Russland: Erinnerung und Kampf um Geschichte

, von  Lukas Baake

Russland: Erinnerung und Kampf um Geschichte

Das Gedenken an das Ende des zweiten Weltkriegs fällt in Russland auf den 09. Mai und wird traditionell mit einer großen Militärparade auf dem roten Platz begangen. Dabei ist der „Tag des Sieges“ ein wichtiger Bestandteil der russischen Identität und fest eingebettet in die staatliche Erinnerungs- und Geschichtspolitik, die insbesondere in diesem Jahr im Vorfeld des Jubiläums für Konflikte zwischen Russland und anderen europäischen Ländern geführt hat.

Während in weiten Teilen Europas dem Ende des zweiten Weltkriegs am 8. Mai gedacht wird, steht in Russland der 9. Mai im Zentrum der Erinnerung an den zweiten Weltkrieg. Die Kapitulation von deutscher Seite wurde zwar auch am 08. Mai 1945 im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst unterschrieben, allerdings erreichten diese Neuigkeiten Moskau erst am Folgetag. Der als „Tag des Sieges“ bezeichnete Feiertag ist seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der russischen Erinnerungspolitik und von großer Bedeutung für die kollektive Identität des Landes. Dabei ist der sowjetische Sieg im „großen vaterländischen Krieg“ auch heutzutage noch ein wichtiger Bezugspunkt für die Bevölkerung, auch für die Jugend. Mittelpunkt des staatlich organisierten Gedenkens bildet nach wie vor die große Militärparade auf dem roten Platz in Moskau, allerdings gibt es auch private und zivilgesellschaftliche Initiativen, die Familienfeste, Straßenfeste und alternative Formen des Erinnerns in weiten Teilen des Landes organisieren.

Dabei war das nicht immer so. Unmittelbar nach Kriegsende war ein kollektives Erinnern an den Krieg unerwünscht. Erst nach der Entstalinisierung wurde der Tag des Sieges 1965 unter Leonid Breschnew, 20 Jahre nach Kriegsende, zum zentralen Bestandteil der öffentlichen Erinnerungspolitik erhoben. Dabei wurde das Kriegsende als kollektiver Sieg des sowjetischen Volkes über den Faschismus erklärt. Gerade diese Interpretation erklärt auch die große integrative Kraft, die von dem Tag des Sieges bis heute ausgeht: Auch wenn der deutsch-sowjetische Krieg für einen Großteil der Bevölkerung eine Zeit der Entbehrungen und Verluste war, konnte sich nun jede*r als Sieger*in fühlen.

Wie in fast allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion spielt der Tag des Sieges auch in der Russischen Föderation nach wie vor eine große Rolle. Dabei wurden die staatlichen Feierlichkeiten rund um den Kreml zunehmend auch zu einem Interpretations- und Deutungsrahmen für Außenpolitik und Selbstverständnis Russlands: So wurde beispielsweise 2008 im Kontext der kriegerischen Auseinandersetzungen in Georgien besonderen Wert auf die Ausstellung von russischer Militärtechnik gelegt.

Umkämpfte Geschichte

In diesem Jahr sollten die Feierlichkeiten zum Tag des Sieges in besonderem Maße begangen werden: Bereits Monate vorher kündigten große Plakate in Moskau und Werbefilme im ganzen Land das 75. Jubiläum des sowjetischen Sieges an und zu der Militärparade auf dem Roten Platz waren zahlreiche Staats- und Regierungschef*innen aus aller Welt eingeladen.

Vorhergegangen war den Vorbereitungen auch eine intensiv geführte Debatte um die russische Geschichtspolitik, die von einigen Beobachter*innen sogar als „memory war“ bezeichnet wurde. Bereits im August vergangenen Jahres hatten hochrangige russische Politiker die Rolle der Sowjetunion beim Ausbruch des zweiten Weltkriegs in Frage gestellt und eine Neuinterpretation des Bündnisses mit Nazideutschland vorgeschlagen. Mittelpunkt der Debatte ist das umstrittene Zusatzprotokoll des sogenannten Molotow-Ribbentrop-Pakt, der am 24. August zwischen Vertretern der Sowjetunion und des NS-Regimes unterzeichnet wurde. Während im Pakt selbst der gegenseitige Gewaltverzicht bestimmt wurde, enthielt das geheime Zusatzprotokoll eine Aufteilung der polnischen und baltischen Gebiete in sowjetische und deutsche Interessenssphären. In den Folgemonaten des Angriffs Deutschlands auf Polen am 1. September wurden auch weite Teile des Baltikums und Polens von sowjetischen Soldat*innen besetzt. Die Existenz dieses geheimen Protokolls wurde in der Sowjetunion lange Zeit geläutert und erst 1989 offiziell anerkannt. Putin selbst bezeichnete die Aufteilung Polens noch 2009 in einer polnischen Zeitung als „moralisch unakzeptabel“. Doch nunmehr zehn Jahre später wird der deutsch-sowjetische Vertrag von russischer Seite als unausweichlich dargestellt und mit Verweis auf den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934 oder vermeintliche polnische Aggressionen relativiert.

