Plädoyer für eine moderne Gelehrtenrepublik

, von  Théo Boucart, übersetzt von Katja Friedewald

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Plädoyer für eine moderne Gelehrtenrepublik
Blick auf Paris. Eins der Gesprächsthemen der Veranstaltung: die Rolle der Städte für Europa.
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Von März bis Mai 2018 organisierte die Groupe d’Etudes Géopolitiques (die ‚Arbeitsgruppe Geopolitik‘) der Ecole Normale Supérieure (ENS, prestigeträchtige Pariser Hochschule) eine Vortragsreihe mit dem Titel „Une Certaine Idée de l’Europe“ (‚Eine gewisse Idee von Europa‘). Fünf weltbekannte Wissenschaftler*innen waren dazu eingeladen, ihre jeweilige Vision von Europa darzulegen. Hierzu erschien außerdem ein Kongressband, der die Vorträge aufgreift und zu weiterführenden Überlegungen anregen möchte.

Vor dem Hintergrund der bewegten und blutigen Geschichte Europas ist die europäische Einheit alles andere als selbstverständlich. Trotzdem haben sich im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Denker*innen, Intellektuelle und Politiker*innen mit dem Thema beschäftigt. So war Victor Hugo bei Weitem nicht der einzige oder gar der erste, der sich eine solche Einheit wünschte, eine Einheit, die sich in gewisser Form bereits in früheren Zeiten eingestellt hatte: So entstand im ausgehenden Mittelalter und in der Renaissance eine sogenannte „res publica litteraria“, eine „Gelehrtenrepublik“. Kirchliche wie weltliche Gelehrte bereisten das westlich-christliche Europa, lasen und kopierten die Ideen der anderen; in Frankreich, in den italienischen und flämischen Städten, in Österreich, oder sogar in Böhmen und in Polen. Diese Gelehrtenrepublik bestand über die Grenzen der verschiedenen Regime hinweg, ob despotisch oder aufgeklärt.

Was bleibt heute übrig von dieser Geisteshaltung? Heute, im Zeitalter der Informationsgesellschaft und der Kommunikation in Echtzeit, wird die „europäische Idee“ mehr und mehr ihrer Substanz beraubt. Die europäische Debatte wird nicht mehr von den Intellektuellen geführt, sondern von den Technokrat*innen der europäischen Institutionen mit Sitz in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg. Diese Expert*innen scheinen darum bemüht, die europäische Debatte hinter verschlossenen Türen zu führen, was die euroskeptischen bis hin zu europafeindlichen Kräfte nur noch verstärkt.

Von der Notwendigkeit, Europa interdisziplinär anzugehen

Mit dieser Feststellung beginnt das Werk „Une Certaine Idée de l’Europe“ der Groupe d’Etudes Géopolitiques der ENS. Dieser Band ist eine Kompilation der Vorträge, die zwischen März und Mai 2018 von fünf bekannten Intellektuellen gehalten wurden: von dem marxistischen Philosophen Antonio Negri, der Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesko, dem Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der politischen Philosophin Myriam Revault d’Allones, und dem Historiker Patrick Boucheron. Der interdisziplinäre Charakter dieser Vorlesungsreihe ist dabei grundlegend: Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die europäische Idee nicht einzig von dem gemeinsamen Binnenmarkt oder der aktuellen Europapolitik verkörpert wird. Diese europäische Idee hätte sich auch anders entwickeln und in einer Reihe anderer Ergebnisse aufgehen können. Europa darf also nicht ausschließlich durch die wirtschaftlich-technokratische Brille gesehen werden, sondern sollte Thema aller Geisteswissenschaften sein, um sein Wesen und seinen wahren Reichtum zu entfalten.

„Une Certaine Idée de l’Europe“ geht hierbei gleich zwei Herausforderungen nach: Neben der Bemühung nach einer transdisziplinären Ausweitung verfolgten die Organisatoren der Vortragsreihe außerdem das Ziel der räumlichen Ausweitung über ganz Europa und sogar darüber hinaus, um so die Bedingungen für eine „Debatte auf kontinentaler Ebene“ zu schaffen. Die Vorträge wurden demnach in insgesamt zwölf Ländern übertragen, in zehn europäischen Ländern, den Vereinigten Staaten und Südafrika. Das Werk „Une Certaine Idée de l’Europe“ möchte eine wahrhaftige paneuropäische Diskussion einleiten und dabei eine immer größere Zahl von Bürger*innen einbinden.

Europa versteht sich nicht von selbst!

Eine Idee ist, per definitionem, niemals selbsterklärend, da es sich um etwas Erdachtes, eine bestimmte subjektive Wahrnehmung der Dinge handelt. Die Idee Europas ist aus den historischen Ereignissen und den Vorstellungen von Philosoph*innen, Schriftsteller*innen und Politiker*innen hervorgegangen. Man kann niemals häufig genug erwähnen, dass hinsichtlich der turbulenten Geschichte des Kontinents, die Idee der politischen Einigung innerhalb Europas keine Selbstverständlichkeit war, schon gar nicht nach 1945 und der gewaltigen Zerstörung durch den Inbegriff des Nationalismus.

