Europas Friede unter Beschuss
Der Friede in Europa ist in Gefahr. Nein, mehr noch. Es ist Krieg in Europa. Rund fünfzig Tote hat der Krieg im Donbass allein in diesem erst sieben Tage jungen Monat gefordert. Nur weil die Leitmedien den Fokus auf Interessanteres geworfen haben, endet das Sterben in der Ostukraine nicht. Ein Krieg wie der im Donbass, wo alle beteiligten Akteure glauben im Recht zu sein, ist kein Einzelfall. Das zeigte der russisch-georgische Krieg 2008. Russland und die EU sind in die europäischen Konflikte der letzten Jahre direkt oder indirekt involviert. Will man den Krieg aus Europa vertreiben, muss man den beiden Bevölkerungen klarmachen, dass sie gleiche Interessen haben. Frieden, Freiheit, Wohlstand. Aktuell glauben beide das Gute gegen das Böse zu verteidigen. Frieden wollen Völker auf beiden Seiten. Schafft man es den Beteiligten zu vermitteln, dass eben niemand Krieg oder Expansion anstrebt, wäre Friede möglich.
Eine närrische Analogie
Die Europäische Union hat die Staaten des westlichen Europas, quasi seit Anbeginn der Zeit zerstritten, seit nun fast 65 Jahren befriedet. Frankreich und Deutschland wurden noch im 19. Jahrhundert zu Erzfeinden stilisiert. Eine Wirtschafts- und Werteunion galt als ausgeschlossen. Vermutlich wurden Journalisten mit der Idee einer Union von Deutschland und Frankreich noch bis 1945 Narren geheißen. Unvorstellbar. Realitätsfern. Ohne jede Vernunft. Nun bilden die beiden Länder das Herz Europas. Ein Krieg gilt heute schon der wirtschaftlichen Verflechtung wegen als unmöglich. Man könnte es als das Wunder der europäischen Geschichte bezeichnen. Mehr als Magie spielte jedoch der politische Wille eine Rolle.
Hier möchte ich eine Analogie aufzeigen. Wieso ist es eigentlich ausgeschlossen, dass Russland und die heutigen EU-Staaten nicht den gleichen Weg gehen? Die Parallelen sind bezeichnend. Allein der politische Wille fehlt. Es wäre die Aufgabe der Sozialdemokraten und Christdemokraten in Europa, die Aufgabe der Merkels und Hollandes diese Idee in die politische Diskussion einzuführen. Wie einst ein Adenauer und ein Schumann dies mutig im Falle Deutschlands und Frankreichs zu tun wussten.
Warum ein Russland in der EU nicht ausgeschlossen ist
Natürlich wird es mit Wladimir Putin keinen Russlandbeitritt zur Union geben. Aber allein das Angebot auf ein Mehr an Frieden, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstand durch einen EU-Beitritt dürfte die Putin-Liebe bei so manchem Russen auf den Prüfstand stellen. Tatsächlich ist die Aussicht auf eine wirtschaftlich bessere Situation für die meisten Wähler wahlentscheidend. Und was wäre es da für ein Signal, wenn ein Präsident Juncker wiederholt den Beitritt Russlands zur EU begrüßen würde, zumal die EU in vielen russischen Mainstreammedien als anti-russische Institution dargestellt wird? Dass ein Sinneswandel in der Bevölkerung durch die Aussicht auf einen EU-Beitritt auch politische Auswirkungen hat, muss heute nicht mehr bewiesen werden. Der Fall Kiew ist uns allen eindrucksvoll in Erinnerung. Ich appelliere dafür, dass die EU-Führung wieder und wieder den Wunsch äußert, Russland einmal als Teil der EU zu sehen. Bisher hat das noch niemand getan.
Die von Putinisten wahrgenommene und über die Massenmedien verbreitete militärisch-imperialistische Gefahr, die die EU auf Russland darstellt wäre im Falle von Beitrittsverhandlungen oder gar eines Beitritts vollkommen hinfällig. Putins Hauptargument für militärische Interventionen in Nachbarländern bräche in sich zusammen.
