Rechtsstaatlichkeit in Ungarn - eine machtlose EU

, von  Théo Boucart, übersetzt von Can Yildiz

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Rechtsstaatlichkeit in Ungarn - eine machtlose EU
Treffen der Visegrád-Gruppe, bestehend aus Polen, Tschechien, der Slovakei und Ungarn © Kancelaria Premiera / Flickr/ Public Domain Lizenz

Am 17. Mai 2017 hat das Europäische Parlament erstmals eine Resolution zu Verstößen gegen den Rechtsstaat gefasst, die den Artikel 7 des Vertrags von Lissabon (EUV) aktivieren könnte. Dieser Vorgang, abgesehen davon, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass Brüssel tatsächlich politische Sanktionen verhängen wird, illustriert wie wenig Einfluss die EU politisch eigentlich auf die Mitgliedsstaaten hat.

Die Demokratie ist im Land von Sandór Petőfi und Imre Nagy in keinem guten Zustand. Die Europäische Union fängt gerade erst an, ihre Werte zu verteidigen, indem sie den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán droht, Sanktionen hinsichtlich der illiberalen Gesetze zu verhängen, die in den letzten Jahren verabschiedet wurden. Der ungarische Regierungschef hält trotzdem an seinen Positionen fest und spaltet europäische Politiker im Hinblick auf die Stichhaltigkeit seiner Aussagen.

Was versteckt sich hinter Artikel 7 des Vertrags von Lissabon?

Artikel 7 des Lissabon-Vertrags ist erstmals im Entwurf der europäischen Verfassung aus dem Jahre 2004 aufgetreten und 2007 in den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden. Er sieht Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten vor, die die in Artikel 2 genannten Grundwerte der Europäischen Union nicht achten (Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtssaat und die Menschenrechte). Der Artikel 7 umfasst unter anderem folgende zentralen Aspekte:

Auf Vorschlag eines Drittels der EU-Mitgliedstaaten, des EU-Parlaments oder der EU-Kommission kann der Europäische Rat mit einer Vierfünftel-Mehrheit sowie mit Zustimmung des Parlaments feststellen, dass ein deutliches Risiko einer Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedsstaat besteht. Bevor diese Stellungnahme vorgenommen wird, hört der Rat den betroffenen Mitgliedsstaat an und kann Empfehlungen aussprechen, die er nach demselben Verfahren beschließt. Der Europäische Rat kann einstimmig auf Vorschlag eines Drittels aller Mitgliedsstaaten oder der Europäischen Kommission sowie mit Zustimmung des Europäischen Parlaments das Vorliegen einer schwerwiegenden wie anhaltenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte erklären, nachdem der betroffene Mitgliedsstaat zur Stellungnahme aufgefordert wurde. Der Europäische Rat kann daraufhin mit einer qualifizierten Mehrheit die Maßnahmen, die er auf Grundlage des Absatzes 3 getroffen hat, verändern oder aussetzen, wenn es zu Änderungen in der Situation gekommen ist, die zur Verhängung eben jener Maßnahmen geführt hat. Letzten April lud das Europäische Parlament zudem den ungarischen Premierminister zur Verteidigung der Gesetze, die als gegen die europäischen Werte verstoßend eingestuft wurden, vor. Dazu gehören die Gesetze zur systematischen Verhaftung von Flüchtlingen, die verstärkte Kontrolle von NGOs, die finanzielle Hilfen aus dem Ausland bekommen sowie das Gesetz gegen die Central European University. Im Hinblick auf die Verbissenheit des starken Mannes aus Budapest, hat das Parlament schließlich eine Erklärung verabschiedet, die zur Aktivierung des Art. 7 führen könnte.

Geringe Erfolgsaussichten des Verfahrens gegen Ungarn

Trotz der angespannten Situation in Ungarn, sind tatsächliche und verpflichtende Sanktionen gegen Ungarn aufgrund zweier Hauptursachen kaum denkbar.

Zum einen macht die Komplexität des Artikels 7 sowie die hohe Zahl involvierter Akteure seine Verwendung höchst schwierig und langwierig. Die benötigte Einstimmigkeit im Europäischen Rat verkleinert die Möglichkeit des Erfolgs des Verfahrens maßgeblich, da Polen (das wegen des Zustands seines Rechtsstaats selbst im Blickfeld von Brüssel ist) sowie möglicherweise Tschechien und die Slowakei (wie Ungarn gegen die Umverteilung von Flüchtlingen) wohl gegen die Aktivierung des Artikel 7 stimmen im Falle Ungarn stimmen würden.

Zudem sind die europäischen Institutionen selbst gespalten. Die Europäische Volkspartei, der Orbáns Fidesz-Partei angehört, war mit 107 Stimmen für und 92 gegen die Erklärung des Europäischen Parlaments stark in der Frage gespalten. Des Weiteren scheinen die Kommission und das Parlament keine Sanktionen auferlegen zu wollen, um die Spaltung der Mitgliedsstaaten nicht weiterzutreiben.

Die politische Schwäche der EU

Artikel 7 des Lissabon-Vertrags, der durch seine Komplexität und durch die Gewichtung der nationalen Interessen (durch die Involvierung den Europäischen Rat und den EU-Rat) ist trotz seines erneuernden Charakters ein schweres und ineffektives Instrument. Die Tatsache, dass erst jetzt ein Verfahren gegen Ungarn eingeleitet wurde, obwohl die Anzahl antidemokratischer Gesetze sowie die Provokationen gegenüber der EU seit Jahren zunehmen, zeugt vom kleinen Handlungsspielraum der europäischen Politik.

Außerdem zeigt die Spaltung der europäischen Institutionen, Presse und Parteien, dass Brüssel Probleme hat, seine eigenen Werte auf seinem Territorium durchzusetzen. Die Kopenhagener Kriterien (bezüglich der europäischen Werte) haben außer bei der Aufnahme eines Staates in die EU keinen verpflichtenden Charakter und werden im Gegensatz zum Etat nicht regelmäßig überprüft. Dies zeugt vom langen Weg, den die EU noch zurücklegen muss, um über ausreichend Legitimität bei ihren Bürger*innen zu verfügen und eine unabdingbare politische Union in unserer instabilen Welt zu realisieren.

Ist die EU endlich entschlossen, nach ihren eigenen Werten zu handeln und Sanktionen gegen ihren widerspenstigen Mitgliedsstaat aufzuerlegen? Selbst wenn Artikel 7 des Lissabon-Vertrags im Grunde eine gute Idee ist, machen seine komplexe Ausführung sowie das zu große Gewicht nationaler Interessen ein schwer formbares Instrument aus diesem Artikel. Die notwendige Einstimmigkeit im Europäischen Rat müsste abgeschafft und durch eine ehrgeizige Reform ersetzt werden, die die Europäische Kommission zum einzigen Akteur im Verfahren macht, die lediglich die Zustimmung des EU-Parlaments benötigt. Denn nur sie ist bis zum Gegenbeweis die Hüterin der Europäischen Verträge.

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