Dieser Ansatz spielt in den Vorträgen im Rahmen von „Une Certaine Idée de l’Europe“ eine zentrale Rolle. Antonio Negri ist der Meinung, die Europäische Union, Produkt des amerikanischen Imperialismus des Kalten Krieges, sei in den festen Strukturen des Neoliberalismus gefangen, der eine einzige, „offensichtliche“ Konzeption von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft aufzwinge und dabei die Arbeiterklassen gnadenlos unterdrücke. Thomas Piketty schließt an diese Überlegung an, indem er deutlich macht, dass, auch wenn in Europa mehr Chancengleichheit bestehe als in anderen Gegenden der Welt, wir uns nicht darauf ausruhen und nicht akzeptieren dürften, dass die neoliberale Doxa jegliche Diskussion über die Zukunft Europas im Keim ersticke. Patrick Boucheron merkt an, Europa fehle es an Substanz, es werde von den offiziellen Institutionen schlecht vertreten. Sollte dies so weitergehen, laufe Europa Gefahr, seine Daseinsberechtigung zu verlieren. Elisabeth Roudinesco erinnert daran, dass die Geschichte Europas die Geschichte seines Wandels sei. Die Psychoanalytikerin verweist auf den französisch-amerikanischen Autor George Steiner und einen seiner Essays, der, ebenso wie die Vortragsreihe, den Titel „Une Certaine Idée de l’Europe“ trägt (im Original unter dem Titel „The Idea of Europe“ erschienen, Tilburg: Nexus Institute 2004). Steiner erläutert hierin, dass einer der fünf Grundsätze der europäischen Idee eben jenes Bewusstsein darüber sei, dass diese Idee jederzeit zerbrechen könne. Schließlich erinnert Myriam Revault d’Allones daran, dass der Begriff „Europa“ etymologisch gesehen „die/der mit der weiten Sicht“ bedeutet. Der Kontinent solle also jede Art von Alterität angemessen würdigen. Die „neoliberale Rationalität“ habe den Sinn Europas verschluckt und ihm damit seine langfristige Perspektive genommen.

Das selbstverständliche in Frage stellen – diese Forderung zieht sich durch die gesamte Vortragsreihe. Das europäische Fundament sollte nicht aus einer bestimmten Ideologie bestehen, wie beispielsweise dem Neoliberalismus, der im Zuge der Vorträge thematisiert wurde. Mit der Unterbindung von Diskussionen über die Ausrichtung Europas erhöht sich das Risiko, dass das europäische Projekt seine Substanz und seine Erwartungen verliert, und dass schließlich sein Fortbestand in Gefahr gerät. Indem sie betonen, dass Europa sich nicht von alleine versteht, rufen die Redner*innen zu einer interdisziplinären Debatte auf, die sich durch die Beiträge und Fragen aller ihrer Teilnehmer*innen speist.

Für eine moderne europäische Gelehrtenrepublik

Europas Landschaftsbild wird maßgeblich durch seine Städte charakterisiert. Und da sich Ideen in Städten besonders schnell verbreiten, könnten diese der Geburtsort einer modernen „europäischen Gelehrtenrepublik“ sein. Nach der intellektuellen Blüte des Mittelalters (vor allem im 13. Jahrhundert), während der Renaissance und im 19. Jahrhundert, das insbesondere in Mitteleuropa die großen Ideologien hervorgebracht hat, ist es an der Zeit für die Europäische Union, ihr kulturelles Substrat zu stärken. Es geht hierbei um einiges: Das Überleben der Europäischen Union hängt von der Entwicklung von Perspektiven ab, die über Wirtschaft und Technokratie hinausgehen, der Austausch zwischen den europäischen Völkern muss gestärkt werden, diese „europäische Intertextualität“, die dem Kontinent und der ganzen Welt so viel gebracht hat, wiederbelebt werden.

Allerdings darf diese neue Gelehrtenrepublik nicht in Eurozentrismus verfallen. In den Jahrhunderten nach der Renaissance war Europa das Zentrum der Welt, da es den anderen Nationen mittels Handel und Kolonialismus „seine“ Modernität auferlegen konnte. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ein regelrechter „europäischer Bürgerkrieg“, wird Europa mehr und mehr zur „kleinen Landzunge des asiatischen Kontinents“, um den Ausdruck des Philosophen Paul Valéry (1871-1945) zu zitieren. Europa muss also seinen Platz in der Welt überdenken und sich in gewisser Weise „provinzialisieren“, wie der indische Schriftsteller Dipesh Chakrabaty sagen würde. Obwohl die Dekolonisation eine „politische“ Realität ist, bleibt ihre moralische Dimension doch sehr abstrakt. Autoren wie der Kameruner Achille Mbembe oder Edward Said haben gezeigt, wie Europa sich des Erbes anderer Kontinente bemächtigt, was zu einer Verharmlosung des europäischen Narrativs der Weltgeschichte beiträgt. Es bleibt zu wünschen, dass „Une Certaine Idée de l’Europe“ ein erster Schritt in Richtung einer modernen „europäischen Gelehrtenrepublik“ ist, tolerant und offen gegenüber der Welt des 21. Jahrhunderts.

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