Ich will nicht, dass Russland augenblicklich der EU beitritt. Wie jedes Land müsste es die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Pressefreiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit. Das russische Volk müsste mittels Volksentscheid hinter den zu treffenden Entscheidungen stehen. Dass dies alles noch nicht gegeben ist, liegt auf der Hand. Aber Staaten wie Spanien, Ukraine oder auch Deutschland sowie Österreich haben eindrucksvoll bewiesen, dass die Aussicht auf einen Platz im europäischen Haus politische Radikalveränderungen bewirken.
Wirtschaftlich würden beide Seiten enorm profitieren. Nie wieder Sorge um Gas, nie wieder Sorge um Sanktionen auf beiden Seiten. Schon 2008 gingen 52 Prozent der russischen Exporte in die EU. Vielleicht bewegt die Aussicht auf Prosperität auch die russische Elite zu einem Sinneswandel.
Die Diskussion um eine russische Dominanz in einer EU mit Russland halte ich für enorm übertrieben. Auf einen Russen kämen politisch immerhin noch 5 „Europäer“. Wer bei diesem Zahlenverhältnis behauptet, es gebe in diesem Fall eine russische Dominanz, muss heute schon von einer deutsch-italienischen Dominanz der EU sprechen. Offensichtlich eine Lächerlichkeit.
Auch die Grundsatzfrage, wo Europa endet, sollte hier nicht gestellt werden. Wenn sich die Russen irgendwann per Volksentscheid für den Beitritt und damit für die europäischen Werte aussprechen, sollte diesem seit Jahrhunderten in Europa verwurzelten Volk nicht die europäische Seele absprechen.
Politische Visionen für Frieden in Europa
„In Europa gibt es keinen Krieg mehr. Unsere Generation hat echtes Glück.“, wurde mir als Kind oft gesagt. Ich fand das toll. Heute will ich daran arbeiten, dass das auch wirklich so wird. Jenseits des Europas dieser Menschen, die diesen Satz sagten, gibt es heute noch Krieg und es besteht Kriegspotenzial. Es braucht neue Ideen dazu, dieses Potenzial ein für alle Mal zu tilgen. Politische Visionen. Dazu soll diese Abhandlung ein Anstoß sein.
Ohne Frage: Bis zu einem befriedeten Europa ist es noch ein extrem langer und schwieriger Weg. Doch irgendwann muss der erste Schritt auf diesem Weg beschritten werden. Putin lebt nicht ewig. Gute Ideen brauchen Vorlauf, zumal Ideen ohne Vorlauf in der Politik keine guten sind. Und auch unkonventionelle Ideen dürfen nicht aus Angst nicht ausgesprochen werden. Schließlich bedeutet die schlichte Frage nach Krieg oder Frieden letztlich Menschenleben. Und da sollte kein Gedanke gescheut werden, diesen zu verhindern. Daher rufe ich die politischen Eliten der EU dazu auf, wieder und wieder Russland den Beitritt zur EU anzubieten, um so die russische Sicht der Bevölkerung auf die EU Stück für Stück zu verändern.
1. Am 7. Juni 2015 um 18:17, von Ludger Wortmann Als Antwort Russland in die EU!
Lieber Tobias!
„Unvorstellbar, realitätsfern, ohne jede Vernunft“. Im Moment ist deine Idee genau das. Auch wenn sie es nicht für immer bleiben muss, ist sie, so meine ich, keine Lösung für die gegenwärtigen Problem.
Russland ist kulturell sicherlich ein europäisches Land, in jedem Fall viel europäischer als die Türkei, und der gegenwärtige Konflikt mit Russland schadet allen; soweit, so gut. Deine Parallele zwischen der Integration von Deutschland und Frankreich auf der einen Seite und jener der EU und Russlands auf der anderen geht leider fehl. Als Deutschland und Frankreich sich integrierten, war Deutschland eine Demokratie, als besetztes und demilitarisiertes Land nicht mehr gefährlich und hatte keinerlei imperialistischen Ambitionen mehr. Russland aber ist eine nationalistische Diktatur, militärisch sowohl hochgerüstet als auch weiter hochrüstend und außerdem imperialistisch.
