Fall und (Wieder)-Aufstieg einer Parteienfamilie?
Viel ist in den vergangenen Jahren über die Krise der europäischen Sozialdemokratie geschrieben worden. Betrachtete man die politische Landkarte Europas, ergab sich in den letzten zwei Dekaden ein recht eindeutiges Bild: Während sozialdemokratische und Arbeiterparteien in einigen Ländern wie in Frankreich oder der Niederlande in die Bedeutungslosigkeit verschwanden, mussten sie in anderen Ländern wie in Deutschland, Österreich oder Spanien Stimmeneinbußen im zweistelligen Prozentbereich hinnehmen. Und selbst in ihrer einstigen Hochburg Skandinavien wackelte die Sozialdemokratie bedenklich und konnte nicht an alte Wahlergebnisse anknüpfen.
Entsprechend resigniert war die Stimmung vor der deutschen Bundestagswahl im September dieses Jahres. Doch obwohl die SPD im Frühjahr 2021 in Umfragen noch bei 15 Prozent lag, konnte sie in den folgenden Monaten wie der Phönix aus der Asche steigen. Sie überholte nicht nur die Grünen, sondern auch die Union und konnte am Wahlabend den ersten Wahlsieg auf Bundesebene seit mehr als 15 Jahren verbuchen. Nun wird die SPD mit Olaf Scholz den ersten Bundeskanzler der Post-Merkel-Ära stellen.
Deutschland war jedoch nicht das einzige europäische Land, in dem Sozialdemokrat*innen in diesem Jahr Morgenluft schnupperten. So konnte auch die norwegische Arbeiderpartiet nach 8 Jahren in der Opposition bei der nationalen Parlamentswahl die meisten Stimmen holen und stellt mit Jonas Gahr Støre den neuen Regierungschef. Bei den Kommunalwahlen in Italien verdrängte der Partito Democratico in mehreren wichtigen Städten die amtierenden Bürgermeister*innen aus dem Amt und stellt nun unter anderem in Rom, Mailand, Turin, Neapel und Bologna den Bürgermeister. Und im Frühjahr bereits war bei den Regionalwahlen in Katalonien die Partit dels Socialistes de Catalunya die stärkste Kraft geworden. Selbst angesichts der Tatsache, dass die Sozialdemokratie in anderen europäischen Ländern wie Frankreich weiter am Boden liegt, lassen sich diese Siege in traditionellen sozialdemokratischen Kernländern durchaus als „rote“ Lebenszeichen verstehen. Zudem senden sie auch an die leidgeprüften Mitglieder innerhalb der Parteien das Signal aus, dass es wieder aufwärts gehen kann.
Gründe für den Aufschwung
Begibt man sich auf eine Erklärungssuche für den unerwarteten Aufschwung, wird man in verschiedenen Richtungen fündig. Zunächst einmal gestaltete sich der Kontext für die sozialdemokratischen Parteien 2021 aufgrund verschiedener Faktoren günstig. Die Corona-Pandemie spiegelte sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern nicht nur ohnehin bestehende soziale Ungleichheiten wider und rief diese stärker ins Bewusstsein der Menschen - sie machte auch die staatlichen Eingriffe zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Pandemie zu einer guten Erfahrung für viele Menschen, die stark von der Krise betroffen waren. Im Kontext der Pandemie gerieten zudem mit Migration oder der „Schwarzen Null“ Themen in den Hintergrund, auf die sozialdemokratische Parteien in den letzten Jahren wenige Antworten gefunden hatten. Darüber hinaus muss auch die Schwäche der politischen Konkurrenz als wichtiger Faktor für den Wiederaufstieg der Sozialdemokratie gesehen werden. Hatte sich das bürgerlich-rechte Lager in Italien gespalten gezeigt und sich zum Teil kaum auf geeignete Kandidat*innen einigen können, verpatzten Union und Grüne in Deutschland durch Fehler im Auftreten und bei der Wahl der Kandidat*innen den Wahlkampf und verloren stark im Vergleich zu den anfänglichen Umfragewerten.
Ein weiterer Faktor für die Wahlsiege war die Tatsache, dass sozialdemokratische Parteien es in allen diesen Ländern schafften, geschlossen aufzutreten und einen professionellen und gut organisierten Wahlkampf auf die Beine zu stellen. Zudem hatten sie auch bei der Kandidatenwahl ein gutes Händchen. So gelang es beispielsweise der SPD mit Olaf Scholz einen Kandidaten aufzustellen, der im Vergleich zu seinen beiden Widersacher*innen professionell auftrat und Kompetenz ausstrahlte. Scholz schaffte zudem den schwierigen Spagat, sich mit der SPD gleichzeitig als Veränderung darzustellen und die Vorliebe der Deutschen zur Kontinuität durch seine merkel-eschken Auftritte zu bedienen.
