Seit der von vielen als gescheitert angesehenen Klimakonferenz COP 27 wollen Aktivist*innen der neuen Bewegung „End Fossil: Occupy!“ in über 20 Ländern Druck auf Regierungen und Entscheidungsträger*innen ausüben. Die Bewegung kämpft für das Ende fossiler Abhängigkeiten und neokolonialer Wirtschaftsbeziehungen und versteht sich als Klimastreik 2.0. Durch Besetzungen von Schulen und Universitäten sollen die Klimastreiks auf das nächste Level gehoben werden. Denn während viele Familien unter der aktuellen Inflation und Energiekrise zu kämpfen haben oder direkt von Naturkatastrophen betroffen sind, fahren Energiekonzerne mit Kohle, Öl und Gas Rekordgewinne ein und beschleunigen damit die globale Erderwärmung. Junge Klimaaktivist*innen greifen deshalb zu immer disruptiveren Aktionsformen und stellen konkrete Forderungen auf. Dabei versuchen sie viele verschiedene Klimainitiativen zu verbinden und sich auch mit sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfen vor Ort zu vernetzen. Durch die Pandemie sind viele dieser Strukturen und Netzwerke weggebrochen. Mit studentischen Vollversammlungen und einem abwechslungsreich gestalteten Programm während der Besetzungen sollen diese schnell wieder aufgebaut werden.
In Pennsylvania, Barcelona, Leeds, Wien, Berlin und Lissabon hielten die Besetzungen über mehrere Wochen an. An zwei Schulen in Lissabon ist der gesamte Unterricht während der Klimakonferenz unterbrochen worden, weil sich die Mehrheit der Schüler*innen dem lauten und lebendigen Protest angeschlossen hat. Lehrkräfte in Portugal haben ihre Solidarität in einem offenen Brief bekundet, welchem sich international hunderte Professor*innen und Dozierende angeschlossen haben - genug Gründe, um sich diese neue Klimabewegung einmal genauer anzusehen. Warum rufen junge Menschen zu Besetzungen ihrer Bildungsinstitutionen auf?
Klimaaktivist*innen repolitisieren Schulen und Universitäten weltweit
Ins Rollen gebracht hat die Bewegung die 21-jährige Matilde Alvim mit ihren Mitstreiter*innen aus Lissabon. Sie ist bei Fridays for Future aktiv und erklärt, dass, um eine angemessene Reaktion auf die Klimakatastrophe zu erwirken, eine Unterbrechung unseres Alltags und das Hinterfragen unserer gesellschaftlichen Normalitäten notwendig sei. Sie schlussfolgert: „Wir sollten das zunächst dort tun, wo wir uns selbst organisieren: an Schulen und Universitäten.“ In den Sommermonaten reiste sie dazu mit Freunden durch verschiedene Länder und Kontinente und konnte viele von ihrer Idee überzeugen.
Bisher fanden unter anderem in Portugal, Spanien, Großbritannien, Deutschland, Tschechien, Österreich, Italien, in den USA und in der Demokratischen Republik Kongo Besetzungen von Schulen und Universitäten statt. Allein in Deutschland gab es bereits Aktionen in über 30 Städten. Weitere Besetzungen sind für die kommenden Wochen geplant. Seitdem vernetzt sich die wachsende Zahl an Besetzenden in einer weltweiten Telegramgruppe. Hierarchien sind innerhalb dieser Initiative, welche gerade die globalen Machtungleichheiten anprangert, daher nicht vorhanden. Mitmachen können alle, die gemeinsam mit anderen jungen Menschen im Namen der Klimagerechtigkeit ihre Schule oder Universität besetzen wollen. Während die Klimakrise immer schneller voranschreitet und die Energie- und Verkehrswende ins Stocken gerät, möchten die jungen Aktivist*innen keine Zeit verlieren und lassen keine gewaltfreie Protestform unversucht.