Das Problem der potenziellen russischen Dominanz ist außerdem auch kein kleines. Wenn man sich ansieht, wie zerstritten die EU oft ist, stünde nicht ein großes Russland einer gigantischen Rest-EU gegenüber, sondern sechs mittelgroßen und zweiungzwanzig kleinen Staaten. Und das wäre in der Tat ein Problem. Du hast es als lächerlich bezeichnet, von einer deutsch-italienischen Dominanz in der EU zu sprechen. Leider ist einer der Hauptgründe für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien in Europa die wahrgenommene oder echte Dominanz Deutschlands. Deutschland ist eigentlich schon zu groß, wie soll es dann erst mit Russland werden, das alle mittels des Gashahns erpressen kann?
Fortsetzung folgt
2. Am 7. Juni 2015 um 18:21, von Ludger Wortmann Als Antwort Russland in die EU!
Fortsetzung
Das Problem der Dominanz eines Staates hätte sich in einer föderalen EU natürlich erledigt. Man kann ja nicht behaupten, dass Deutschland von Nordrhein-Westfalen, Kanada von Ontario oder Indien von Uttar Pradesh untergebuttert würde.
Damit Russland also der EU beitreten könnte, müsste 1) die EU ein Bundesstaat geworden sein (oder wenigstens ein Teil von ihr) 2) Russland demokratisch geworden sein 3) Russland seinen aggressiven Nationalismus ablegen
Gerade im Bezug auf meinen letzten Punkt habe ich ganz große Bedenken. Man sieht die postimperialen Phantomschmerzen eines so demokratischen Landes wie Großbritannien, die es fürchten lassen, keine Weltrolle mehr zu spielen. In Russland ist der Narrativ aber zurzeit, dass Russland eine eigenständige (nicht-westliche) Zivilisation sei, der eine Rolle als Weltmacht zustehe. Da wird sich Russland kaum zur Provinz einer EU machen lassen. Würde man Russland gegenwärtig die EU-Mitgliedsschaft anbieten, bekäme man wahrscheinlich die Antwort: „Also wenn hier irgendwas Mitglied von was wird, dann werden andere Länder Mitglied von Russland.“
Vielleicht kriegen wir aber auch den europäischen Bundesstaat mit einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten hin und hätten dann die Vereinigten Staaten von Europa als riesigen Akteur mit einer Reihe assozierter Staaten, zu denen vielleicht auch Großbritannien und andere englischsprachige Länder gehören würden. Dann könnte ein demokratisches, nichtaggressives Russland auch ein solcher werden und brauchte keine Angst zu haben, verschlungen zu werden.
Diese Vision liegt jedoch noch in sehr weiter Ferne.
Viele Grüße
Ludger
3. Am 8. Juni 2015 um 06:50, von Rene Marquardt Als Antwort Russland in die EU!
Vielen Dank, Tobias, für diese mutige Zukunftsvision. Ein spannender Gedanke, der es wert ist, ihn nach vorne zu denken, bei all den Einschränkungen, die du richtigerweise erwähnst.
4. Am 10. Juni 2015 um 21:54, von Moritz Als Antwort Russland in die EU!
Die Version eines geeinten europäischen Kontinents, mit einer Volkswirtschaft von Lissabon bis Wladiwostok ist ja eigentlich schon eine ältere Idee. Auch die Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU besteht seit Anfang der 90er und hat in den ersten Jahren unter Putin sogar ihren Höhepunkt erreicht. Von der aktuellen Krise hätte 2012 noch niemand zu träumen gewagt. Sicherlich, schon damals gab es in Russland autoritäre Tendenzen (das Wort „Diktatur“ halte ich an dieser Stelle pol. betrachtet für unangemessen). Und es bleibt auch nicht von der Hand zu weisen, dass Russland nach wie vor ein Land mit einer ausgeprägten eigenständigen Kulturvorstellung ist, die teilweise von dem was wir als „europäisch“ betrachten, abweicht. Trotzdem sollte man im Kopf