugzwang: Oftmals mussten die Rettungsschiffe tagelang unter schwierigen Bedingungen vor der italienischen Küste ausharren; die Entscheidung gegen die Aufnahme der Geflüchteten wäre für Mitgliedstaaten wie Deutschland oder Frankreich wohl mit größeren politischen Kosten verbunden gewesen als die Unterbringung einer nur zweistelligen Zahl von Menschen.

Das neue Sicherheitsdekret in Italien hat diese Praxis noch einmal verschärft; Rettung von Menschen auf See und das An-Land-Bringen der Geflüchteten ohne eine Genehmigung stehen nun unter Strafe. Das macht den Raum für zivile Seenotrettung enger und das Mittelmeer für Migrant*innen tödlicher. Und es gibt Menschen wie Carola Rackete, die Humanität und die Rettung von Menschenleben über ein Sicherheitsdekret stellen.

Die EU kann ihr Gesicht bewahren - auch gegen Gegenwind

In einem Interview mit Spiegel Online sagte Carola Rackete: „Wenn uns nicht die Gerichte freisprechen, dann die Geschichtsbücher.“ Ob Italiens Gerichte Carola Rackete freisprechen, ist sehr fraglich - sicher ist aber, dass Carola Rackete auf derjenigen Seite der Geschichte stehen wird, die für das steht, wozu sich die EU in ihren Verträgen verpflichtet hat. In Artikel 2 des Lissabon-Vertrags heißt es: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demo­kratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Dass eine Europäische Union, die sich auf diesen Werten gegründet hat, keine Lösung findet für den Umgang mit Migrant*innen im Mittelmeer, ist ein Armutszeugnis.

Der Fall von Carola Rackete muss ein Weckruf sein für die Europäische Union und ihre Staats-und Regierungschef*innen. Es braucht eine gemeinsame europäische Migrationspolitik, die feste Mechanismen für die Verteilung von über das Mittelmeer ankommenden Menschen hat und die Mittelmeeranrainerstaaten nicht alleine lässt, die aber vor allem auch legale Fluchtwege schafft, damit Menschen gar nicht erst den Weg über das Mittelmeer antreten. Dazu gehört auch eine kohärente europäische Außen-und Entwicklungspolitik, die die Lebensbedingungen von Menschen in Fluchtländern verbessert und zur Entschärfung von Konflikten beitragen kann, um letztendlich die Gründe von Flucht einzudämmen. All diese Ansätze sind nicht neu, aber mit der Festnahme von Carola Rackete hält Italien allen anderen EU-Mitgliedstaaten den Spiegel vor: Ob sie das europäische Gesicht der Humanität zeigen oder die Fratze des Rechtspopulismus gewinnen lassen, wird dieser Spiegel in den nächsten Tagen zeigen. Bis dahin liegt es an den Staats-und Regierungschef*innen, schon jetzt konkrete informelle Mechanismen auszuarbeiten, wie mit aus Seenot geretteten Menschen umgegangen werden soll. Eine Option wäre ein Verteilungsschlüssel, der diese Menschen auf Staaten aufteilt, die einer „Koalition der Willigen“ angehören. Innenpolitisch müsste eine solche Entscheidung vor allem gegen rechte Kräfte verteidigt werden - aber dieser Aufgabe dürften Staats-und Regierungschefs wie Angela Merkel oder Emmanuel Macron gewachsen sein, auch wenn sie damit rechnen müssten, an Zustimmung zu verlieren. Allerdings sind es nur die Mitgliedstaaten, die in schwierigen Themen wie der Migrationspolitik tatsächlich Impulse setzen können; es liegt in ihrer Hand, ob die EU an ihrer Grenze ihre Werte verrät oder vertritt. Für letzteres liegen in Brüssel zur Genüge Ideen auf den Tisch, die Initiative muss nun aus Paris, Berlin und Madrid kommen.

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