Manche Besetzungen, wie die an der Hochschule für Musik in Nürnberg, entstehen auch spontan. Studierende unterbrachen dort mit ihren Instrumenten eine Vorlesung und nutzten den besetzten Raum, um Protestlieder zu schreiben, Jamsessions zu veranstalten und ihre Rolle als Studierende, aber auch als Künstler*innen und Musiker*innen, in Zeiten der Klimakrise neu zu überdenken. „Unsere wöchentlichen Demonstrationen waren ein guter Anfang. Doch nun ist es an der Zeit den nächsten Schritt zu gehen und Schulen und Universitäten zu repolitisieren.“, erklärt Cyrill, Klimaaktivist und Schüler in Zürich.
„Wir können die Welt verändern, wenn wir uns zusammenschließen!“
Menna studiert an der Universität Exeter in Großbritannien und erklärt: „Ich beteilige mich an der Besetzung meiner Uni, weil ich jeden Tag um die tausenden durch Klimakatastrophen getöteten und vertriebenen Menschen trauere. Ich möchte, dass auch meine Kommiliton*innen nicht wegsehen. Egal was uns erzählt wird, wir können die Welt verändern, wenn wir uns zusammenschließen! Wir müssen uns entscheiden zwischen dem bisherigen Nichtstun oder einem radikalen Umdenken und schnellem Handeln für ein gutes Leben für alle.“ Dieses Verlangen nach Handlungsfähigkeit soll deshalb auch in den Lehrplänen aufgegriffen werden, um der ausgeprägten Klimaangst der jungen Generation etwas entgegenzusetzen, anstatt als Universität an wissenschaftlich überholten Vorlesungen festzuhalten.
Auch die Universität in Leeds ist lange besetzt gewesen. Dort forderten die Studierenden ein Ende jeglicher Zusammenarbeit mit der fossilen Industrie an der Universität. „Wir müssen viel schneller handeln. Wenn sie den Ernst der Lage verstehen würden, würden sie nicht mit Unternehmen zusammenarbeiten, die die Krise anheizen und die Öffentlichkeit wissentlich in die Irre führen. Ich bin entsetzt über die Zukunft, die die IPCC-Berichte vorhersagen, und fühle mich daher verpflichtet, etwas zu unternehmen“, erklärt der Student Tom aus Leeds.
Internationale Solidarität und lokale Erfolge
Polizeigewalt und Repression sind jedoch bei Räumungen besetzter Schulen und Universitäten nicht ausgeschlossen. In Lissabon müssen sich vier Studierende derzeit vor Gericht verantworten, weil sie sich weigerten, freiwillig die Besetzung zu beenden. Weitere sechs Studierende wurden über mehrere Stunden von der Polizei festgehalten, nachdem sie sich nach einem Gespräch mit dem portugiesischen Wirtschaftsminister und einer Rücktrittsforderung, auf den Fußboden des Ministeriums festklebten. Die Verhandlungen werden vor Ort und international durch solidarische Proteste begleitet.
Wie erfolgreich die Besetzungen insgesamt sein werden, bleibt abzuwarten. Fest steht: die Klimagerechtigkeitsbewegung vernetzt sich aktuell stärker mit sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfen. Auch hinsichtlich ihrer Strategien und Aktionsformen stellt sich die Bewegung vielseitig auf. Forderungen wie beispielsweise nach einer ökologischen und sozialen Transformation der Lehre und Forschung ohne Einflussnahme der fossilen Lobby sind aber nicht das einzige Anliegen. Viele junge Menschen haben sich der Bewegung auch angeschlossen, um die Gesellschaft durch disruptive Aktionen in ihrem Alltag aufzurütteln oder, um sich politisch wieder neu und besser mit Gleichgesinnten organisieren zu können.
Die große Vision von End Fossil: eine zweite, noch viraler gehende Welle paralleler Besetzungen in ganz Europa und weltweit. Viele erste Erfolge zeichnen sich aber schon jetzt durch die Besetzungen auf lokaler Ebene ab - von Freiräumen an der Schule, über Dekarbonisierungspläne an Universitäten bis hin zu Pflichtmodulen über Klimagerechtigkeit für alle Studiengänge. Dennoch reicht das nicht, um Regierungen wieder zurück auf einen 1,5°-Pfad zu bringen. Viele Ortsgruppen bereiten sich deshalb schon jetzt mit den gesammelten Erfahrungen auf ihre kommenden Uni- und Schulbesetzungen vor. Ihr Motto: „Occupy until we win!“
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