behalten, dass die Russische Föderation (sogar unter Putin) Anfang der 2000er großes Interesse an einer verstärkten Integration in den westeuropäischen Raum gezeigt hat und auch zu Anpassungen bereit war (Bsp. Bildungsreform in Russland). Gleichzeitig haben wirtschaftlich betrachtet beide Seiten in den letzten Jahren enorm von der Zusammenarbeit profitiert. Was schließlich den Kern der Debatte angeht, Russlands angebliches neo-imperialistisches Gebaren rund um Georgien und die Ukraine so halte ich den Ausdruck Imperialismus hierbei für völlig fehl am Platze. Dieser Kommentar bietet nicht genug Platz um beide Krisen Osteuropas eines genaueren Blickes zu unterziehen, aber in Georgien hat Russland auf eine Aggression Sakaaschwilis gegen Südossetien reagiert (wenn auch ein Stück weit unangemessen). Von einer Eingliederung der beiden Provinzen Südossetien und Abchasien in die russ. Föderation ist nirgendwo die Rede. Was die Ukraine angeht bleibt die Krim ein Sonderfall, bei dem sich Russland eines Völkerrechtsbruch schuldig gemacht hat. Ohne diesen Bruch relativieren zu wollen, hätte 2012 niemand davon geträumt, das russ. Soldaten auf der Krim einmarschieren - die Annexion ist also direkt mit dem pol. Umbruch in der Ukraine zu verbinden. Ergo kann man bei Russland nicht simplifizierend von einer „Neo-Imperalistischen“ Handlungsdoktrin ausgehen - das würde nicht den tatsächlichen Tatsachen entsprechen. Deshalb glaube ich nicht, dass in Russland ein Beitritt der EU zu Russland populär wäre. Viel realistischer ist, dass es sich um den aktuellen Diskurs der russ. Eliten handelt, die in der Identitätssuche des großen Landes jetzt einen Weg abseits der europäischen Werte suchen. Nach wie vor besteht hier allerdings eine Diskrepanz zur Vorstellung des russ. Volkes, das sich durchaus eine Annäherung an Europa wünscht. Inwieweit die Vorgänge um die Krise in der Ukraine diese Vorstellungen jedoch verzerrt haben, bleibt abzuwarten. Sicherlich werden uns die aktuellen Ereignisse mehrere Jahre intensiver Arbeit an der russ.-europ. Freundschaft kosten.
5. Am 10. Juni 2015 um 21:55, von Moritz Als Antwort Russland in die EU!
Trotzdem bleibt die Vision eines geeinten Europas von Portugal bis Kamschatka kein Tagtraum, sondern ein politisches Ziel, das schrittweise erreicht werden kann. Ein aktuelles Beitrittsangebot erscheint mir dabei zwar zu weit gegriffen, weil es Verständnis für die russ. Aggression in der Ostukraine suggerieren würde. Aber auf die Befriedung im Osten Europas folgende Kooperationsangebote und ein Wiederbeleben einer gemeinsamen Sicherheitsstruktur, wie der OSZE z.B., wären ein erster Schritt. Russland ist in seiner Geschichte und Kultur immer Teil Europas gewesen. Ob es auch politisch wieder Teil Europas werden wird, liegt sicherlich zu guten Stücken in den Händen unserer Generation.
6. Am 12. Juni 2015 um 16:14, von duodecim stellae Als Antwort Russland in die EU!
Die Idee Russland in „westliche Strukturen“ einzubinden ist gut, nur hat man im Artikel die falsche Struktur gewählt. Russland hat in den nächsten 100 Jahren in der Europäischen Union nichts zu suchen. Auch sollten wir uns in der Union im Moment mehr darum kümmern sie zu vertiefen anstatt sie zu erweitern. Ich denke es war ein Fehler 2004 all die neuen Staaten aufzunehmen ohne vorher eine weitere Vertiefung angestrebt zu haben. Insbesondere im postkommunistischen „Ost“-Europa sind in den immernoch sehr national homogenen Bevölkerungen nationalistische Denkweisen stark verwurzelt, die einer vertieften Integration entgegen stehen.