Osteuropäische Länder fürchten erneute russische Aggression

Im September vergangenen Jahres verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolutionzur Bedeutung der europäischen Erinnerungskultur. In dieser wurde gegen Russland explizit der Vorwurf erhoben, die eigene Geschichte reinzuwaschen und „historische Fakten“ zu ignorieren. Besonders konfliktreich in dieser Frage ist das Verhältnis zwischen Russland und den ost- und mitteleuropäischen Ländern. Das Baltikum, Polen, aber auch Tschechien und Ungarn sehen sich historisch als Opfer der Sowjetunion; Russlands als revisionistisch empfundene Geschichtspolitik wird von diesen Ländern nicht nur als Verleumdung der eigenen Geschichte empfunden, sondern ist auch mit der Angst vor erneuten russischen Aggressionen verbunden.

Dieses angespannte Verhältnis zeigte sich insbesondere in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung zwischen Polen und Russland, die sich in den vergangenen Monaten zugetragen hat. Ausgangspunkt war die Interpretation des Kriegsbeginns. Wie schon einige russische Funktionäre zuvor, hat auch der russische Präsident Wladimir Putin in mehreren Aussagen im Dezember Polen eine Mitschuld am Ausbruch des zweiten Weltkriegs gegeben und zugleich die Rolle der Sowjetunion beim Bündnis mit Nazideutschlands am Vorabend des Krieges relativiert. Wie folgenreich diese Aussagen waren, zeigte die Reaktion des polnischen Staatschefs Andrzej Duda, der die Einladung Israels zu der internationalen Holocaust-Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Befreiung von Ausschwitz ablehnte, da Putin, im Gegensatz zu Duda selbst, bei dieser Veranstaltung als Redner vorgesehen war.

Der rote Platz bleibt leer

Anfang März hatte Putin noch mit Blick auf die weltweite Ausbreitung des Coronavirus gesagt, dass er alles unter Kontrolle habe und die Feierlichkeiten zum 9. Mai nicht verschoben werden müssten. Doch auch in Russland herrschen seit Anfang April Ausgangssperren, deren vollständiges Ende noch nicht abzusehen sind. Am 16. April teilte Putin in einer Ansprache mit, dass die Parade und auch alle weiteren geplanten Veranstaltungen in den Regionen zum Tag des Sieges wegen der Pandemie verschoben werden müssten. Der rote Platz bleibt also leer. Angesichts der erinnerungspolitischen und identitätsstiftenden Bedeutung des Tages und den intensiven Vorbereitungen zum 75. Jahrestags stellt dies einen großen Einschnitt dar. Putin selbst bezeichnete den Tag in der Ansprache als „heiliges Datum“. Hinzu kommt, dass auch das Referendum, das Putins geplante Verfassungsänderungen per Plebiszit legitimieren sollte, verschoben werden musste. Beide Ereignisse, die sorgfältig vorbereitet waren und Einigkeit, Stärke und Legitimität von Putins Russlands beweisen sollten, wurden zunächst vertragt. Noch ist unklar, wie schwer Russlands Wirtschaft und Gesellschaft von dem Virus getroffen wird; die Zustimmungsraten zu Putin fallen jedoch jetzt schon stark.

Auch wenn die Zukunft Russlands durch die Corona-Pandemie zunehmend unsicherer geworden ist, ist gewiss, dass der Kampf um die Geschichte und ihre Deutungen auch weiterhin für Konflikte sorgen wird. Aber auch die polnische PiS-Partei fiel in den letzten Jahren mit Versuchen auf, die nationale Geschichte für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Dass der politische Missbrauch von Geschichte gefährlich ist und katastrophale Folgen haben kann, kann durch die Erinnerung an Diktaturen und Krieg im vergangenen Jahrhundert vergegenwärtigt werden. Gerade dazu sollte das Gedenken an den zweiten Weltkrieg Anstoß sein.

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