Und nicht zuletzt scheinen Europas Sozialdemokrat*innen auch an Glaubwürdigkeit bei den Wähler*innen zurückgewonnen zu haben, was einer programmatischen Rückkehr zu einer linkeren Wirtschafts- und Sozialpolitik und somit einer stärkeren Abgrenzung von Mitte-Rechts-Parteien geschuldet scheint. Während im norwegischen Fall die Arbeiderpartiet im Wahlkampf einen klaren Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit setzte, war auch das SPD-Wahlprogramm das linkste Programm der Partei seit vielen Jahren. Im deutschen Wahlkampf wurde so die 2019 eingeleitete Profilschärfung der Partei und die stärkere Abgrenzung von der Union konsequent fortgeführt. Diese Profilschärfung wird auch reflektiert durch die Zusammensetzung der neuen SPD-Bundestagsfraktion, in der ein Viertel der Abgeordneten der traditionell linker eingestellten Jugendorganisation der SPD – den Jusos – angehören.
Neue und alte Herausforderungen für sozialdemokratische Parteien
Das Jahr 2021 hat gezeigt, dass sozialdemokratische Positionen für viele Menschen nach wie vor attraktiv sind. So zeigen Studien, dass viele Menschen sich nach wie vor vorstellen können, ihr Kreuz bei sozialdemokratischen Parteien zu setzen. Doch die europäische Sozialdemokratie sollte über die jüngsten Wahlsiege nicht vergessen, dass strukturelle Probleme fortbestehen. So haben sozialdemokratische Parteien seit Jahren das Problem, junge Menschen bei Wahlen für sich zu gewinnen und beziehen die meisten Wähler*innen aus der (allerdings größten) Gruppe der Rentner*innen.
Das Schrumpfen der traditionellen Arbeiterschicht als weiteres strukturelles Problem lässt sich ebenfalls nicht wieder zurückdrehen und führt dazu, dass sozialdemokratische Parteien sich bereits seit Längerem umorientieren und andere Wählerschichten erschließen müssen. Dass dies jedoch Dilemmata aufwirft, wird an den verschiedenen Interessen potenzieller sozialdemokratischer Wählergruppen deutlich. So zeigt eine Publikationsreihe im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass sozialdemokratische Parteien in Europa vor allem mit anderen Parteien des linken Spektrums sowie mit Mitte-Rechts-Parteien um Wähler*innen konkurrieren. Entscheiden sich sozialdemokratische Parteien dabei für linkere Positionen, können sie Wähler*innen von grünen oder linkeren Parteien zurückgewinnen, verlieren so jedoch wahrscheinlich potenzielle Wähler*innen im Bereich der politischen Mitte. Umgekehrt gilt das Gleiche: eher zentristische Positionen ziehen letztere Wähler*innen an und vergraulen die stärker Linksorientierten.
Laut noch unveröffentlichten Erhebungen einer Forschungsgruppe um Silja Häusermann und Tarek Abou-Chadi verlaufen die Trennlinien unter potenziellen sozialdemokratischen Wähler*innen dabei vor allem zwischen verschiedenen Alters- und Bildungsgruppen. Während junge und gut gebildete mögliche sozialdemokratische Wähler*innen sowohl linke wirtschaftliche als auch linke soziokulturelle Positionen bevorzugen, sind ältere Wähler*innen und solche mit einem geringeren Bildungsabschluss im Durchschnitt zwar ebenfalls links in sozioökonomischen Positionen wie Renteneintritt oder Mietendeckel, aber durchschnittlich etwas konservativer in soziokulturellen Themen wie Migration, Geschlechterquotierungen oder auch einer höheren CO2-Steuer. Laut den Autor*innen vertritt diese etwas konservativere zweite Gruppe im Durchschnitt aber keineswegs rechtspopulistische Ansichten, was beispielsweise Themen wie Einwanderung betrifft. Dieses Narrativ, das von manchen Beobachter*innen lange gepflegt wurde, konnte mit Ausnahme von Ländern wie Dänemark oder Finnland widerlegt werden.
Welche Strategien für die Zukunft?
Das oben beschriebene Problem mit bestimmten Positionierungen eine Gruppe von Wähler*innen zu gewinnen und dabei eine andere zu verlieren, bezeichnet man als „Trade-off“. Die oben beschriebenen „Trade-offs“ zwischen verschiedenen sozialdemokratischen Wählergruppen machen deutlich, dass es nicht die eine Erfolgsformel für sozialdemokratische Parteien gibt, um viele Stimmen auf sich zu vereinen. Begibt man sich auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse dennoch auf die Suche nach möglichen Strategien für sozialdemokratische Parteien, scheinen einige Strategien sinnvoller als andere.