Wenn man die Geschichte der Europäischen Einigung studiert kann man nicht leugnen, dass sie durch eine französisch-deutsche Domminaz geprägt war. Auch wenn man das Wort Dominaz vermeidet und lieber von „Tandem“ oder „Motor“ spricht (Italien ist hinter GB das 4. größte Land). Ludger hat Recht, wenn er meint das ein föderales Europa viele Probleme die eine russische Unionsmitgliedschaft produzieren würde abschwächen könnte. Russland wäre es aber aufgrund der nationalen Mentalität unmöglich sich irgendeiner supranationalen Ebene unterzuordnen. Überhaupt werden wir ein wahrhaft föderales Europa der Regionen erst haben, wenn es die großen Nationalstaaten wie Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien nicht mehr gibt, die zwangläufig aufgrund ihrer Machtposition immer in eine Konkurenz zu einer zentralen Europaregierung stehen werden. Kleinere Staaten wie Belgien, Österreich oder Slowakei entwickeln einfach nicht die Ambitionen und lassen sich so besser in ein föderales Netz integrieren. Und eine Zerlegung dieser Nationen wird nur sehr langfristig über Regionalismus und Separatismus funktionieren (Beispiele: Schottland, Katalonien, Venezien). Solche Prozesse benötigen Zeit.
Mein Vorschlag wäre viel eher eine NATO-Mitgliedschaft Russlands. Wahrscheinlich genauso unrealisierbar Aufgrund der Vetos einiger Staaten, brächte so eine Mitgliedschaft mehr Kooperation und könnte helfen Spannungen abzubauen. Außerdem würden wir Europäer strategisch davon Profitieren, weil wir nun eine Nato mit zwei Polen hätten (USA und Russische Föderation), zwischen denen wir besser als Vermittler auftreten könnten. So würde die Nato als Friedenssicherungsbündnis auch mehr Sinn machen. Heute erzeugt sie ja im Hinblick auf Russland eher Spannungen.
7. Am 12. Juni 2015 um 23:51, von Ludger Wortmann Als Antwort Russland in die EU!
Liebe Duodecim Stellae,
(ich werde euch jetzt mal nicht ihrzen, obwohl ihr Mehrzahl seid) eine NATO-Mitgliedschaft Russlands, wie sie ja auch schon mal angeboten wurde, scheint mir ein sinnvoller Vorschlag zu sein. Natürlich müsste dafür der Grenzkonflikt mit der Ukraine zunächst beendet werden, weil ein NATO-Beitritt sonst illegal wäre, aber danach könnte eine solche Mitgliedschaft Russlands und der Ukraine die Spannungen in Schach halten, wie es ja auch zwischen den Nachbarn funktioniert, für die die Ägäis der Gartenzaun ist.
Warum sollte man die Nationalstaaten zerstören? Sie funktionieren doch sehr gut, sie fühlen sich zusammengehörig und die Leute bekommen Angst, wenn sie das von uns Föderalisten als notwendig präsentiert bekommen. Wenn ein Staat sich teilen will, darf er das gerne, aber notwendig ist es nicht. Nordrhein-Westfalen ist innerhalb Deutschlands von seiner Bevölkerungszahl relativ genau mit Deutschland innerhalb der EU zu vergleichen. Dennoch dominiert NRW unser Land nicht, weil die föderale Verfassung das verhindert. Auch das viel dezentraler organisierte Kanada wird von Ontario nicht regiert. Große Nationalstaaten sind nur ein Problem, solange Mitgliedsstaaten und Europaebene so stark verwoben sind. Wenn Europa sein Ding macht und die Mitgliedsstaaten ihrs, gibt es kein Problem mehr. Deutschland und Frankreich werden die größten Nationen Europas bleiben, aber sie müssen nicht mehr führen. Das tun dann die Gremien, die allen Europäern gegenüber verpflichtet sind.
Viele Grüße
Ludger
8. Am 13. Juni 2015 um 16:13, von duodecim stellae Als Antwort Russland in die EU!
Hallo Ludger (hast du mich gerade mit „Liebe Sterne“ angesprochen? - klingt iwie bizarr. :) )
Ich hab da wohl was angeschnitten, was ich doch intensiver ausführen muß. Du hast recht, dass es unklug wäre, wenn die JEF oder Europaunion jetzt rumlaufen und die Zerlegung Deutschlands proklamieren würde. Ich selbst bin weder bei den einen noch bei den anderen Mitglied und äußere mich als Privatperson.
