Interview mit Prof. Dr. Schimmelfennig über die Entwicklung des Europäischen Parlaments

Normalisierung und Fragmentierung

, von  Madelaine Pitt

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Normalisierung und Fragmentierung
Die JEF Konstanz und Professor Dr. Schimmelfennig nach seinem Vortrag an der Universität Konstanz.

Jede*r Student*in, der*die sich schon mal mit EU-Politik beschäftigt hat, kennt den Namen „Schimmelfennig“. Seine Bücher stehen ständig auf meiner Leseliste und ich war dementsprechend etwas nervös, als ich angefangen habe, mein erstes Interview auf Deutsch durchzuführen. Professor Dr. Schimmelfennig ist führender Wissenschaftler im Bereich europäischer Integration. Er hat in mehreren Ländern studiert und gearbeitet, dabei ist er sowohl in der Forschung – er unterrichtet unter anderem seit 2005 an der ETH Zürich - als auch in internationalen Organisationen wie der NATO gearbeitet. Am 20. November 2019 hat er einen Vortrag zum Zustand des Europäischen Parlaments nach den letzten Europawahlen (Mai 2019) an der Universität Konstanz gehalten.

Sie haben die Europawahlen als „Nebenwahlen“ - oder „second order elections“ - beschrieben. Heißt das, dass die Europawahlen für Sie immer noch keine richtigen europäischen Wahlen sind?

Genau. Es geht um nationale Themen, nationale Parteien, nationale Regierungen. Es geht nicht um Konflikte über europäische Themen. Es geht auch nicht über die Besetzung von europäischen Ämtern, sowohl die Wähler als auch die Parteien verstehen die Europawahlen als „Zwischenwahlen“, in denen wiederum Einfluss auf die nationalen Parlamente ausgeübt werden kann.

Sie haben von der Geschichte des europäischen Parlaments erzählt, insbesondere von dem Erweitern der Kompetenzen dieser Institution. Wird diese Tendenz weitergehen?

Wir können feststellen, dass das europäische Parlament bereits sehr viel erreicht hat. Als Institution gehört es sicherlich zu den größten Gewinnern der europäischen Integration. Aber ich denke, dass das Parlament das Maximum, von dem was es erreichen kann, bereits erreicht hat.

Was noch fehlt ist das Initiativrecht für europäische Gesetze – das ist eine Anomalie. Natürlich hat das Parlament versucht, noch stärkeren Einfluss bei der Besetzung der EU-Kommission zu gewinnen – etwa über den Spitzenkandidaten-Prozess, der zunächst allerdings gescheitert ist. Die wichtigsten Kompetenzen des Europäischen Parlaments: Mitgesetzgeber zu sein, dem Haushalt zustimmen zu müssen, bei der Besetzung der Kommission ja oder nein sagen zu müssen, das sind schon große Erfolge. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch sehr viel weiter hinausgeht.

Für Sie war die wichtigste Geschichte der Wahlergebnisse die „Fragmentierung“ des Parlaments. Sechs Monate später sind Sie immer noch derselben Meinung. Sehen wir schon die Folgen dieser Fragmentierung?

Es ist wichtig festzuhalten, dass zwar die euroskeptischen Parteien dazu gewonnen haben, aber die besonders europafreundlichen, die Grünen und Liberalen, haben eben auch einen Zuwachs erlebt, sodass sich insgesamt das Kräfteverhältnis zwischen „europafreundlich“ und „europafeindlich“ nicht wesentlich verändert hat. Es ist die Parteienlandschaft, die offener und fragmentierter geworden ist: Ich glaube, es tut dem Parlament gut, dass diese dauergroße Koalition zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten aufgehoben wurde. Was wir jetzt nicht genau wissen, ist, wie sich das auswirkt. Es wird sicherlich bunter und unvorhersehbarer werden, und ob dies am Ende dem Parlament nützt, weil es eben ein bunteres Diskussionsforum wird, oder ob es ihm schadet, weil es nicht mehr in der Lage ist, effektiv Politik zu betrieben - das müssen wir abwarten.

Was für Folgen haben die Wahlergebnisse für unsere traditionelle Vorstellung von den Dimensionen zwischen rechts und links? Ist diese Aufteilung – insbesondere in Anbetracht des ansteigenden Stellenwerts neuer politischer Themen – noch gültig?

Gültig ja, aber nicht mehr dominant. Die Parteien, die sich vorrangig auf dieser Links-Rechts-Achse verorten, haben verloren. Diejenigen, die sich auf der „neuen“ Achse verorten, jener zwischen „offenem gegen geschlossenem System“, Nationalismus gegen Transnationalismus, progressive kulturelle Werte gegen traditionelle kulturelle Werte, diese Parteien sind stärker geworden. Wir werden in der Zukunft immer mehr Konflikte auf dieser Ebene sehen. Bisher war es immer so, dass sich die linken und rechten Parteien in der Bewertung des europäischen Integrationsprozesses völlig einig waren. Die Konflikte, die es gab, sind im europäischen Parlament nicht so hochgekommen, wie sie hätten hochkommen sollen, damit das Parlament wirklich repräsentativ gewesen wäre. Da verspreche ich mir in der Zukunft einen deutlichen Gewinn.

Sie haben abschließend festgestellt, dass die Europawahlen zu einer Normalisierung des Parlaments beigetragen haben. Warum?

Eine wichtige Beobachtung ist erstens die steigende Wahlbeteiligung. Zweitens hat die ehemalige „große Koalition“ keine Mehrheit mehr und das Parlament ist damit repräsentativer geworden, gerade in Bezug auf die Abbildung der neuen Konfliktlinien. Die Parteipolitik wird, aus meiner Sicht, in Zukunft eine größere Rolle spielen – bisher waren parteipolitischen Interessen nicht so wichtig wie der Kampf des Parlaments gegen die anderen Institutionen. Das wird sich aber ab jetzt ändern.

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