So könnte zum Beispiel eine gleichzeitige Rückbesinnung auf linke wirtschafts- und sozialpolitische Themen (wie höhere Vermögenssteuern, Mietpreisbremsen oder Arbeitnehmerrechte) gepaart mit progressiven soziokulturellen Positionen (wie eine gemäßigt offene Einwanderungspolitik oder eine moderate CO2-Steuer) vielversprechend sein, um eine möglichst breite Wählerschaft zu gewinnen. Trotz einiger Schwächen scheint diese Strategie besonders geeignet, schaut man sich ihre Alternativen an: Konservativere Positionen bei Themen wie der Aufnahme von Geflüchteten oder im Hinblick auf LGBTQ-Rechte würden nicht nur sozialdemokratischen Prinzipien wie Solidarität oder Gleichheit widersprechen, sondern auch viele liberale, junge Menschen abschrecken. Bei wesentlich linkeren soziokulturellen Positionen und einem stärkeren Fokus auf Themen wie Gendern in der Sprache würde man neben älteren Menschen wiederum vor allem die Reste des ehemaligen Kernklientel der Sozialdemokratie abschrecken: die weniger gut Gebildeten in manuellen und nicht-akademischen Berufen. Wollen sozialdemokratische Parteien keine Milieuparteien werden, wird die Herausforderung für sie somit auch in Zukunft sein, einen Ausgleich zwischen potenziellen Wähler*innen aus unterschiedlichen Lebenskontexten und Interessen herzustellen. Daher sollten sozialdemokratische Parteien gesellschaftliche Diversität und Gleichberechtigung, einen sozial gerechten Klimaschutz und eine offene Einwanderungspolitik konsequent fördern. Sie sollten aber nicht finanzielle Sorgen oder Abstiegsängste von Schwächeren in der Gesellschaft aus den Augen verlieren und sie sollten Ängste dieser Menschen, z. B. in Bezug auf gesellschaftliche Kosten von Klimaschutzmaßnahmen, ernst nehmen.
Die Wahlen in Norwegen oder Deutschland in diesem Jahr spiegeln diese Erkenntnisse wider und zeigen, dass eine Rückbesinnung auf eine linke Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie soziokulturell progressive Positionen auch in der Praxis vom sozialdemokratischen Wählerklientel honoriert wird. Eine Wahlanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt zudem, dass eine solche Strategie tatsächlich attraktiv für verschiedenste Bevölkerungsgruppen sein kann. So war die SPD bei der deutschen Bundestagswahl die einzige Partei, die in allen Alters- und Beschäftigungsgruppen 15 oder mehr Prozent der Stimmen erringen konnte. Die Wahlen in den beiden Ländern zeigen aber auch, dass bei Wahlen nicht nur programmatische Fragen von Bedeutung für die Wahlentscheidung der Menschen sind. Auch die Auswahl der*des Spitzenkandidaten*in und ein parteilich geschlossener und professioneller Wahlkampf sind wichtige Bausteine, um sich an der Urne durchzusetzen. In diesem Jahr hat sich in Deutschland und Norwegen in beiden Fällen ein Mitte-Kandidat mit einem linken Wahlprogramm durchgesetzt. Dies könnte für die Zukunft eine vielversprechende Strategie sein, um sowohl linke als auch Mitte-Wähler*innen von sozialdemokratischen Parteien zu überzeugen und mit anderen linken Parteien Mehrheiten bilden zu können.
Auf Kurs in ein besseres Jahrzehnt?
Die Zeit der großen Volksparteien – ob rechts oder links der Mitte – scheint in veränderten gesellschaftlichen Kontexten vorbei und somit wohl auch die glorreichste Zeit der europäischen Sozialdemokratie. Doch das Jahr 2021 hat gezeigt, dass sozialdemokratische Parteien in den richtigen Kontexten und mit den richtigen Entscheidungen tatsächlich noch Wahlen gewinnen können. Somit scheint der Abwärtstrend der letzten Jahrzehnte vorerst gestoppt, wenngleich mit einer sehr heterogenen und alten Wählerschaft und einer erstarkten Konkurrenz im linken Spektrum bereits die nächsten Herausforderungen auf sozialdemokratische Parteien warten. Doch gelingt es Parteien wie der SPD oder auch der Arbeiderpartiet nun, den Vertrauensvorschuss der Wähler*innen zurückzuzahlen und mit sozialen Politiken tatsächlich soziokulturelle und sozioökonomische Ungleichheiten in europäischen Gesellschaften zu bekämpfen, müssen diese Wahlsiege nicht die letzten für sozialdemokratische Parteien gewesen sein.
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