Ich meinte nicht dass man Nationalstaaten allgemein zerlegen muß. Die meisten Staaten in Europa haben eine optimale Größe. Aber die Größen von Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, teilweise auch Spanien und Polen sind wenig praktikabel für die veränderte geopolitische Situation. Wenn man das Subsidaritätsprinzip konsequent anwenden würde hätten diese Großstaatsstrukturen eigentlich keine Existenzberechtigung. Sie sind zu klein um als Global Player agieren zu können, aber zu groß um Brüssel als übergeordneten Vertreter für ihre geoploitischen Interessen zu respektieren. Außerdem schaffen sie intern eine größere Distanz zum Bürger und schmälern seine demokratischen Einflussnahmemöglichkeiten (aus rein mathematischen Gründen).
Natürlich spielt bei meiner Meinung auch die persönliche Biografie und Empfindung eine Rolle. Ich als Süddeutscher konnte mich nie mit der Mentalität im Norden oder Osten Deutschlands identifizieren (besonders Berlin wo ich lange Zeit lebte). Diese Empfindungen plus die Entwicklungen in der Eurokrise haben bei mir persöhnlich bewirkt, dass ich mich von meiner deutschen Identität entfremdet habe und heute Probleme habe etwas positives mit dem Begriff „deutsch“ zu verbinden. Ich sehe mich heute primär als Badener und Europäer und dementsprechend sind solche Überlegungen für mich kein Tabu. Ich sehe die schottischen und katalanischen Unabhängigkeitsbewegungen in einem positiven Licht, zumal es sich um klar proeuropäische Strömungen handelt. Niemand im UK ist so aufgeschlossen der Europäischen Idee gegenüber wie die SNP.
Ob so etwas in Deutschland möglich wäre, da bin ich skeptisch, wenn es nicht mal in Bayern Parteien gibt, die sich für mehr Autonomie einsetzen. Dennoch denke ich, dass es für alle besser wäre, wenn zum Beispiel Baden-Württemberg und Bayern eigenständige Bundesländer innerhalb eines Europäischen Verbundes wären. Berlin wäre nicht so übermächtig und man könnte eine Politik näher am Bürger machen.
9. Am 13. Juni 2015 um 16:27, von duodecim stellae Als Antwort Russland in die EU!
In Italien war der Regionalismus seit der Staatsgründung niemals wirklich tot zu kriegen und auch in Frankreich sind mehr und mehr Menschen unzufrieden mit den Problemen die der Pariser Zentralismus produziert und es entsteht eine Sehnsucht nach mehr Regionalität. Woher der Wunsch in Deutschland nach nationalem Gleichschritt Zentralismus und Gleichklang kommt, kann ich sowieso nicht nachvollziehen. Nehmen wir zum Beispiel die Deutsche Wiedervereinigung, die uns immer als großes Geschenk präsentiert wird. Wie wäre denn die Situation wenn sie nicht staatgefunden hätte? Wir hätten weiterhin eine BRD und eine DDR beide innerhalb der Eurozone, beide im Schengenraum - gleiche Währung, keine Grenzkontrollen, Arbeitnehmerfreizügigkeit etc. Ich kann wirklich keinen Mehrwert darin erkennen das ein intransparenter Machtmoloch in Berlin entstanden ist. Eine Bonner bzw. Ostberliner Regierung hätte auch eine Politik machen können die besser für die lokale Bevölkerung zugeschnitten gewesen wäre als eine gesamtdeutsche, insbesondere im Hinblick auf die extrem unterschiedliche Arbeitsmarktsituation in West und Ost. Vielleicht ginge es den Menschen heute in allen Landesteilen wesentlich besser ohne Widervereinigung? Das ist natürlich Spekulation, aber zu behaupten die Wiedervereinigung sei ein großes Glück gewesen ist genauso spekulativ. Außerdem hätte eine Wiedervereinigung durch die EU-Mitgliedschaft der DDR, wenn man so will, die EU in den Augen der Menschen die nationalistischer ticken aufgewertet.
Und ob ein föderales Europa mit einer primär nationalistisch fokusierten Bevölkerung überhaupt funktionieren kann wage ich sowieso zu bezweifeln. In der Schweiz zum Beispiel sind auch nicht alle Deutschschweizer in einem Kanton vereint und es existieren dort kaum Zersetzungserscheinungen wie zum Beispiel in Belgien, wo die Nationalitäten in eigenen Bundesländern organisiert sind.
10. Am 14. Juni 2015 um 10:01, von Ludger Wortmann Als Antwort Russland in die EU!
Liebe Duodecim Stellae,
wenn du kein JEF-Mitglied bist, wirds aber Zeit. :-)
Wie gesagt, durch Föderalismus kann man verhindern, dass diese Großstaaten ein Problem für das Funktionieren des Ganzen sind. Sind sie ja in existierenden Föderationen wie Deutschland, Kanada oder Australien auch nicht.
Was die interne Distanz angeht, so hast du sicher Recht. Dieses Problem könnte man allerdings auf ähnliche Weise lösen wie die früher sehr zentralistischen Briten das mit ihrer Devolution gemacht haben: Man gibt regionalen Einheiten mehr Befugnisse. Ich finde zum Beispiel, dass man in Deutschland kein bundesweites Mietrecht, Gaststättenrecht, Strafrecht oder Grundstücksrecht braucht.
Die kulturellen Unterschiede innerhalb Deutschlands sind spürbar, das stimmt schon. Für mich ist es aber kein Problem, mich sowohl als Norddeutscher (oder Westfale, das ist bei mir nicht so ganz klar) wie auch als Deutscher an sich zu fühlen (und natürlich auch als Europäer). Wobei ich sagen muss, dass es schon eine witzige Vorstellung wäre, wenn sich das NDR-Sendegebiet abspalten würde und eine Art „Hanseland“ mit Hauptstadt Hamburg, Amtssprache Plattdeutsch und besten Beziehungen ins Baltikum gründen würde. Für eine ernsthaft politische Möglichkeit halte ich das indes nicht. Wenn Bayern und Baden-Württemberg sich abspalten wollen, würde ich sie nicht aufhalten, aber ich glaube nicht, dass man dafür genug Unterstützung bekommen würde.
Stellen wir uns einmal vor, West- und Ostdeutschland wären nicht wiedervereinigt worden. Wir hätten dann ein viel ärmeres Ostdeutschland gehabt, etwa vergleichbar mit Polen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass den Ostdeutschen das zugesagt hätte. Da es von Osten nach Westen keine Sprachbarriere gibt, wären innerhalb kürzester Zeit noch viel mehr Ostdeutsche in den Westen gegangen, als es sowieso schon getan haben. Ostdeutschland hätte niemals einen Aufschwung wie Polen hinbekommen (das nebenbei bemerkt noch immer viel ärmer ist als Deutschland), weil ihm einfach die Leute gefehlt hätten.
Dein (ach, jetzt halte ich den Plural doch nicht durch) letzter Punkt bringt mich in der Tat zum Nachdenken. Vielleicht ist es so (obwohl es auch genug euroskeptische Österreicher gibt, von denen man ja nicht behaupten kann, sie wären eine sprachlich definierte Nation), dass die Nationen ein Problem sind, aber ich sehe daraus keinen Ausweg. „Hallo, Leute! Wir wollten ihr Land mal eben zerlegen, damit wir die Vereinigten Staaten von Europa gründen können, die sie nicht wollen.“ Und dann soll das besser funktionieren? Weiß ich nicht.
Ich glaube, wir müssen nehmen, was da ist. Wenn das zum Zerfall einiger Nationalstaaten führt, dann ist es so, aber wir sollten das nicht voraussetzen.
Viele Grüße Ludger
11. Am 13. Februar 2022 um 10:55, von Axel B. Als Antwort Russland in die EU!
Nachdem das vereinigte Königreich sich von der EU verabschiedet hat, wäre es vielleicht an der Zeit mal über die Rückführung der EU in das ursprüngliche Konstrukt, nämlich die EWG (die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft), Gedanken zu machen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand seine Herkunft freiwillig aufgeben möchte, jedoch durchaus einen wirtschaftlichen Austausch mit seinen Nachbarländern anstrebt.
Putin hatte das aber bei seiner in deutscher Sprache gehaltenen Rede vor dem bundesdeutschen Parlament bereits nach der Wende deutlich angeboten. Es ist also nicht so, dass Russland zu unterstellen ist sich die EU-Staaten einverleiben zu wollen.
Persönlich würde ich eine Wirtschaftsgemeinschaft mit Russland befürworten, so wie es der Autor ja offensichtlich auch vorschlägt. Ob das durch eine Aufnahme Russlands in die EU geschehen muß, sei mal dahin gestellt.
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